Rudolf Augsteins Haltung zum Journalismus

Vortrag am 30. Januar 2024 an der Hamburger Universität im Rahmen der Ringvorlesung anlässlich des 100. Geburtstags von Rudolf Augstein, „Sagen, was ist“

 

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Rudolf Augsteins Haltung zum Journalismus:  das klingt präzise. Aber vager kann man eigentlich kaum formulieren. Zu seiner Haltung gehört natürlich auch all das, was nicht seine Haltung war. Ein Theoretiker des Journalismus war er jedenfalls nicht. Journalismustheorie brauchte er für seine Arbeit nicht. Entsprechend wenig Äußerungen hat er hinterlassen, die der Auslegung harren, was ich gut verstehe und – ehrlich gesagt – auch ganz gut finde. 

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut. In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und geh’n entzwei. Und an den Küsten, liest man, steigt die Flut.

Der Weltuntergang drohte und droht eigentlich immer.

In den 70er Jahren, die ich zum Teil schon politisch wach erlebt habe, gab der Hunger in vielen Ländern der Welt Anlass zu großer Sorge. Ebenso die Stellvertreterkriege. Wissenschaftler sagten das Abschmelzen der Polkappen voraus. Die Umweltverschmutzung verpestete den Lebensraum von Mensch und Tier. Und allgegenwärtig war die Furcht vor einem 3. Weltkrieg, der – mit Atomwaffen ausgetragen – den größten Teil der bevölkerten Welt unbewohnbar machen würde. 

Diese – unvollständige – Sorgenliste war bedrückend. Und die Sorgen, die kaum abnahmen, sind seither jedes Jahr angereichert worden. Aber kein Jahr, kein einziges Jahr, das ich erlebt habe, war so fürchterlich wie das vergangene. 

Vor meinem – zugegeben ziemlich engen – Erfahrungshorizont, der aber immerhin fünf Jahrzehnte umfasst, sticht 2023 heraus. Heiße Kriege wüten ohne Aussicht auf Lösungen der zugrunde liegenden Konflikte. Kalte Kriege – zwischen dem Westen und Russland, zwischen dem Westen und China – haben begonnen oder sind in Vorbereitung. Der Klimawandel nimmt vor unser aller Augen seinen Lauf: Die Zeit, die uns noch bleibt, die Erderwärmung zu stoppen, bevor ihre Auswirkungen unumkehrbar werden: wir lassen sie verstreichen und uns von anderen Ereignissen gefangen nehmen. Gegenüber dem – so die Überschrift in einer Tageszeitung –  „Angriff der chinesischen Elektroautos“ – um nur ein Beispiel zu nennen – tritt die Einsicht in den Hintergrund, dass wir auf internationale Zusammenarbeit angewiesen sind. Auch und gerade mit China und sogar – ob es uns passt oder nicht – auch mit Russland. Statt mit dem Klimaproblem befassen wir uns lieber mit dem Proteststil von Klima-Aktivisten und debattieren darüber, ob sie „kriminell“ seien oder bloß Ordnungswidrigkeiten begehen. Die Nachrichten aus dem Gaza-Streifen verstören uns – wie die Bewohner Israels künftig miteinander auskommen sollen, weiß kein Mensch. Nachrichten aus der Ukraine erschrecken und empören uns. In vielen Ländern auf dem Globus werden Minderheiten blutig verfolgt. Gewalt, Terror, Versklavung sind üblich. 

Die Probleme sind so groß, und es sind so viele, dass sie uns überfordern: Der übergroßen Komplexität begegnen wir mit ihrer Reduktion auf simple, notwendigerweise falsche Aufgabenstelllungen. So zum Beispiel: Russische Waffen greifen die Ukraine an. Was soll man tun? Was kann man tun? Da sagen viele: ganz klar, Waffen schicken. Und wenn das nicht genügt, dann mehr Waffen schicken. Und wenn das nicht genügt, potentere Waffen schicken, mit denen auch Russlands Kernterritorium angegriffen werden kann. An dieser Stelle die kleine Zwischenfrage: Was ist, wenn Russlands Waffenarsenal den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine gewachsen bleibt? Eine andere Zwischenfrage: Wie sehr baut man auf die Vernunft des Kreml, es nicht zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato kommen zu lassen?  Aber sich auszudenken, wo der Krieg hinführen und wie er zu einem Ende kommen soll, hieße, sich auf die Komplexität der herrschenden Zustände einzulassen, die unserer Überforderung zugrunde liegen. Und dabei habe ich die alarmierende politische Lage in Deutschland noch gar nicht erwähnt:  Laut dem Verfassungsschutz ist die AFD in drei Bundesländern „gesichert rechtsradikal“. Unsere Demokratie ist nicht wehrlos. Die Verfassung gibt Mittel an die Hand, die freiheitlich-demokratische Grundordnung vor denen zu schützen, die sich ihrer bedienen wollen, um sie auszuhebeln. Man könnte sich trauen, etwas zu unternehmen. Man könnte – stattdessen werden alle möglichen Argumente vorgebracht, es gar nicht erst zu versuchen. Man könnte versuchen, hat die Innenministerin Nancy Faeser erklärt, zu erwirken, dass die staatlichen Zuwendungen an die AFD gerichtlich beschnitten werden, so wie das Bundesverfassungsgericht die Zuwendungen an die NPD (respektive „Die Heimat“) für sechs Jahre ausgesetzt hat. Was Frau Faeser da vortrug, war nicht einmal eine unverbindliche Absichtserklärung. 

An den Untergang der Weimarer Republik muss gar nicht erinnert werden. Wie man in unserer Zeit, jetzt, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln aushöhlt, hat sich in Polen, Ungarn und in den USA gezeigt. Georgia Meloni beginnt derzeit in Italien, den staatlichen TV-und-Radio-Verbund RAI ihren Interessen entsprechend zu trimmen. 

Anstatt zu überlegen, mit welchem Rechtsmittel der AFD am besten begegnet werden kann, erklären Politiker und ihnen assistierende Verfassungsrechtler, man dürfe keine Märtyrer schaffen; so ein Unterfangen sei von vorneherein zum Scheitern verurteilt; eine ganz neue Feinfühligkeit greift um sich: Es dürfe doch nicht so aussehen, hat die Bundesinnenministerin Faeser gesagt, als seien die etablierten Parteien neidisch auf die AFD. 

Schlechte Zeiten sind gut für den Journalismus, heißt es immer. Das ist richtig. Seit ein paar Jahren hat der professionelle Journalismus Konkurrenz bekommen, die eigentlich keine sein müsste: die sozialen Medien. Diese ihrerseits tragen nicht nur zur Meinungsvielfalt bei, was begrüßenswert ist, sondern auch – was dem gesellschaftlichen Gespräch eher abträglich ist – zur Fragmentierung der öffentlichen Meinung. Aus der Deckung der Computerschirme und oft auch im Schutz der Anonymität wird verbal so scharf geschossen, wie es vor der Erfindung des Internet unüblich war. Zwischen Information und Falschinformation wird nicht unterschieden. Viele basteln sich ihre Wirklichkeit, wie es ihnen gefällt. Stichwort „Verschwörungstheorien“. Diese Zustände, könnte man sagen, schreien nach gutem Journalismus, nach einem Journalismus, der die Leute aus ihren individuellen Meinungsblasen herausholt, der mit Argumenten überzeugt, der aufklärt und Orientierung gibt.

Rudolf Augstein ist einer von denen gewesen, die das als ihre Aufgabe verstehen. Daran hat er zeitlebens gearbeitet. Er hatte die Hitlerei miterlebt; er hat miterlebt, wie die Deutschen ihre eigene antisemitische, rassistische, militaristische, megalomane Meinungsblase aufpumpten, wie diese Blase immer mehr Deutsche in sich hineinsog. Er hat miterlebt, wie das Deutsche Reich aus nationalistischer Überheblichkeit den Weltkrieg begann; wie die innere Logik des Kriegs aus vielen, die es noch nicht waren, Ja-Sager und Durchhaltefanatiker machte. 1945 wussten junge Journalisten wie Augstein, was ihr Ziel war: Zu verhindern, dass ähnliches sich in Ansätzen wiederhole. Augstein wusste: Am Anfang der verheerenden Entwicklung hatte die Vergiftung des öffentlichen Gesprächs gestanden und die Unterdrückung aller Kritik am Staat und seiner Führung. Die Chance, die der jungen Bundesrepublik zu ihrem Glück zugebilligt wurde: sich zu einem freiheitlichen Gemeinwesen zu entwickeln, wollten er und andere unbedingt nutzen. Daraus ergab sich eine prinzipiell kritische Haltung gegenüber allen Institutionen und Individuen, die Macht ausüben, Staat und Regierung eingeschlossen. 

Es ist durchaus paradox, aber deshalb umso wahrer: Je aufmerksamer die Institutionen einer Gesellschaft beobachtet werden, je mehr sie der Kritik unterworfen werden, desto besser werden sie in ihrem Fortdauern beschützt. Deshalb muss es den Vertretern des Staates ein Anliegen sein, sich und die Institutionen umfassend und immer wieder kritisieren zu lassen. 

Die Spiegel-Affäre 1962 drehte sich im Kern denn auch nicht um die an den Haaren herbeigezogene Frage, ob Geheimnisverrat stattgefunden habe, im Mittelpunkt stand vielmehr der Versuch einflussreicher Leute wie Franz-Josef Strauß und Konrad Adenauer die Meinungsfreiheit zu beschneiden. Es ging um die Freiheit der Medien in der Bundesrepublik. Und es war nicht redundant, sondern eine hilfreiche Bestätigung, als das Bundesverfassungsgericht 1966 in seinem Spiegel-Urteil feststellte: 

Eine „freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse“ ist ein „Wesenselement des freien Staates.“ Wobei das Gericht selbstverständlich nicht nur die gedruckte Presse meinte, sondern auch elektronische Medien. 

Somit bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Haltung Rudolf Augsteins und anderer: Die Aufgabe der Journalisten besteht darin, mit kritischem Blick darüber zu wachen, dass die Inhaber von Macht – in der Politik, in der Wirtschaft, in allen Räumen der Gesellschaft – diese Macht nicht missbrauchen, und es anzuprangern, wenn es geschieht. Indem sie das tun, indem sie die Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen, bestätigen Journalisten die Meinungsfreiheit immer wieder aufs Neue und tun damit der Allgemeinheit einen ungeheuer großen Dienst: Sie vermitteln den Bürgern das Gefühl, nicht in einer Bananenrepublik, sondern in einem insgesamt nach Gerechtigkeit strebenden Gemeinwesen zu leben. Sagen wir es anders, sagen wir es mit einer Beschimpfung, die kritische Journalisten oft zu hören bekommen haben (heute ist sie aus der Mode, weil die Beschimpfungen brutaler geworden sind): Die Nestbeschmutzer, das ist das Wort, das ich meine, die Nestbeschmutzer sind die besten und erfahrensten Putzleute im Nest. –- Und oft sind es auch die besten und erfahrensten Melancholiker, weil es so viel zu putzen gibt und der Dreck so schnell wieder hochkommt, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Das eben Gesagte ist charakteristisch für Rudolf Augsteins Haltung, so wie für die Haltung vieler anderer. Es war ihm natürlich bewusst. Ihm war bewusst, dass er und „Der Spiegel“ spätestens seit der Spiegel-Affäre eine wichtige Rolle inne hatten. Aber das Wort „Ethos“ hätte er in Bezug auf den Journalismus nicht in den Mund genommen. Es wäre ihm großspurig vorgekommen. Zu seiner Haltung gehörte auch, sich selbst nicht wichtig zu nehmen und die Arbeit in seinem Beruf herunterzuspielen. In späteren Jahren auf die Spiegel-Affäre angesprochen, antwortete er immer recht einsilbig. Mit Reminiszenzen an die aufregenden Monate hat er sich nicht viel aufgehalten. Sein entscheidendes Fazit, oft wiederholt: Etwas besseres hätte dem „Spiegel“ gar nicht passieren können. Der Auflage habe der Skandal ganz außerordentlich gutgetan. Der zurückhaltende Umgang mit dem eigenen Verdienst steht jedem gut an. Zu dieser Haltung meines Vaters passte auch ein sehr kurzes Gespräch, das ich mit ihm hatte, als ich acht oder neun Jahre alt war. Dass der „Spiegel“ wichtig war und erfolgreich, wusste ich. Was in dem Heft stand, konnte ich noch nicht verstehen. Aber neugierig war ich. Warum, fragte ich meinen Vater, ist der Spiegel so wichtig? An seine Antwort kann ich mich noch gut erinnern, sie fiel nämlich ziemlich merkwürdig aus. Nach dem Krieg, erklärte er mir, 

