Andropow und der Grundigfisch

Am 5. November 2023 wäre Rudolf Augstein hundert Jahre alt geworden. Erinnerungen an meinen Vater.


Meinem Vater wurde oft nachgesagt, er sei zynisch. Dabei war er lediglich ein Realist. Ihm verdanke ich ungewöhnliche Gespräche und Erlebnisse – sowie drei Ratschläge fürs Leben.

Von Franziska Augstein

Anfang der Neunziger Jahre, im Sommer vor oder nach seinem siebzigsten Geburtstag, verbrachte mein Vater wie in jedem Jahr die Juliwochen in seinem Häuschen an der Côte d’Azur. Ich kündigte meinen Besuch an: Mit dem Schlafwagen werde ich bis Fréjus fahren. Der Vater versprach, mich am Bahnhof abzuholen. Bei meiner Ankunft war die Luft noch morgendlich frisch, dann wurde es warm, dann kam die Hitze. Wer nicht kam, war mein Vater. Einige Telefonate später – es war in der Prä-Handy-Ära, seine Freunde im Haus fungierten als Nachrichtenzentrale – hatte sich der Irrtum aufgeklärt: Er wartete auf mich dort, wo die Autozüge halten, nicht die Schlafwagen.

Die Autorin und ihr Vater

Also fuhr er nun zum richtigen Bahnhof, lud mich ein, und der glücklichen Heimkehr hätte nichts mehr im Weg gestanden, wäre da nicht am Straßenrand ein großer Feldstein auf der Lauer gelegen, der sich unter unseren Mietwagen schob. Die Räder waren intakt, der Motor lief noch, also fuhren wir weiter. Allmählich stieg Dampf auf. Wir konstatierten, es könne sich ums Kühlwasser handeln. Aber wozu braucht man schon Kühlwasser? Als ich vor lauter Nebel die Straße mehr nur mehr mühsam sehen konnte, erwachte ein mir bis dahin unbekanntes Interesse an PKW-Motoren, und ich bereicherte unsere Unterhaltung mit dem Stichwort „Explosion“. Der Vater gebot mit fester Stimme, es werde nichts passieren. Nun gut, dachte ich, wenn schon in die Luft fliegen, was wohl nicht geschehen werde, dann am liebsten mit dem Vater. Wir sind erwartungsgemäß heil zu Hause angekommen, wenn auch ohne das Auto, das ziemlich abrupt verröchelte: Rudolf Augsteins Freunde hatten vorsichtshalber ein Rettungskommando formiert, das uns auf der Straße einsammelte. Am Abend gestand mein Vater, ganz genau habe er nicht gewusst, ob der kaputte Motor passiv bleiben würde.

Das väterliche Verhältnis zu technischen Gegenständen lässt sich als die praktizierte friedliche Koexistenz beschreiben. Einmal in Südfrankreich bat er: „Kannst du mal den Grundigfisch anmachen?“ Was konnte er meinen? Den Herd, den Wasserhahn? Natürlich nicht. Die Rede war vom Tischradio der Firma Grundig, dessen Kontur dem einer Goldbrasse vage ähnelte, vorausgesetzt man sah darin den Fisch und nicht etwa ein Elektrogerät. Mein Vater erklärte mir, wie er das Radio bediente: Stecker rein: es ist an; Stecker raus: es ist aus.

Als es tatsächlich um die friedliche Koexistenz ging, führte Rudolf Augsteins neutrale Haltung gegenüber technischen Apparaten zu einem kleinen Debakel. 1983 hatte der Kreml-Chef Jurij Andropow dem SPIEGEL ein Interview zugesagt. In umfänglicher Besetzung reiste eine SPIEGEL-Delegation nach Moskau; wie es dann kam, waren nur Augstein und der Fotograf bei dem Gespräch mit Andropow zugegen. Das war insofern misslich, als der Fotograf, wie der damalige Chefredakteur Johannes Engel mir später anvertraute, mit einem Kassettenrekorder ebenso wenig umgehen konnte wie mein Vater. Eine normale Tonbandkassette hat zwei Seiten mit einer Aufnahmekapazität von je dreißig Minuten: Wenn die erste halbe Stunde abgelaufen ist, muss die Kassette aus dem Gerät genommen, umgedreht, wieder eingelegt und per Knopfdruck erneut in Gang gesetzt werden. Wohl hörten Augstein und der Fotograf das Klicken, mit dem das Zeichen zum Umdrehen der Kassette gegeben wurde, doch waren sie außerstande, den Akt zu vollziehen. Wie macht man aus einem halben Breschnew-Interview ein ganzes? Rudolf Augstein bemühte sein gutes Gedächtnis, die Fachredakteure gaben ihre Kenntnisse dazu; und der Kreml war es zufrieden.

