Wal­des­lust

Während die Kämpfer von Arminius dem Cherusker in dichtem Wald die Römer besiegten, wird heute die Erhaltung deutscher Forste ganz allmählich zur offenen Feldschlacht: Legionen von Borkenkäfern machen großen Waldstücken den Garaus. Die Deutschen lieben Bäume, sie sollten mehr für sie tun.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Der Wald, im besonderen der finstere, hat es den Deutschen angetan. Ein altes Kinderlied hebt so an: „Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Es war so finster und so bitterkalt.“ Ein Pfadfinderlied handelt von einer „Räuberbande“ im Teutoburger Wald. In der letzten Strophe wird dann „Blut gerühret und aufs Brot geschmieret; und den Rest, den stell’n wir kalt im finstern Wald.“

Um die Zeitenwende wurden die Legionäre des römischen Feldherrn Varus von Arminius und seinen Kriegern im Teutoburger Wald bitter geschlagen. Zwar waren sie moderner ausstaffiert als die Germanen, aber in den Wäldern, durch die sie sich kämpften, kannten die Einheimischen sich halt besser aus. In vielen deutschen Märchen, zumal jenen, die von den Brüdern Grimm gesammelt wurden, ist ein genius loci im Wald zu Hause. Ohne Wald kein Hexenhaus; ohne Wald kein sprechendes Reh; ohne Wald kein böser Wolf.

Ein Drittel der Bundesrepublik Deutschland ist immer noch bewaldet, ein Viertel davon liegt in Bayern. Aber im Wortsinn finster ist der deutsche Wald meistenteils nie gewesen. Nadelbäume lassen immer Licht durchscheinen. Einzig Buchen entwickeln Kronen so mächtig, dass tatsächlich kein Sonnenstrahl sie durchdringt. Vorausgesetzt, sie sind gesund. Das sind beängstigend viele aber nicht mehr.

In den Achtzigerjahren machte der saure Regen den Deutschen Angst: die Durchsäuerung des Bodens während toxischen Niederschlags. Die Franzosen, damals noch ziemlich sportlich im Umgang mit ihrer Natur – weil sie mehr davon haben, da ihr Land weniger dicht besiedelt ist als die Bundesrepublik –, fanden das derart possierlich, dass sie allem Sprachpurismus zum Trotz das Wort „le Waldsterben“ in ihr Vokabular aufnahmen. Mittlerweile denkt man in Frankreich anders. Und mittlerweile ist es so, dass der saure Regen ein Tropfen war im Vergleich zu der Sintflut von Sorgen, die über die deutsche Forstwirtschaft hereingebrochen ist. Genauer gesagt, ist es keine Sintflut, sondern eher deren Ausbleiben. Der Klimawandel macht sich bemerkbar genau dort, wo an sich Ausdauer waltet: bei den Bäumen, deren Wurzeln tief ins Erdreich langen, bei Bäumen, die während jahrzehntelangen Wachstums „gelernt“ haben, sich ihr Wasser zu holen. Etliche regenarme Jahre hintereinander indes hält auch ein gestandener Baum nicht aus.

Wassermangel führt dazu, dass ein Baum nicht mehr die Kraft hat, sich gegen Borkenkäfer zu verteidigen. Ein Borkenkäfer, so sagen Experten, habe die Gabe, binnen eines halben Jahres bis zu 100 000 Nachkömmlinge zu produzieren. Hinzu kommen die Stürme der vergangenen Jahre. Die betrafen im besonderen Fichten- und Kiefernwälder. Da fiel mehr Holz um, als sich Käufer dafür finden. Zusammen mit den Bäumen ist der Preis für Holz am Boden. Viele haben nicht das Geld, kranke Bäume aus ihren Forsten zu holen. Fast die Hälfte der deutschen Wälder sind in privater Hand. Nicht alle Güter sind finanziell so solide eingewurzelt wie etwa die „Fürstlichen Waldungen“ der Familie Thurn und Taxis.

Max Rönninger zum Beispiel, studierter Jurist, bewirtschaftet etliche Hektar Wald in Sachsen-Anhalt; forstwirtschaftlich gesehen bloß wenige, aber er macht es aus Freude an der Arbeit, und die erfordert den ganzen Mann. Einiges fällt ihm ein, was zu tun wäre. Es beginnt im Kleinen. Schon vor Jahrzehnten hat der seinerzeit berühmte Natur- und Tierfreund Horst Stern in seiner Fernsehsendung „Sterns Stunde“ gewarnt, es gebe zuviel Damwild und Rotwild im deutschen Wald. Rönninger sieht es genauso. Bei einem Waldspaziergang hat er den Verbiss an wachsen wollenden Bäumchen gezeigt. Sie kommen nicht hoch, weil das Wild die frischen Blätter abknabbert. Allzu viele sind auch der Wildschweine, die ihre Borsten an Baumstämmen sauber rubbeln, bis von der Borke kaum mehr etwas übrig ist. Rönninger sagt, gar allzu schlimm sei es in seinem Wald noch nicht, denn es gebe ja „den Wolf“. So sagt er es, im Singular. Wölfe sind in Sachsen-Anhalt gelitten. Über die Finanzierung von „Wolfsbeauftragten“ wird im Landtag immer wieder gestritten. (Schafzüchter sind naturgemäß dagegen.) Der Wolf also reißt mitunter ein Tier, das außerhalb der Jagdsaison nicht getötet werden darf: Das hilft dem Wald.

Eine andere Maßnahme ist die Aufforstung mit Bäumen, die es mit trockenen Jahren aufnehmen können: Douglasien, Eichen, Birken und andere. Wobei allerdings aus Bayern zu hören ist, dass Douglasien es dort auch schon schwer haben. Einen Apfelbaum pflanzen oder einen ganzen Wald anlegen: Das ist dasselbe. Wer das tut, weiß, dass sie selbst die pralle Ernte möglicherweise nicht mehr eintragen wird. Dass der Anbau von Monokulturen – Fichten waren beliebt – ein Fehler ist, hätte man vor vielen Jahrzehnten schon ahnen und deutlich mehr Mischwälder anpflanzen können. Ja, hätte man? Früher setzte man auf Industrialisierung, Betonisierung, Rationalisierung. Warum hätten Forstleute schlauer sein sollen als alle anderen?

Heutige Politiker sind im Bilde über den Klimawandel und die Bedeutung des Ökohaushalts. Sie sollten weiter denken als bis zur nächsten Haushaltsdebatte, bei der sie Lobbys zufriedenstellen wollen. Die eingeplanten 800 Millionen Euro staatlicher Hilfe, verteilt auf vier Jahre, sind nicht genug. Die deutschen Wälder sind nicht bloß dem Menschen zur Freude da. Sie binden Unmengen von Kohlendioxid; sie sind nötig für das natürliche Gleichgewicht allen Lebens. Sie sind wichtiger als die Lufthansa, wichtiger als der Reiseveranstalter Tui und andere Konzerne, die mit Milliarden Euro unterstützt werden. Bäume reden nicht. Gleichwohl brauchen sie Hilfe.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 31.07.2020, Seite 16
Dieser Text stammt aus „Augsteins Welt“ – einer Kolumne in der Süddeutschen Zeitung

 

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