gab es wenig Papier, den Leuten fehlte es an Papier, mit dem sie sich den Hintern abwischen konnten. Dazu haben sie den Spiegel genommen. Was dieser Erklärung an Stichhaltigkeit fehlte, machte sie durch Anschaulichkeit wett. 

Die Nachwelt, die es handlich mag, greift sich gern einen prägnanten Ausspruch heraus, den jemand einmal getan hat, erklärt diesen zum Motto und nagelt ihn sich an Wand, ideell oder tatsächlich. In der Empfangshalle des Spiegel-Gebäudes glänzen in Rudolf Augsteins Handschrift die aus Metall angefertigten Worte „Sagen, was ist.“

Wie es mit berühmten Zitaten so geht: Wann und in welchem Zusammenhang Augstein das schrieb, ist nicht von Belang. Es klingt ganz ohne Kontext knackig genug. 

Augstein war, ich sagte es schon, kein Theoretiker des Journalismus. Froh kann man sein, überhaupt ein paar Worte gefunden zu haben, die als allgemeingültig durchgehen können – als aufmunterndes Motto, als Kredo.   Sagen, was ist.   Wenn man sich einen Moment dabei aufhält, was wir jetzt tun wollen, entdeckt man allerdings: Die Drei Wörter besagen  … nicht sehr viel. 

Was besagen sie? Ganz eindeutig geht es nicht um die Zukunft. Sonst hätte Augstein ja gesagt: Sagen, was sein soll. Nein, sagen was ist: fällt nicht in die Domäne der Optimisten, Utopisten und Propheten. Es geht um die Gegenwart. Und weil die Gegenwart immer zu bemängeln ist, weil es ausgeschlossen ist, dass alles für alle gut ist, liegt in dem Ausdruck „sagen was ist“ beschlossen: dass es hier oder da einen Missstand gibt, den es aufzuzeigen gilt, auf den es hinzuweisen gilt, der nicht unter den Tisch gekehrt und nicht ad acta gelegt werden darf. Es muss alles gesagt werden, was ist: nicht nur auf das Schöne und Gelungene kommt es an, sondern auf alles, was ist. Es muss gesagt werden, was ist: obwohl, ja WEIL es nicht gut ist. Also: es geht um Kritik. Und wo Kritik ist, da ist Aufklärung. Wo Aufklärung ist, ist Einsicht. Wo Einsicht ist, kann an der Beseitigung von Missständen gearbeitet werden. So gesehen, ist „Sagen, was ist“, eine nützliche, ja notwendige Voraussetzung für die Verbesserung der herrschenden Umstände. Oder etwa nicht?

Sagen was ist, setzt voraus, dass man weiß, was ist. Dass Wissen allein nicht reicht, ist seit jeher bekannt. Man muss auch zeigen können, was man weiß, anders gesagt, man muss es belegen können. Der Katholizismus, für die Transformation von Glauben in Wissen und von Wissen in Zeigen zuständig, hat für dieses Problem wunderbare Lösungen gefunden. Eine gefällt mir besonders gut: 

Im Mittelpunkt dieser besonderen Beweisführung steht der heilige Franziskus, der mit den Tieren reden konnte. Der heilige Franz von Assisi war stigmatisiert. Wie er die Stigmata empfing, ist überliefert. Es geschah vor genau 800 Jahren, im Jahr 1224: Er kehrte der zerstrittenen, eifernden Welt den Rücken und zog sich in ein Kloster zurück. Dort hatte er eine Vision: ein Engel erschien ihm, sechs Flügel hatte er, der Bote des Herrn. Und dieser Engel war es, der Franz beschenkte: er zeichnete ihn mit den fünf Wundmalen des Heilands, je zwei an Händen und Füßen und eines an der Seite. Franzens Zeitgenossen erfuhren und berichteten davon. Nach seinem Ableben 1226 wurde der Leichnam des Ordensgründers – für damalige Verhältnisse ohne langes Zuwarten, nämlich bereits nach vier Jahren – tief unter dem Altar der Unterkirche von San Francesco in Assisi beigesetzt, jedem Zugriff weltlicher Begehrlichkeit entzogen. Für Reliquien, Überreste seiner Person und seiner Accessoires, hatte zum Bedauern vieler niemand gesorgt. Es gab keine Knochen, keine Haare, kein Stück Tuch. Die Gläubigen mussten sich mit seinen Bildnissen bescheiden, die zu Ikonen der Anbetung wurden. Jede neue Darstellung von Franz wurde – damit alles seine Ordnung habe – akkurat auf Grundlage älterer Vorbilder reproduziert. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Wundmale auf den Bildern getreulich eingemalt waren. Sie waren auf den als Heiligtümer wahrgenommenen Bildern zu sehen, waren also „da“, womit die Stigmatisierung des Franz und damit die Heiligkeit seiner Person bewiesen waren. „Sagen, was ist“ hieß damals: aufmalen, was ist. Der gemalte Franz war wirkmächtig und verschaffte so manchem Gläubigen seine eigene Vision, die ihrerseits die Wahrhaftigkeit von Franzens Stigmatisierung und die Legitimität seiner Heiligsprechung bestätigte.