Im Krieg hat mein Vater sich weniger ungeschickt gegeben. Zu den unbestreitbaren Fakten gehört, dass er ein Funkgerät sachgemäß bediente. Spärlich oder so gut wie nicht belegt sind einige Details der Kriegsepisoden, mit denen er seine vier und fünf Jahre alte Tochter erfreute. Sie passten zu den Geschichten von Pu dem Bären, die er mir vorlas, und waren so unterhaltsam, dass ich sie mir gern mehrmals erzählen ließ. Soweit ich es überblicken kann, hat er den märchenhaften Ergänzungen, die seine Erinnerungen schmückten, im Lauf der Jahrzehnte nichts hinzugefügt.

Mein Papa war im Krieg von Anfang an auf dem Rückzug. Das verstand sich. Überhaupt war das einzig Gute und Sinnvolle am Krieg der Rückzug. Auch das verstand sich. Zwar fragte ich mich, wie er denn „nach vorn“ hatte kommen können, wo er doch immer auf dem Rückzug gewesen war, aber mit solchen Spitzfindigkeiten hält eine Fünfjährige ihren Vater nicht auf. Vor Augen habe ich noch das Bild meines Papas auf einem räudigen Pferd, das kaum vorankommt; und hinten, am Sattel festgebunden, klötern einige Metallkanister mit Sonnenblumenöl. Die Bewohner eines Dorfes irgendwo in einem fernen Niemandsland im Osten namens Ukraine erkennen sofort, warum das Pferd nicht laufen mag: Es handelt sich um eine trächtige Stute. Die Bauern nehmen sie gern auf und überlassen Papa statt ihrer ein anderes Pferd. So weit, so stimmig. Es gab aber auch verwirrende Lücken in seinen Erzählungen; die ergänzte ich in meiner Vorstellung, wohl wissend, dass das eine Schummelei war. Als mein Vater sich plötzlich auf einem Fahrrad befand, sagte ich mir: Das Pferd dürfte er gegen dieses Fahrrad eingetauscht haben. Daraus ergab sich leider ein neues Problem: Was wurde aus den schweren Ölkanistern? Diese und andere Fragen: Ich habe sie ihm damals nicht gestellt.

Viele Jahre später, als ich schon längst volljährig war, habe ich ihn einmal gefragt, es müsse doch Schreckliches gegeben haben, was er im Krieg erlebte. Er nickte. Was? Er holte Luft, dann sagte er, seine Einheit habe unter Artilleriefeuer gestanden; er und etliche andere Männer hätten sich in Unterständen verkriechen können. Er und andere, aber nicht alle. Als er nach dem Beschuss wieder ins Freie kam, sei das, was er sah, grauenhaft gewesen. Er schaute mich nicht an, als er das sagte. Er sprach zögerlich, ohne Betonungen. Man mag mir nachsehen, dass ich nicht weiter ihn in drang.

Mit der von ihm verspotteten Gründerzeitfigur der „verehrungswürdigen Gestalt des Vaters“ konnte Rudolf Augstein nichts anfangen, aber er wäre gern ein besserer Vater gewesen. Die Umstände machten das allerdings schwierig: Als ich noch nicht sechs Jahre alt war, haben meine Eltern sich getrennt und das normale Zusammenleben hörte auf. An seine Stelle trat etwas anderes. Töchter, denen der Vater abhanden kommt, ohne ganz fort zu sein, können in den Genuss eines großen Vorteils kommen: Je weniger Begegnungen und Gespräche es gibt, desto besser werden die im Gedächtnis behalten. Ich kann jedenfalls nicht sagen, ob ich mir zwei nützliche Ratschläge im Wortlaut gemerkt hätte, wenn sie lediglich höhere Wellen in einem dauernden, dahinplätschernden Gespräch gewesen wären. Erstens: „Schreibe niemals einen Brief, der nicht auch in der Bild-Zeitung abgedruckt werden könnte.“ Zweitens: „Mache dir nur dann jemanden zum Feind, wenn es absolut nötig ist.“ Ein dritter Rat missfiel mir: Da man die Nicht-Existenz Gottes nicht beweisen könne, solle ich mich nicht als Atheistin, sondern als Agnostikerin bezeichnen. Ebenso könnten wir fordern: Da wir nicht beweisen können, dass die Welt auch jenseits unserer Vorstellung und eingebildeten Wahrnehmungen existiert, sollten wir von ihr nicht reden.

