Nachruf: Der Pionier der wilden Leser

Im Alter, als Klaus Wagenbachs Stimme brüchig geworden war, hatten sein Zukunftsmut, seine unbedingten Überzeugungen im Hinblick auf tagespolitische Details und alle daraus resultierende Lust zum Echauffement sich weitgehend verkrümelt und seiner leicht fatalistischen Menschenfreundlichkeit ihren Platz gelassen. Nur die Ironie begleitete ihn ungebrochen bis zum Tod. Bedauerlicherweise zählt sie nicht zu den drei Grazien und nicht zu den neun Musen. Weil indes kaum je ein Verleger sein Geschäft ohne Ironie verfolgen konnte, ist es ein wahres Versäumnis der Kulturgeschichte, dass sie keine allegorische Figur der Ironie zu bieten hat. Klaus Wagenbach musste sich ganz allein eine Gestalt aussuchen, die seiner Denkungsart gemäß war. Seine Wahl: Das Kaninchen, das er für einen „Überlebenskünstler“ hielt. Als „Totemtier“, wie der Dichter Erich Fried es nannte, war das Kaninchen für einen über dem Abgrund bilanzierenden Verlag also wie geschaffen.

Klaus Wagenbach
Klaus Wagenbach – Bild © Wilhelm W. Reinke

Und noch eine zweite Eigenschaft ist es, neben der Ironie, die ein unabhängiger Verleger benötigt: Eigensinn. Der wurde dem kleinen Klaus von seinem Vater und seinem Großvater beispielhaft geboten. Der Großvater hatte über seinem Hauseingang die Worte anbringen lassen: „Etsi omnes ego non“: Und wenn alle, ich nicht. Die Nazis fühlten sich angesprochen, und so erging der Befehl, der Großvater habe die Schrift zu entfernen. Das tat er dann auch. Aber fast wie Fontanes Ribbeck hatte er „vorausahnend schon“ Messinglettern gewählt: Sein Bekenntnis sollte wären. Als Maurerpolier hatte er natürlich gewusst, dass Messing auf Putz seinen Schatten hinterlässt: Das Messing verschwand, die Schrift blieb lesbar.

Wagenbachs im Herzen konservativ-katholischer Vater kämpfte für die Bodenreform, gegen Mietskasernen und Großgrundbesitz. Als sein sozialreformerischer Verein verboten wurde, widerstand er dem pragmatischen Drängen seiner Frau, in die NSDAP einzutreten und verschanzte sich während der NS-Zeit auf einem unbedeutenden Posten in einer Bank. Es erfolgten die Ausbombung, ein Umzug nach Gießen und das Kriegsende. Joseph Wagenbach gehörte zu den Gründungsmitgliedern der CDU. Er schwang sich auf sein Fahrrad, fuhr zu den Amerikanern, wurde Landrat und kümmerte sich nun um jedes Detail. Klaus, der im Juli 1945 15 Jahre alt wurde, schickte er auf die Felder zum Fingerhut pflücken: Mit anderen Zutaten vermischt, ergab das ein Mittel, mit dessen Hilfe, so Wagenbach, Herzkranke und Diabetiker „im ganzen Gießener Raum“ überlebten. Merke: Ironie und Eigensinn allein machen noch keinen großen Verleger – es braucht Tatkraft.

Aber warum überhaupt die Verlegerei? Dazu kam es vermutlich wegen der Nazis, die auch die literarische Landschaft als Wüste hinterließen. Wagenbach las gern, und als die NS-Zensur nicht mehr galt, kamen aufregende, verstörende, grandiose Bücher ins Land. Rowohlts-Rotationsromane auf Zeitungspapier machten sie erschwinglich. Wagenbach las und las, und noch bevor er alles gelesen hatte, bewarb er sich für eine Buchhandelslehre beim „Suhrkamp Verlag, vormals S. Fischer“. Eine Anfangsübung bestand darin, dass ein Hersteller ihm ein Buch gab: Er solle nach dem Gewicht die Seitenzahl schätzen. Der erste Satz des Buches lautet: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben.“ Den praktischen Zugriff auf Franz Kafka hat Wagenbach beibehalten.

Kafka war ein Renner, als er in Deutschland endlich publiziert wurde. Aber was machten die Deutschen aus der Lektüre? In seinem herrlichen, aus Erinnerungsglossen, Reden und anderem zusammengestellten Buch „Die Freiheit des Verlegers“ (2010) hat Wagenbach die damalige, bornierte deutsche Kafka-Exegese beschrieben: „Für deutsche Leser und Rezensenten war es am einfachsten, sich eine von Deutschen beschädigte Welt als ,kafkaesk’ zurechtzulegen, als unerklärlich und rätselhaft.“ Germanisten, die jahrelang die hohe Bestimmung des Deutschtums in allen möglichen Texten aufgespürt hatten, zogen sich nun auf die werkimmanente Interpretation zurück. Dazu merkte Wagenbach sarkastisch an: „Je brauner, desto werkimmanenter.“ Die allermeisten Deutschen sahen Kafka gleichsam als Heiligen, aus dem Poesie und Wahrheit sprachen. Nicht so Wagenbach: In seiner fulminanten Biographie (1958), die auf seiner Dissertation basierte, zeigte er, dass Kafka sich seines Talents vollauf bewusst und auch im übrigen kein ätherisches Geschöpf gewesen ist.

Zu Studienzeiten machte Wagenbach beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund mit, von dem die SPD sich 1961 lossagte, weil sie ihren westdeutschen Patriotismus auf Linie bringen musste. Wagenbach war indes immer noch ein Linker, er war nun Lektor beim S. Fischer Verlag. 1964 fand sein Arbeitgeber einen Grund, ihn fristlos zu entlassen: Wagenbach hatte gegen die Verhaftung eines DDR-Verlegers auf der Frankfurter Buchmesse protestiert. Und nun geschah, was sonst nur in Märchen oder vielleicht in Bayern vorkommt: Der Vater besaß eine Wiese. Die Wiese verkaufte er zugunsten seines Sohnes. Wagenbach wurde Hans im Glück. Mit einem goldenen Ei zog er von dannen, um es in Berlin gegen zweifelhaftes Gut einzutauschen: Er gründete einen Verlag, der auch Bücher aus der DDR publizierte.

Das ging ein Jahr lang. Dann teilte die DDR dem Verleger mit: Sofern er Wolf Biermann nicht mehr drucke, stehe der weiteren Zusammenarbeit nichts im Weg. Das war nun keine Frage von Messinglettern. Es hieß: Entweder Oder. Wagenbach entschied sich für Biermann, durfte sieben Jahre lang nicht in die DDR einreisen, und die Idee des gesamtdeutschen Verlags war tot.

Trotzdem nahm der Verlag seinen bescheidenen Aufstieg. Weil der Mensch nicht nur vom Buch allein lebt, hatte Wagenbach als ganz junger Mann mit dem Fahrrad Italien erkundet. Auch Frankreich bereiste er. Eine seiner Schlafstätten dort, schrieb er, sei ein Erdloch gewesen, in dem er sich zusammenkringelte und Homer las. In der Nacht sei der eigentliche Bewohner gekommen, ein Fuchs, dessen Fell im Lampenschein rot funkelte: „Dieses Rot also, das ich den Tag über vergeblich gesucht hatte, lieferte mir der Fuchs frei Höhle.“ Wagenbach hat unter anderem Kunstgeschichte studiert. Auf den Gemälden Corots bemerkt der Kenner hie und da einen kleinen roten Fleck. Die französischen Felder, an denen Wagenbach vorbeiradelte, hatten das freilich nicht zu bieten. Feinsinn gehört auch zu den Eigenschaften, die einen großen Verleger ausmachen. Dass Wagenbachs Faible für rote Strümpfe auf Corot zurückgehe, blieb ein unverbreitetes Gerücht. Tatsächlich hat er sich damit jahrzehntelang als „rote Socke“ geoutet.

Sein Flair für die französische, mehr noch die italienische Welt hat Wagenbach zu Geld machen können: Sehr früh begann er, italienische Literatur zu publizieren. Zunächst interessierten linkspolitische Schriften ihn freilich mehr. Da gab es zum Beispiel 1971 den „Roten Kalender für Lehrlinge und Schüler“. Darin wurde aufgerufen zur „Enteignung von Klassenbüchern“ und zu einer „Veränderung von Kriegerdenkmälern“, im besonderen jene, die dem Zweiten Weltkrieg galten. Angetrieben vom Aufgebot der Springer-Presse sahen damalige Staatsanwälte sich aufgerufen, etwas gegen den Kleinverleger zu unternehmen, der sich unterstand, die deutschen Kriegsanstrengungen 1939-1945 moralisch in Frage zu stellen. Auch das „Rotbuch 29: Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ rief die Staatsanwaltschaft auf den Plan. Nicht bloß der Verlag wurde durchsucht, sondern auch die Buchhandlungen, die Bücher von Wagenbach feilhielten. Etliche Prozesse schlossen sich an. Das war dem tapferen Kleinverleger denn doch ein bisschen der Aufmerksamkeit zuviel. Bei einem Fest, spätabends, nachdem er am selben Tag zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, lehnte er sich an den Spiegel-Redakteur Hans Halter und klagte, so erinnert sich Halter: „Es ist doch nur bedrucktes Papier.“

Was er zu überwinden trachtete, hat Wagenbach einmal so beschrieben: „Wo immer Paare übernachten wollten: Nur bei Vorlage des Trauscheins. Es wurde die Zeit der Autoliegesitze – aber auch da kontrollierte die Polizei nachts parkende Autos in Wald und Flur. Homosexualität: verboten. Informationen über ,Geburtenregelung’: verboten. Kondome: nur in der Apotheke. Freie Orts- und Berufswahl der Frau ohne Zustimmung des Mannes verboten (bis 1977).“ Klaus Wagenbach hatte in den 70er Jahren Glück. Er war frech gewesen, aber am Ende ließen die Richter seinen Verlag am Leben. Das lag nicht bloß an seinem Anwalt Otto Schily, sondern vor allem daran, dass mittlerweile die Richter von Adenauers patriarchalischem Konzept des zur Demokratie gelenkten Bürgers nicht mehr ganz überzeugt waren, sondern lieber ins Grundgesetz guckten.