Lassen Sie mich die argumentative Kraft der gemalten Wundmale auf den Bildern des Franz von Assisi ins Profane übersetzen. Stellen wir uns vor, da baue sich jemand auf und verkünde, „was ist“. Kommt ein Zweifler des Wegs und erkundigt sich: Warum soll ich dir glauben? Antwortet der erste: Na, weil ich es dir doch sage. Das Personal dieser Beweisführung lässt sich ausweiten. Kommt also ein Dritter des Wegs und fragt den zweiten: Warum soll ich dir glauben? Worauf der zweite auftrumpfend antwortet: Der Soundso sagt das auch. Wenn es keine Rolle spielt, woher der Soundso seine Kenntnisse hat, ob diese einer Überprüfung standhalten, ja ob sie überhaupt überprüft werden können, dann ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass wir uns in eine Veröffentlichung in den sozialen Medien verirrt haben. Die Beweiskraft der Dinge, die da verkündet werden, steigt proportional mit der Bereitschaft der Konsumenten, sie zu glauben. Anders formuliert: 

Beiträge in den sogenannten sozialen Medien, die uns in unserer Meinung bestätigen, sind für viele unter uns dann und deshalb wahr, wenn und weil sie uns in unserer Meinung bestätigen. 

Mit professioneller journalistischer Recherche hat das selbstverständlich nichts zu tun, weil es aber formal ähnlich aufgemacht ist, müssen die Medien, muss der Journalismus sich dazu irgendwie verhalten. Bevor wir dazu kommen, müssen wir das Phänomen betrachten, das ich eben schon kurz erwähnt habe. Als Armin Wolf neulich an dieser Stelle einen Vortrag hielt, hat er es so beschrieben: Die sozialen Medien haben „den öffentlichen Diskurs ernsthaft versaut“. Damit hat er recht. Und auch seine Wortwahl passt. In den vergangenen Jahren sind Unsitten in den sogenannten sozialen Medien eingerissen, die in herkömmlichen Medien allenfalls Randphänomene waren. Dazu gehört zum einen die haltlose Beschimpfung von Leuten, die anderer Meinung sind. Dazu gehört zum zweiten, dass es nicht genügt, die Meinungen anderer in die Tonne zu treten. Vielmehr werden andere wegen ihrer Meinungen – oder auch nur wegen der Meinungen, die ihnen unterstellt werden – ganz und gar, nämlich als Menschen abgekanzelt. Ein typischer Kommentar in solchen Fällen ist die erboste, mit Beleidigungen garnierte Nachfrage eines Nutzers, wer diese Person überhaupt in den Chat eingeladen habe. Die Person hat eine abweichende Meinung und darf deshalb in dem laufenden Gespräch nicht mehr existieren. Für die Einzelnen kann es schlimme Folgen haben, wenn sie im Netz gebrandmarkt werden. Für den gesellschaftlichen Diskurs ist es gefährlich. Die Internet-Medien haben entscheidend zur Eliminierung einer für das öffentliche Gespräch unabdingbaren Voraussetzung beigetragen: Das ist ein von allen geteiltes Grundwissen bezüglich des Sachverhalts, über den gestritten wird. Wenn alle sich einig sind, dass zum Beispiel Treibhausgas schlecht für die Umwelt ist, dann kann man darüber streiten, wie schädlich es ist, ob man seinen Gebrauch einschränken soll und so weiter und so fort. Was auf Basis der gemeinsamen Grundannahme hingegen sehr schwer möglich ist, das ist die Ächtung von Gesprächsteilnehmern. Wo sie hingegen stattfindet, wird das Gespräch einseitig, die Blasen, die sich alle für sich selbst aussuchen, bekommen dicke Wände. Damit geht einher, dass man Andersdenkenden nicht einmal mehr zuhören will. Die herkömmlichen Medien waren und sind an dieser Unduldsamkeit nicht völlig unschuldig. Die Ausgrenzung aller, die nicht die gewünschte Meinung teilen, betreiben sie nämlich mitunter selbst. 

Die herkömmlichen Medien konstatieren, dass sie Leser, Zuhörer und Zuschauer an die sozialen Medien verlieren. Diese Entwicklung soll nicht nur aus staatsbürgerlicher oder gesellschaftspolitischer Verantwortung aufgehalten werden, sondern auch deshalb, weil sie ins Geld geht. 

Wie begegnen die herkömmlichen Medien der Fragmentierung der öffentlichen Meinung in individuelle Echoräume der je eigenen Stimme? Das Wort Qualitätsjournalismus wird bemüht, als hätte es das früher nicht gegeben. Man will besser und immer besser werden. Das ist löblich. Man will die abtrünnigen Konsumenten dort einsammeln, wo sie sich bevorzugt aufhalten: im Netz; auch die Öffentlich-Rechtlichen bloggen und podcasten, was sie können. Das ist vernünftig. Ein drittes kommt aber hinzu, was die guten Vorsätze im Ansatz konterkariert. Während Corona grassierte, war es erstmals deutlich wahrnehmbar. In den Redaktionen war man, so schien es, ehrlich erschrocken über die Auswirkungen der Krankheit. Die staatlichen Maßnahmen, Verbote und Verordnungen, wurden akzeptiert, willkommen geheißen und gegen Kritik vehement verteidigt. Viele der sogenannten Mainstream-Medien berichteten, als wären sie Außenstellen des Robert-Koch-Instituts oder Pressesprecher von Gesundheitspolitiker Lauterbach und dem Corona-Guru Christian Drosten, die sich beide in vielen Interviews und Fernseh-Talkrunden mit schlimmsten Vorwarnungen und strengsten Ermahnungen nicht genug tun konnten. 