Im Hader mit dem Herrgott habe ich meinen Vater übrigens nicht erlebt. Sein Buch „Jesus Menschensohn“ war gegen die Kirche und die Theologie gerichtet. Was den „großen Uhrmacher“ selbst anging, so kam der in seinem Leben schlicht nicht vor. Petrus-Witze mochte mein Vater nicht. Sei es, weil sie ihm zu banal waren. Sei es, weil er im Hinblick auf die Gottesfrage eine ähnliche Haltung hatte, wie der Vater des amerikanischen Historikers und Judaisten Yosef Hayim Yerushalmi sie auf den Punkt gebracht haben soll, als dieser zu Haus erzählte, er wolle am Trinity College studieren. Der Vater störte sich an dem Namen: „Mein Sohn“, schnaubte er, „es gibt nur einen Gott. Und an den glauben wir nicht!“

Als ich noch im Volksschulalter war, machte der Vater mit meiner Mutter, meinem Bruder und mir einen Ausflug aufs Land. Das Ziel war ein schönes Gasthaus an einem See. Nachdem wir uns zum wiederholten Mal verfahren hatten, bemerkte ich keck, wenn wir endlich ankämen, wäre das Haus wohl abgebrannt. Bald bogen wir auf die Zufahrt ein. Da fielen unsere Blicke auf rußige Mauerreste und verkohlte Dachsparren. Ich brach in hemmungsloses, entsetztes Schluchzen aus. Mein Vater nahm mich in den Arm, um mich zu trösten. Wie machte er das? Er sagte nicht, meine „Voraussage“ sei nur ein blöder Zufall gewesen. Nein, mit dem billigen Zufall speiste er mich nicht ab. Er sagte ungefähr dieses: „Schau, wenn wir jetzt sagen, dass in einigen Jahren die Atombombe explodiert, und wenn sie dann in einigen Jahren tatsächlich explodiert, dann ist das so.“ Ich war so perplex, dass mir die Tränen wegblieben. Was hatte denn die Atombombe mit dem schönen Gasthaus zu tun und noch dazu in einer so trostlosen Argumentation? Auf diese Weise, befand ich kritisch, tröstete man nicht! Dass der Vater mich mit seinen so gar nicht kindgemäßen, rücksichtslos rationalen Worten im Nu aus meinem Unglück herausholte, ist mir erst später aufgefallen.

Oft ist meinem Vater nachgesagt worden, er sei zynisch, was meistens als ein höfliches Wort für „bösartig“ oder „menschenverachtend“ gemeint war. Es muss sich um einen Irrtum gehandelt haben. Was für zynisch gehalten wurde, war in Wahrheit das Ergebnis seines realistischen Blicks auf die Welt. Wo es hässlich zuging, wollte er das nicht schönreden oder mit Hoffnungssalbaderei verbrämen. Ein Pessimist war mein Vater nicht, dafür hat er sich zu oft wissentlich auf dünnes Eis begeben. Aber gefroren hat er: Die Welt des Realisten ist ziemlich kalt, mitunter auch einsam. Wenn mein Vater freche Witze machte, vermissten viele Respekt und Anstand und schmähten ihn als Nihilisten. Sie übersahen, dass Kritik treffen muss, so sie wirken soll.

An zu viel Selbstliebe litt mein Vater nicht. Viele Scherze auf eigene Kosten waren vergleichbar dem, was der Mann tut, der mit den Armen links und rechts sich selbst haut, um sich zu wärmen. Er konnte die schönsten Begräbnisreden halten: Ihm gelang es, der Toten in all ihrer Würde und Liebenswürdigkeit zu gedenken und gleichzeitig die Trauernden mit anekdotischen Pointen zu einem echten Lachen zu bringen. Er klagte selten, um so weniger, je schlechter es ihm ging. Wegen einer Augenkrankheit der Erblindung nahe erwiderte er den Gruß eines ihm bestens vertrauten Mannes mit der Frage: „Wer bist du, schönes Kind?“ Und alle lachten.

Als der Erfolg sich Ende der Sechziger Jahre unwiderruflich eingestellt hatte, wurde der SPIEGEL ihm ein bisschen fade. Davon habe ich wenig mitbekommen. Wenn er ein Thema am Wickel hatte, wurde er munter, dann war er in seinem Element. Er war der Kapitän, und wenn die Wellen – vulgo schnatternde Kinder und Erwachsene – ihn umspielten, dann fühlte er sich umso wohler. Dann war er ganz bei sich, bei der Arbeit an der Besserung der Welt und dabei nicht allein.