Das linke Denken war mit Beginn der 80er Jahre démodé. So einen Umschwung muss ein Rote-Socken-Verleger rechtzeitig wahrnehmen, der sich nicht wundert, wenn er in seiner Wohnung morgens auf dem Weg zur Toilette über schlafende Gäste läuft, die ihn fragen, warum er sie störe. „Ich wohne hier“, war Wagenbachs Antwort. Viel schwerer fiel ihm später die Antwort, die er sich selbst geben musste: Der Verlag kann von dieser Art von Texten nicht mehr leben.

Dann hat Wagenbach den Akzent auf anderes gesetzt: Seine „Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek“ nahm der Konkurrenz den Atem: Was der sich alles traute, auf so hohem Niveau, und dazu noch gut geschrieben! Außerdem machte er die Deutschen mit italienischer Gegenwartsliteratur bekannt. Pier Paolo Pasolinis Bestseller, die „Freibeuterschriften“ (1978), weckte Neugier auf mehr italienische Literatur und Kulturwissenschaft. Luigi Malerba, Carlo Emilio Gadda, Natalia Ginzburg, Gianni Celati, Antonio Negri, Carlo Ginzburg: alle diese Autoren kamen dank Wagenbach ins Land. Kein Wunder, dass er von Italien zum Cavaliere de merito gemacht wurde. Da wollten die Franzosen nicht nachstehen und machten ihn 13 Jahre später zum Chevalier der Légion d’Honneur. Immerhin hatte Wagenbach unter anderen die Historiker Fernand Braudel, Lucien Febvre, Alain Corbin und Georges Duby publiziert.

Wagenbach hat vornehmlich links denkende Autoren verlegt. Dass er selbst links war, rührte schlicht daher, dass er wie sein Vater und sein Großvater einen Sinn für moralisches Ebenmaß und Gerechtigkeit hatte. In Wahrheit war er, wie er sich selbst einmal nannte, ein „katholischer Preuße“. Der katholische Vater, dessen Ethos und die Herkunft aus Berlin machten es möglich. Das erklärt vieles. Das erklärt, warum es auf der Buchmesse am Wagenbach-Stand auch jenseits der Empfänge guten Wein gab und warum das Wort Hedonismus Wagenbach nie als ein Schimpfwort galt: Katholische Großzügigkeit machte es möglich. Das erklärt auch, warum der Wagenbach-Verlag nicht untergegangen ist: Arbeitseifer und der stete Blick auf die Bilanzen machten es möglich. Und so wie Wagenbachs Vater seine Wiese für den Sohn verkaufte, in Erwartung einer Zukunft, hat Wagenbach seinen Verlag schon vor vielen Jahren an seine Frau Susanne Schüssler übergeben. In Erwartung einer Zukunft. Das krönt das Werk eines großen Verlegers: Zu Lebzeiten die Nachfolge bestellen.

Wer Klaus Wagenbach näher kannte, verliert einen witzigen, lustigen, lieben und weisen Freund. Wer ihn nicht kannte, muss mit Wagenbachs Verlegerethos vorlieb nehmen. 1994 formulierte er das so: „Und was die übriggebliebenen wilden, autonomen Leser mit ihren keineswegs (wie früher) gebündelten, sondern höchst disparaten Wünschen für die Produktion von Büchern bedeuten mögen, das steht in den Sternen. Vorerst bleibt ungewiß, ob der wilde Leser nur kurzfristige Lösungen sucht – die ,Ratgeberliteratur’ spricht eher dafür – oder ob da langfristige Phantasien am Werk sind, der Versuch, etwas von dem zurückzugewinnen, was früher einmal die allseits gebildete Persönlichkeit genannt wurde. Für sich selbst mehr zu erfahren, als von den Massenmedien zu erfahren ist. Der Neugier auf eine andere als bloß konsumistische Gesellschaft nachzugeben.“ Der Mann, der diese Zeilen schrieb, ist am 17. Dezember im Alter von 91 Jahren zu Hause in Berlin für immer eingeschlafen. Wenige gibt es, die so fröhlich und so klug das Verlagswesen geprägt haben.


Ein Nachruf von Franziska Augstein – zuerst erschienen am 20.12.2021, auf FAZ.net.