Ein besonders gravierender Einschnitt in das öffentliche Leben waren die zwangsweisen Schulschließungen und verwandte Maßnahmen. Diese mochten nun vielen nicht so recht einleuchten. Was es bei Kindern anrichtet, wenn sie zu Hause eingesperrt werden, konnten sie sich unschwer ausmalen, sofern sie nicht selbst dabei zusehen mussten. Gleichzeitig hatte es sich herumgesprochen, dass Corona bei Kindern nicht oder wenn, dann in den allermeisten Fällen nur in milder Form zum Ausbruch kam. Kinder konnten das Virus weitergeben, in ihrer übergroßen Mehrheit waren sie aber viel weniger gefährdet als Erwachsene. Warum, so fragten viele, sollte die Sicherheit der Erwachsenen auf Kosten der Kinder gehen? Konnte es nicht andere Wege geben, Erwachsene vor Ansteckung zu bewahren, andere Wege als die systematisch herbeigeführte Vereinsamung und Neurotisierung der Kinder, von Bewegungsmangel und mangelnder geistiger Entfaltung gar nicht zu reden? 

Diese Frage wurde in den Mainstream-Medien nicht so ernsthaft gestellt, wie viele es sich gewünscht hätten. Das war jedenfalls der Eindruck, der sich vielen aufdrängte. Damit einher ging die Abkanzelung all jener Außenseiter, die anderes über Corona zu sagen hatten, als was im Einklang mit der Generalmeinung war. Sie kamen nicht zu Wort, und wenn sie zu Wort kamen, dann wurde selten versäumt, darauf hinzuweisen, dass es sich um kenntnislose Selbstdarsteller oder ähnliches handle. 

Wer nun einige der Dinge ganz plausibel fand, die diese von den herkömmlichen Medien zu Außenseitern gemachten Leute äußerten, der musste, was sich als deren Ausgrenzung ausnahm, auch auf sich selbst beziehen.  

Bei vielen, die an einzelnen oder mehreren Aspekten der staatlichen Maßnahmen beim Umgang mit Corona-Patienten und zur Vorbeugung gegen Ansteckung ihre Zweifel hatten, kam der Verdacht auf, sie würden von den Mainstream-Medien unvollständig informiert. Ausflüge in die sozialen Medien schienen ihre Befürchtungen zu bestätigen: Dort fanden sie von der Linie abweichende Ansichten, mal wissenschaftliche, mal pseudowissenschaftliche Darlegungen. Auch wer sich darüber im Klaren ist, dass im Netz viel Blödsinn verzapft wird, hatte das Gefühl, dort eher Antworten auf die eigenen Fragen zu finden, als bei den Mainstream-Medien. Wie gesagt: ich beschreibe hier eine Tendenz. Ausnahmen gibt es immer. Die Auflage des „Spiegel“ zum Beispiel ist während vieler Corona-Monate überdurchschnittlich gut gewesen. Es bleibt aber zu konstatieren, dass Corona viele Leute dazu bewogen hat, Ihre Information aus dem Netz zu beziehen, weil sie sich von den Mainstream-Medien unterinformiert, wenn nicht missachtet fühlten. 

Strukturell das gleiche ist geschehen, nachdem das russische Militär die Ukraine angegriffen hat. Sofort wurde in Deutschland beschlossen, Russland kein Gas mehr abkaufen zu wollen. Mit dieser und anderen Maßnahmen sollte Putins Regierung ökonomisch in die Enge getrieben werden. Diese Strategie ist bis heute nicht aufgegangen. Schon wenige Monate nach Beginn des Kriegs 2022 kamen Fragen auf: Was nützen deutsche Sanktionen, die vor allem den deutschen Gaskonsumenten und – über die Gaspreisbremse – den deutschen Steuerzahlern schaden? Wird das sozusagen „böse“ russische Gas dadurch gut, dass man dieses selbe Gas über Pipeline-Umwege für teureres Geld nun von russischen Anrainern bezieht, die bei der Weiterleitung ihren Schnitt machen? Überhaupt: wie solle dieser Krieg weitergehen, wie solle es zu einem Frieden kommen, da doch immer neue Waffenlieferungen und immer neue Forderungen nach weiteren Waffenlieferungen bisher nicht zu einer Entscheidung zugunsten der Ukraine geführt haben? Das alles sind legitime Fragen. Abermals hat vielen der Eindruck sich aufgedrängt, diese Fragen würden in den Mainstream-Medien nicht ausreichend behandelt. Abermals scheint es vielen, als würden abweichende Meinungen, auch die von erfahrenen Militärexperten, nach Möglichkeit ignoriert. Abermals verfallen viele darauf, weiterführende Erörterungen und Kommentare im Netz zu suchen und auf die etablierten Medien nicht viel zu geben. 

Dass mit der Berichterstattung der letzteren etwas nicht stimme, denken bemerkenswerterweise auch Journalisten, die selbst für die herkömmlichen Medien arbeiten, die Öffentlich-Rechtlichen eingeschlossen. Im September 2021, ein knappes halbes Jahr vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hat die einstige Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz in einer Rede zusammengefasst, was ihr an Irritierendem bei der Berichterstattung über Russland aufgefallen war. Bevor Sie, liebes Publikum, die Frau jetzt abtun: Typisch, die Russland-Versteherin, lassen Sie mich Ihnen sagen, dass Gabriele Krone-Schmalz ihre Rede auf Einladung des Rundfunkrates in Hamburg gehalten hat. 

Ihre Zusammenfassung der Dinge, die sie an der Russlandberichterstattung monierte, lese ich jetzt vor. 

