Der falsche Anker

Saudi-Arabiens Politik ist schlimm, ja kontraproduktiv. Jetzt hat die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi vehementen Protest wachgerufen. Dass eine Militärkoalition unter saudischer Führung seit drei Jahren Jemen bombardiert, zählte weniger als die Interessen der Rüstungsindustrie.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Zu beklagen ist der Tod von Al-Hadi Eckert, der kürzlich mit 83 Jahren in Jemens Hauptstadt Sanaa verstarb. Krankheiten, die mit dem Alter kommen, und die Bombardements der arabischen Militärkoalition hatten seine Lebenskraft erschöpft – täglich Ausfälle der Elektrizität und seine Hilflosigkeit gegenüber dem allgemeinen Leiden ertrug er nicht mehr.

Eigentlich hieß er, der in Schlesien zur Welt kam, Ekkehart Eckert. Nach der Flucht aus dem Osten hielt es ihn nicht in Württemberg. Er studierte in Paris und Tunesien, lernte Hocharabisch sowie den tunesischen Dialekt akzentfrei zu sprechen und wurde seither von allen Hadi genannt. Vor mehr als dreißig Jahren verschlug es ihn nach Sanaa, wo er im Auftrag der Unesco half, die herrlichen Lehmbauten in der Altstadt zu erhalten, von denen einige mittlerweile kaputtgebombt wurden. Seine jemenitischen Freunde gemeindeten ihn ein und nannten ihn Al-Hadi; darauf war er stolz.

In Sanaa hatte er einen Ziehsohn namens Bassam, den er beim Heranwachsen begleitete. Als 2015 die Bombardements einsetzten, als die Lebensmittel knapp wurden, gab Al-Hadi seine Ersparnisse hin, um zu helfen. Bassam, der heute Familienvater ist, hat einen kleinen Verein gegründet, der Spenden für Bedürftige sammelt und Lebensmittel verteilt. Er erlebt dasselbe wie größere Hilfsorganisationen: Es ist schwierig, Geldspenden nach Jemen zu überweisen, sodass sie die Empfänger erreichen. Vor etwa drei Jahren bemühte Hadi Eckert sich, Bassam nach Deutschland zu schicken, damit er sich dort fortbilden könne. Aber Bassam kam nur bis nach Kairo. Die deutsche Botschaft gewährte ihm kein Visum. Vielleicht kam das so, weil er nicht bloß kein Deutsch spricht, sondern zudem jung ist und dunkle Haare hat – typisch für Terroristen.

Derzeit ist alle Welt empört über das Schicksal des Journalisten Jamal Khashoggi. Mord und Anwendung einer Knochensäge? Das ist gar gruselig. Dass Saudi-Arabien und seine Verbündeten seit drei Jahren die Infrastruktur des ohnedies bitterarmen Jemen zerstören, dass Millionen Menschen hungern und Cholera verbreitet ist, erscheint weniger bemerkenswert. Warum? Weil Jemen strategisch nicht von Bedeutung ist. Weil das Land keine nennenswerten Bodenschätze hat. Weil man gute Beziehungen zum reichen Saudi-Arabien pflegt, das im Westen als „Stabilitätsanker“ gilt und viel Geld in westliche Unternehmen investiert, auch im Silicon-Valley.

Die Beziehungen des Westens zu Saudi-Arabien sind so gut – die Menschenrechtsverletzungen in dem Land und seine katastrophale Politik fallen da nicht ins Gewicht. Saudi-Arabien exportiert seine gefährliche Variante des Islam weltweit, indem es wahabitisch geführte Moscheen und Madrasas finanziert, die zum Dschihad aufrufen; es hat den Krieg in Jemen angezettelt, um die schiitischen Huthis niederzumachen, die von Iran unabhängiger sind, als viele denken. Dem schauen die Regierungen des Westens zu. Denn, so sagt man: Saudi-Arabien sei ja ein „Stabilitätsanker“ (so auch Frank-Walter Steinmeier, als er noch Außenminister war). Das Geld der Saudis ist willkommen; sie lästern nicht gegen Israel; sie haben Öl. Was wirtschaftlich unwichtige Länder wie Jemen angeht, darf das Haus Saud machen, wie ihm beliebt. Und die Regierung der USA sähe gern einen „regime change“ in Iran.

George W. Bushs Irak-Krieg im Jahr 2003 hat großen Rüstungsunternehmen schöne Profite beschert. Dieser Krieg und die Auflösung der bis dahin für unpolitische Bürger funktionierenden Diktatur hat das prekäre Gefüge im Nahen und Mittleren Osten auf Dauer destabilisiert, siehe Syrien. Zuvor war es so: Der Sunnit Saddam Hussein führte seinen Staat mit brutaler Hand, war aber an Religion eigentlich nur insofern interessiert, als er der schiitischen Mehrheit kaum Mitspracherecht einräumte. Das war den sunnitischen Herrschern in Saudi-Arabien ganz recht. Seitdem der Irak ein funktionierender Staat im Ernst nicht mehr ist, hat der vornehmlich schiitische Iran an Bedeutung gewonnen. Anders als Irans kluger Präsident Hassan Rohani sieht die geistliche Führung sich zum Dominieren quasi eingeladen. Also kam es zu dem Krieg in Jemen: Saudi-Arabien hat diesen Krieg begonnen, um Iran seine Macht zu demonstrieren.

Die US-Regierung will Irans Führung mit Sanktionen in die Knie zwingen. Der Vergleich mit Russland drängt sich auf. Scharfe wirtschaftliche Sanktionen haben Präsident Putin wenig geschadet, eher im Gegenteil. Zusammen mit der Annexion der Krim riefen sie den russischen Patriotismus auf den Plan. In Iran sind viele über ihre schlechten wirtschaftlichen Lebensumstände enragiert. Sollte allerdings die US-Regierung einen „Regimewechsel“ erzwingen wollen, würde auch in Iran der Patriotismus mit Macht aufflammen.

Diese ganze Gemengelage finden internationale Rüstungsunternehmen großartig. Ihre Lobbyisten sind erfolgreich, auch in der Bundesrepublik. Markus Bickel – früher war er Journalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, heute leitet er ein Magazin von Amnesty International – beschreibt in seinem Buch „Die Profiteure des Terrors“ (Westend Verlag, 2017), dass die Kriterien für Waffenausfuhren aufgeweicht wurden: „Das Kalkül für die gelockerte Haltung ist klar: Die profitabelsten Märkte für die deutsche Rüstungsindustrie liegen in Konfliktregionen und Schwellenländern, wo die Freiheitsrechte am geringsten sind und die Gewalt am größten ist.“ Die Bundesrepublik will die NS-Geschichte hinter sich lassen und ein „normaler“ Staat sein. Dazu gehört, dass man Waffenlieferungen in die Krisenregion erlaubte. Nun hat die Ermordung Khashoggis die Deutschen aufgeschreckt. Wie lange das wiedergefundene Gewissen wohl durchhalten mag?


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 02.11.2018, Seite 16
Dieser Text stammt aus „Augsteins Welt“ – einer vierzehntägigen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung