Im wilden Osten

Als die DDR und die Bundesrepublik vereinigt waren, galt es, die Zukunft der ostdeutschen Staatsbetriebe zu regeln. Die Treuhandanstalt wurde gegründet. Sie brachte den Leuten bei, wie es sich anfühlt, ohnmächtig zu sein. Ihr spätes Erbe sind Rassismus und Nationalismus.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Chemnitz und Dresden sind arm dran: Dort toben Rassisten und Neonazis sich aus. Die allermeisten Einwohner interessiert das wenig, oder sie sind entsetzt. Aber Konzerne überlegen sich zweimal, ob sie in diesen Städten eine Dependance einrichten; sie wollen nicht damit rechnen müssen, dass Mitarbeiter auf der Straße verprügelt werden, weil sie irgendwie fremdländisch aussehen.

Warum passiert das in ostdeutschen Städten? Die Ursachenforscher sind unterwegs. Irgendetwas muss es mit der Vergangenheit zu tun haben. Eine große Rolle spielt dabei sicherlich die Treuhandanstalt, die zwischen März 1990 und Dezember 1994 etwa 8000 DDR-Staatsbetriebe „abwickelte“. Bei dem, was sich damals abspielte, wurde eine der Konnotationen des an sich unschuldigen Verbums „abwickeln“ schwer belastet, seither steht das Wort für: niedermachen, kaputtmachen.

1992 hat der verstorbene Schriftsteller Stefan Heym, ein paar Jahre lang Politiker und Alterspräsident des Bundestags, gesagt: „Wenn die Leute sich nicht artikulieren können, dann werden sie Häuser anzünden. Und wenn man ihnen nicht eine demokratische Lösung anbieten kann, eine linke Lösung, dann werden sie nach rechts gehen, werden wieder dem Faschismus folgen.“ Was die Treuhand angeht, sagte Heym: „Warum müssen wir (…) vor dieser Institution hocken wie das Kaninchen vor der Schlange und uns, früher oder später, von ihr schlucken lassen?“

Der gar nicht linke Ökonom Hans-Werner Sinn sagte später: Die „forcierten Massenverkäufe“ von DDR-Unternehmen seien „im Nachhinein ein Riesenfehler“ gewesen. Man habe die Chance vertan, einen Sinn für Marktwirtschaft zu schaffen; Anteilscheine an den Unternehmen hätten an die Bevölkerung verteilt werden sollen.

Die Verteidiger der Treuhand sehen das natürlich anders. Wer wissen will, was sich zutrug, sollte das dicke Buch von Marcus Böick lesen, der ganz neutral die Geschichte der Treuhand recherchiert und aufgeschrieben hat („Die Treuhand“, Wallstein Verlag, 2018).

Detlev Rohwedder, der die Treuhand bis zu seiner Ermordung 1991 führte, schätzte, „der ganze Salat“ sei wohl 600 Milliarden D-Mark wert. Was mögen die Beschäftigten gedacht haben, als sie erfuhren, dass ihr Unternehmen aus westdeutscher Sicht nicht mehr wert ist als ein paar Salatblätter? Die Beteiligung der Bürger an den Staatsunternehmen hielt Rohwedder für eine „Wunschvorstellung“. Damals florierte das neoliberale Denken: Nur die Privatwirtschaft könne ordentlich wirtschaften. Deshalb sollten die DDR-Betriebe möglichst schnell privatisiert werden.

In Wahrheit herrschte das Konzept: Augen zu und durch. Böick zitiert einen, der dabei war: „Unwahrscheinliche Entscheidungen, über Millionenbeträge, wurden per Zuruf über den Flur gemacht.“ Das war praktisch, denn anfangs gab es nicht einmal ein ordentliches Telefonsystem; von Hand hektografierte Telefonlisten gab es. Ein Interessent erzählte, er habe drei Tage gebraucht, um bei der Treuhand überhaupt einen Ansprechpartner zu finden. Nachdem die Wiedervereinigungs-Euphorie abgeflaut war und die Treuhand aber mehr Mitarbeiter brauchte, weil das Tempo der Privatisierungen gesteigert werden sollte, wurde quasi jeder Frischling eingestellt, der irgendetwas studiert hatte, was mit Wirtschaft zu tun hat.

Inkompetenz traf auf Ideologie. Die CDU-Politikerin Birgit Breuel, die 1991 zur Chefin der Treuhand bestellt wurde (und später die Gelegenheit erhielt, die Expo 2000 in Hannover mit großem Minus abzuschließen), folgte ihrer Überzeugung: Privatisieren was das Zeug hält. Sie fand das „alternativlos“. Dabei ging die Treuhand selbstherrlich vor. Böick erwähnt die Kaligrube „Thomas Müntzer“: Der Betriebsrat hatte einen westfälischen Investor gefunden, der die Grube übernehmen wollte. Aber da „zeigte sich die Treuhand nicht zu Konzessionen bereit“. Als – nicht zuletzt auf Betreiben der SPD – endlich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, der das Agieren der Treuhand prüfen sollte, wurden die Unterlagen zu „Thomas Müntzer“ nicht freigegeben.

Privatisieren hieß sehr oft, auch wenn das so nicht beabsichtigt war, dass jemand einen Betrieb für einen Apfel und ein Ei erwarb, die Angestellten entließ und dann die Gebäude samt Grundstücken veräußerte. 1991 lag die Erwerbslosenquote in den ostdeutschen Ländern bei 40 bis 45 Prozent. Arbeiter demonstrierten, Arbeiter weinten. Die Deindustrialisierung der ostdeutschen Länder machte Fortschritte von Tag zu Tag. Viel erfolgreicher als die SED-Führung brachte die Treuhand den Ostdeutschen bei, sich ohnmächtig zu fühlen. Stefan Heym hatte recht, als er sagte, wenn die Leute nicht gehört werden, würden sie „nach rechts gehen“.

Das große Problem der Betriebe war der Mangel an Liquidität. Die meisten hatten keine Rücklagen, weil sie ihre Gewinne an den Staat abgeben mussten. Bankenrettung für Milliarden: Das macht man heute. Undenkbar aber schien es damals den westdeutschen Sachwaltern, das nötige Geld für Löhne und Produktion vorzuschießen. Kanzler Helmut Kohl hatte von „blühenden Landschaften“ schwadroniert und viel zu früh einen für die ostdeutsche Wirtschaft verheerenden, für Privatleute vorteilhaften Umtausch von Ostmark in D-Mark beschlossen. Er wollte ja wiedergewählt werden.

Große Fehler im Leben macht man in der Regel nur einmal. Deutschland kann nicht noch einmal wiedervereinigt werden. Seit Längerem ist zu hören, Deutschland müsse global mehr „Verantwortung“ übernehmen. Damit sind Aufrüstung und Kriegseinsätze gemeint. Nützlich wäre, das Land würde, aus Schaden klug geworden, mehr ordentliche Wirtschaftsberater stellen.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 16.11.2018, Seite 16
Dieser Text stammt aus „Augsteins Welt“ – einer vierzehntägigen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung
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