Nicht gut sei, 

wenn wichtige Themen gar nicht erst behandelt werden

wenn wichtige Informationen zum Verständnis eines Themas weggelassen werden

wenn Sprache nicht präzise eingesetzt wird (unbewusst, automatisch oder auch absichtsvoll)

wenn mit zweierlei Maß gemessen wird

wenn bei Interviews oder Anmoderationen eine andere Tonalität herrscht (so dass man die Verachtung oder die Häme direkt spürt)

Gabriele Krone-Schmalz fügte ausdrücklich an, dass natürlich nicht die gesamte Russland-Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien so sei, sie sprach von einem „festen Rahmen, einem vorbereiteten Raster, in das Nachrichten aus Russland fallen“. Seitdem Russland die Ukraine angegriffen hat, gelten ihre Einschätzungen der russischen Politik vielen als krachend widerlegt. Sie selbst hat Irrtümer zugegeben. Bei ihrer Analyse der Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien bleibt sie aber. 

Was mich angeht, möchte ich nochmals betonen und dick unterstreichen, was ich eben schon gesagt habe. Ich behaupte nicht, die etablierten Medien würden ihre Aufgaben insgesamt nicht richtig wahrnehmen. Ich behaupte nicht, niemand würde den etablierten Medien mehr vertrauen, alle würden ins Netz abwandern. Das alles sage ich ausdrücklich nicht. Ich rede lediglich von Tendenzen. 

Albrecht von Lucke hat in seiner Vorlesung hier an der Uni einen interessanten Gedanken ins Spiel gebracht. Auch er machte sich über die von den sozialen Medien herbeigeführte Fragmentierung der öffentlichen Meinung Gedanken. Der Kulturwissenschaftler Michael Seemann hat dafür den geistreichen Begriff: „Deregulierung des Wahrheitsmarktes“ gefunden. Albrecht von Lucke setzte diesen Begriff 

in Bezug zu Rudolf Augsteins Wort „sagen, was ist“: Sagen, was ist, erklärte er, sei nichts anderes, als zu sagen, was die Wahrheit ist. Wenn nun aber jeder von der „Wahrheit“ ausgeht, die ihm zupaß ist, würde es vielleicht nicht mehr genügen, zu sagen, was ist. Bei mir hat von Lucke damit offene Türen eingerannt. Denn ich meine ohnedies, wie ich zu zeigen versucht habe, dass der Ausspruch wenig besagt. 

Neulich hörte ich in der BBC ein auf Englisch geführtes Interview mit einem jemenitischen Journalisten. Dieser Mann, der im Jemen seiner Arbeit nachgeht, erklärte, Israel betreibe den Untergang des palästinensischen Volkes. Tja! Das war seine Wahrheit, sein „was ist“. 

Einige haben schon Vorschläge gemacht, was Rudolf Augstein hätte sagen sollen anstelle von „sagen, was ist“. Wenn wir schon nach einem Motto suchen, dann würde ich vorschlagen: Herausfinden, was ist. Und das bitte ergebnisoffen und unter Abwägung der gegenteiligen Ansichten anderer.

Kommen wir zurück zu Albrecht von Lucke: der schlug also vor, Journalisten sollten sich nicht darauf beschränken, aus dem Geist der Kritik heraus zu sagen, was ist. In früheren Zeiten, da es vor allem darauf ankam, den Missbrauch von Macht auf Kosten der Gesellschaft anzuprangern, sei das nötig und wichtig gewesen. Heute aber komme vieles, was die öffentliche Diskussion verderbe, aus der Mitte der Gesellschaft. Von Lucke findet, die Politik werde heute „von den Medien vor sich hergetrieben, in einer Weise, in der der Respekt vor der Parteipolitik regelrecht auf dem Nullpunkt angekommen ist“. Anstatt immer nur zu kritisieren, sollten Journalisten die Arbeit von Politikern und Parteien mehr respektieren und mit mehr Wohlwollen begleiten. Seine Idee bezog er auch auf Rudolf Augstein. Er zielte damit auf etwas, was er unter den heutigen Gegebenheiten als eine Schwäche Augsteins ansieht. Dieses nämlich: „Ich hatte nie Schwierigkeiten“, hat Rudolf Augstein einmal gesagt, „gegen etwas zu sein. Ich hatte mehr Schwierigkeiten, für etwas zu sein.“ 

Diese Sätze sind typisch für meinen Vater. Das Zitat ist gut gewählt. Genau die damit beschriebene Haltung, findet Albrecht von Lucke, sei heute nun wohl weniger nötig als in früheren Zeiten. Wenn Augstein noch lebte, hat er angefügt, würde er das vielleicht genau so sehen.  Dann würde er der politischen Kaste mit mehr Verständnis begegnen und auch mal Zustimmung äußern. –– Das eine – Zustimmung – hat mein Vater denen nicht verwehrt, die sie in seinen Augen verdienten. Das galt sogar für Helmut Kohl, dem Rudolf Augstein 1990 zurief: „Glückwunsch, Kanzler!“ Das andere, empathische Aufmunterung, hilfreicher Ansporn oder wie immer man es nennen will, war von meinem Vater selten zu erwarten: Sein Intellekt war dafür nicht ausgelegt. 

Um Leuten so etwas wie Lob auf Vorschuss zu geben, fehlte es ihm an der einen notwendigen Voraussetzung dafür: Es fehlte ihm an Optimismus. Und wo es an Optimismus fehlt, macht bekanntlich auch die Hoffnung sich rar. Was sie angeht, hat mein Vater einmal gesagt: „Hoffnung ist gut. Aber nicht zu hoffen ist Verstand.“ Er stand nicht an, zuzugeben, dass Menschen zufriedener sind, wenn sie hoffen können. Das versteht sich: Die Erwartung einer rosigen Zukunft ist der guten Laune allemal zuträglicher als das Gegenteil. Wer aber – wie mein Vater – über die dafür nötige rosarote Brille nicht verfügt, der kann sich eine solche nicht basteln. Mein Vater nahm es hin und fand es in Ordnung. Dass er das in Ordnung fand, ist vielleicht einer der Gründe, warum er leichtfertig als Zyniker bezeichnet wurde. Unter zynisch wird allgemein menschenverachtend verstanden. Ein Menschenverächter war mein Vater aber nicht. Er traute den Menschen, sich selbst eingeschlossen, nicht allzu viel zu, er hielt sie für zu schwach, um vorausschauend für ihr eigenes Wohl zu sorgen. Er war ein überzeugter Skeptiker. Das ist aber etwas völlig anderes als ein Zyniker. 

Man kann das eigene Verhalten ändern; den Stoff, aus dem wir innerlich gemacht sind, können wir aber nicht auswechseln. Und was die heutige Politik angeht, dessen bin ich sicher, fände mein Vater mehr Gründe für schneidende Kritik als zu Helmut Kohls bräsigsten Zeiten. Er würde die heutige Kriegspolitik der mächtigen, ihrem Selbstverständnis nach aufgeklärten westlichen Staaten für unklug halten. Er würde es für eine Ungeheuerlichkeit halten, wie die Zivilbevölkerung Gazas büßen muss für die Verbrechen der Hamas. Und es würde ihn wohl zornig machen, dass nüchtern-politische Kritik an der Kriegspolitik der israelischen Regierung in Deutschland mittlerweile für antisemitisch gehalten wird. Dass die Entscheidungen einer Regierung, in diesem Fall der israelischen, nicht kritisiert werden dürfen, und dass zudem Journalisten selbst das richtig finden: es hätte ihn aufgeregt. 

Nein, Rudolf Augstein würde auch heute nicht bedauern, dass sein Talent aufblühte, wenn es darum ging, zu sagen, was schlecht ist. 

Die zwei wichtigsten journalistischen Genres sind bekanntlich die Berichterstattung und die Kommentierung. Und bekanntlich war Rudolf Augsteins Spezialität der Kommentar. Dazu zwei Worte: Sehr viele beurteilen Kommentare in erster Linie nach dem Kriterium, ob sie ihre eigene Meinung wiedergeben. Erfüllen die Kommentare dieses Bedürfnis, gelten sie als gut. Erfüllen sie dieses Bedürfnis nicht, gelten sie als schlecht. Über Rudolf Augstein haben viele – vor allem politische Rechtsstehende – sich geärgert. In vieler Augen war er eine dubiose Figur. Als er berühmt war, musste das ihm nichts mehr ausmachen, außerdem war der Zeitgeist eher auf seiner Seite als auf der der Ewig-Gestrigen. Als er aber noch nicht berühmt war und es in der Bundesrepublik ziemlich reaktionär zuging, in der Adenauer-Zeit, hat er es ausgehalten und sich der herrschenden Meinung nicht entgegen gebogen. Auch das machte seine journalistische Haltung aus. 

Dazu gehört auch, dass er keiner besonderen Ideologie anhing. Das Grundgesetz und die freie Marktwirtschaft in den Grenzen des Wohlfahrtsstaats waren ihm Ideologie genug. Um ihre Vorzüge hochzuhalten, genügt ein wenig Verstand, idealerweise angereichert mit ein wenig historischem Verständnis. Eine besondere Gläubigkeit ist nicht erforderlich; und ich sagte schon, dass es Rudolf Augstein daran vollständig gebrach. Manche meinen, er sei ein Nationalist gewesen. Richtig daran ist lediglich, dass er auf die nationalen Interessen Deutschlands pochte und im besonderen Frankreich mit Misstrauen beäugte, es hätte ihm aber fern gelegen, das Nationale mit großen Buchstaben zu schreiben. Er war halt nicht so gut darin „für etwas“ zu sein.

Zurück zum Genre des Kommentars. So sehr Leser und Hörer sich irren, wenn sie Kommentare nur dann für gut halten, wenn sie ihre Ansichten darin wiederfinden. So sehr irren viele Kommentatoren. Es genügt nicht, vehement etwas zu fordern, was man für richtig hält. Was ein gelungener Kommentar ist, hat Heribert Prantl, der regelmäßig Kommentarunterricht gibt, eingängig beschrieben: 

„Ein guter Kommentar ist ein Beitrag zur Streitkultur. Der Kommentator ist nicht klüger als seine Leserinnen und Leser; er hat aber ein Privileg: Zeit kontinuierlich politische Themen zu verfolgen. Das nämlich ist sein Job.  Er hat gute Quellen, er hat die Möglichkeit nachzubohren, er hat ein Archiv und ein Dutzend Zeitungen zur Hand, er kann fremde Meinungen sammeln, wägen und die eigene daran schärfen. Und er verfügt (oder sollte verfügen) – das ist eben sein Beruf – über die handwerkliche Kunst, sie geschliffen zu formulieren.“ 

Es genügt nicht, eine Meinung zu haben, man muss sie auch gut und mit guten Argumenten und nach Abwägung der Gegenargumente vortragen können.  

Prantl schreibt weiter: „Nun könnte die Kommentarkultur in der deutschen Publizistik die allgemeine Streitkultur befördern – sie tut es aber leider viel zu wenig. Bei massiven, zumal parteipolitisch verhärteten Auseinandersetzungen könnte wohl der liebe Gott den Kommentar schreiben – und ein Teil des Publikums wäre verärgert, genervt oder empört über die Einseitigkeit. In vielen Zuschriften steht der Satz: Der Leitartikel sei doch ,nicht objektiv‘. Da haben die Zuschriften recht, immer. Kommentare sind nie objektiv, können, dürfen es auch nicht sein, sonst wären sie keine. Meinung ist immer subjektiv – aber sie sollte so geschrieben sein, dass sie auch dem Leser Vergnügen bereitet, der anderer Meinung ist. Zu diesem Zweck muss der Leitartikel nicht nur argumentieren, er darf historisieren und kolorieren, er darf fabulieren und ventilieren. Der Leitartikel darf alles – nur nicht langweilen.“

Rudolf Augstein ist es meistens gelungen, und es war sein Ziel, die Leser nicht zu langweilen. Wenn er sie zum Beispiel mit anregenden Vergleichen zwischen Ereignissen in der Gegenwart und in der Vergangenheit überraschte, so machte er das teils, um zu überzeugen, und teils machte er es, um zu unterhalten. Das Bemühen um die Unterhaltung des Publikums gehörte auch zu seinem Berufsverständnis, ein bisschen hochtrabend könnte man sagen: zu seiner Haltung. 

Viel habe ich gesagt über „sagen, was ist“, ja habe mich daran nachgerade abgearbeitet. Auf ein anderes geflügeltes Wort möchte ich noch eingehen, das viel berühmter ist als Rudolf Augsteins Spruch und das als rhetorischer Autoritätsbeweis bei allerlei Gelegenheiten angeführt wird. Sie werden es kennen: Der allseits verehrte, 1995 verstorbene Fernsehjournalist und -kommentator Hans-Joachim Friedrichs hat gesagt: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.“ Dieser Satz wird viel zitiert. Er ist richtig, wenn man darunter versteht, dass Journalisten sich nicht von Parteien und Interessengruppen vor ihren Karren spannen lassen dürfen. Falsch ist er aber, wenn er angeführt wird, um zu belegen, dass Journalisten sich nicht gemein machen dürften mit etwa dem Geist des Grundgesetzes, dem Rechtsstaatsprinzip, der Meinungsfreiheit, der Demokratie. 

Es ist das Elend mit vielen geflügelten Worten, das sie offenbar erst dann in die Lüfte steigen, wenn sie nur ein Bruchstück des Originalzitats sind. Vollständig lautet Hajo Friedrichs‘ Diktum so: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“ Überall dabei sein: Das bezieht sich auf Gruppen, Parteien, Veranstaltungen und so weiter, es bezieht sich aber nicht auf abstrakte Werte wie etwa die Meinungsfreiheit, die kann man nämlich nicht aufsuchen, da kann man nicht dabei sein. Dass Journalisten eine Moral haben, eine Haltung, das hat Friedrichs ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, er hat es vorgemacht, dafür wird er bis heute, lange nach seinem Tod geachtet: für seine Haltung. Weil seine Worte unvollständig zitiert werden, werden sie leider oft falsch interpretiert, dahingehend nämlich, dass Journalisten über allem stehen sollten. 

Die Demokratie und das freiheitliche öffentliche Gespräch gehören zusammen wie die Luft und der Schall. Wo das öffentliche Gespräch von oben behindert wird, oder wo es in sich selbst faulig wird, weil die Regeln des freiheitlichen Austausches nicht beachtet werden, leidet die Demokratie. Die Verrohung des Tons in den sozialen Medien schadet dem konstruktiven gesellschaftlichen Gespräch. Die Neigung der herkömmlichen Medien wiederum, bei bestimmten Themen den unbefangenen Meinungsaustausch zu scheuen, tut der Diskussionskultur auch nicht gut: allzu viele haben das Gefühl, einer Minderheit anzugehören, deren Meinung nicht gefragt ist. 

Wenn publik wird, wie unlängst geschehen, dass die ARD Ende Oktober des vergangenen Jahres für den internen Gebrauch ein „Glossar“ zur Berichterstattung über den Krieg in Gaza ausgegeben hat, fühlen alle sich bestätigt, die ohnedies das Gefühl haben, von den Öffentlich-Rechtlichen „behandelt“ zu werden. Die ARD hielt ihre Mitarbeiter an, nicht von „Hamas-Kämpfern“ zu reden, das sei ein Euphemismus, stattdessen sollten sie sagen und schreiben „Terroristen“ oder „militante Islamisten“ oder „militante Palästinenser“. Unbedingt zu vermeiden seien Wörter wie „Gewaltspirale“ und „Eskalation in Nahost“. Von „Gewaltspirale“ dürften die ARD-Mitarbeiter nicht reden, weil der Überfall der Hamas für Israels Regierung völlig überraschend gekommen sei. Das der israelische Präsident Netanyahu die Hamas jahrelang hat gewähren lassen, sickerte denn auch nur langsam in die Berichterstattung ein. – Was tut man nicht alles zur moralisch-erzieherischen Prägung der Bürger. In der BBC ist seit dem Oktober letzten Jahres, ebenso wie zuvor, einfach von „Hamas“ geredet worden; anders als offenbar die ARD hält die BBC ihre Zuhörer für mündig und bietet ihnen Information ohne erzieherische Absicht. Kein Trost ist es, dass auch in den Öffentlich-Rechtlichen unseres Landes die Berichterstattung über „die Hamas“ mittlerweile ohne polit-moralische Einordnung auskommen darf. 

Die sozialen Medien lassen sich nicht von oben, von zentraler Stelle beeinflussen oder regulieren. Wenn es den Massen, die sich daran beteiligen, gefällt, dann werden sie zu asozialen Medien, als was sie vielen jetzt schon vorkommen. 

Die anderen Medien, vom Gedruckten bis zur Internetpublikation, können sich aus sich heraus verändern und verbessern. Das ist ihr großes Plus. Sie können den sozialen Medien etwas entgegensetzen: Sorgfalt, Bedachtsamkeit, respektvollen Umgang mit ihrem Publikum, ohne diesem nach dem Munde zu reden. Journalismus ist ein Beruf, den man erlernen muss wie andere auch. Journalisten müssen sich nicht klein machen und sich einreden, das Publikum wisse es selbst am besten. 

Schlechte Zeiten sind gut für den Journalismus. Das ist so und bleibt so. Das Bedürfnis nach Orientierung und Einordnung der neuesten Geschehnisse, nach Aufklärung und Information ist groß wie lange nicht. Das könnte, ja das sollte allen Journalisten ein Ansporn sein. 

Rudolf Augstein, der Skeptiker, der Pessimist, der so wortkarg war, wenn es ans Theoretisieren über den Journalismus ging, hat gesagt: „Ein leidenschaftlicher Journalist kann kaum einen Artikel schreiben, ohne im Unterbewusstsein die Wirklichkeit ändern zu wollen.“ Und damit ist seine Haltung schließlich wohl ganz gut zusammengefasst.