Der Bürgerkrieg in Syrien: Warum es manchmal klüger ist, abzuwarten
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Mit den militärischen Interventionen des Westens verhält es sich nicht selten so, wie Pu der Bär es beim Honigfang erlebt hat: Man steckt – durchaus auch im eigenen Interesse – mit überwältigender Waffenkraft versehen im Namen von Demokratie und Freiheit seine Nase in ein fremdes Land, bleibt dann stecken und weiß nicht, wie man sich wieder zurückziehen soll. Das haben westliche Kommandeure in Afghanistan erlebt und im Irak. Zur Zeit der Invasionen litten beide Länder unter ihrer grauenhaften Führung. Ob es den Menschen dort jetzt besser geht, ist fraglich.
Vor einigen Monaten wollte ein Iraker im Gefängnis von Abu Ghraib ein kleines Museum einrichten, zur Erinnerung an die Schandtaten, die US-Soldaten dort verübten. Der Plan scheiterte: Wie der Journalist Patrick Cockburn berichtet, waren alle Zellen schon wieder voll besetzt. Die jetzige irakische Regierung, schreibt Cockburn in der London Review of Books, sei mindestens so korrupt und dysfunktional wie Saddam Husseins Regime.
Militärische Interventionen im Nahen Osten werden von manchen immer noch für gut und heilsam gehalten. Was Syrien angeht, haben republikanische Politiker Barack Obama im Nacken gesessen: Viele Republikaner glauben nach wie vor an die „National Security Strategy of the United States“ von 2002, derzufolge die USA militärische Mittel einsetzen dürften und sollten, um fremde Regierungen präventiv abzusetzen, wenn sie im Verdacht stehen, die Interessen der USA zu bedrohen.
Als diese sogenannte „Bush-Doktrin“ verabschiedet wurde, waren Völkerrechtler schon seit Längerem damit beschäftigt, eine Vereinbarung in Worte zu kleiden, derzufolge die internationale Gemeinschaft in souveränen Staaten eingreifen dürfe, wenn deren Führer die eigene Bevölkerung misshandeln. Die „Schutzverantwortung“ („Responsibility to Protect“) wurde 2005 von fast allen UN-Mitgliedern anerkannt.
So ist es zu einer bizarren Allianz im Geiste gekommen. Abgesehen von US-Republikanern, hat – in Deutschland – der Pazifist Rupert Neudeck angeregt, der Westen müsse die syrischen Rebellen mit Waffen unterstützen. Neudeck denkt nicht geostrategisch. Der Mitbegründer der Hilfsorganisation „Friedenskorps Grünhelme“ ist kein Machtpolitiker, sondern ein mutiger Menschenfreund. Sein jüngstes Buch zeigt indes, dass beide Positionen mitunter auf dasselbe hinauslaufen können.
Neudecks „Syrisches Tagebuch“ (C.H. Beck, 14,95 Euro) beginnt im Juli 2012, etwas mehr als ein Jahr nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs. Neudeck wollte Syrien helfen und machte sich zusammen mit einigen Grünhelmen auf eigene Faust auf, um im Norden des Landes ein paar Schulen wieder aufzubauen.
Am 4. September 2012 notiert Neudeck: „Herrlich, die Revolution hat den ersten Grenzposten übernommen!“ Im Dezember schwärmt er von der „zum Greifen nahe liegenden Freiheit“ und geht „die Wette ein, dass Baschar al-Assad Ende des Jahres weg ist“. Ein paar Monate später werden drei Männer seiner Mannschaft entführt, Neudeck ist entsetzt und wundert sich: „Noch größere Sorgen als das Schicksal unserer Entführten scheinen den Behörden unsere eigenen Aktivitäten in der Sache zu bereiten.“ Warum das so war, erklärt er selbst in seiner „Schlussbetrachtung“: „Für unsere Schulprojekte war es, wie sich im Nachhinein zeigte, in dieser Gegend im Grunde noch zu früh.“ Eigentlich zeigt sich das nicht erst im Nachhinein: Unbefangene Beobachter hätten 2012 den Grünhelmen voraussagen können, dass ihr Engagement vergebens sein würde. Neudeck ist Opfer der Vor-Ort-Falle geworden. „Vor Ort“ sein: Das ist der Ausweis für reiche Kenntnis. Wer vor Ort ist, gilt automatisch als Experte. Neudecks syrisches Abenteuer illustriert, dass es damit nicht weit her ist und gerade jene, die vor Ort sind, sich mächtig irren können.
Die Wendung „vor Ort sein“ signalisiert zupackende Präsenz und hat deshalb im Medienjargon das simplere „am Ort sein“ mittlerweile ersetzt. Der Begriff stammt freilich aus dem Bergbau. Etliche Meter unter der Erdoberfläche ist es bekanntlich dunkel, und vor Ort ist es besonders dunkel: Da befindet man sich nämlich ganz am Ende eines Stollens. Nähme man die Leute beim Wort, die sagen, sie seien „vor Ort“, man müsste glauben, dass sie damit eingestehen, im Finstern zu tappen.
Natürlich: Anders als in früheren Jahrhunderten gibt es heute ausgezeichnete Scheinwerfer sowohl im Bergbau als auch in Kriegsgebieten. Reportern und Aktivisten wie Rupert Neudeck wird ihr Arbeitsfeld so gut ausgeleuchtet, dass sie alles, was daneben liegt, kaum sehen können.
Neudeck weiß, dass „eingebettete“ Reporter sich nolens volens manipulieren lassen. Neulich schrieb er in der SZ: Nicht bloß die Journalisten, die deutsche Politiker auf Kurzbesuch begleiten, auch die Bundeswehrsoldaten seien von der afghanischen Realität völlig abgeschottet. Die schweren Gefechte, die deutsche Soldaten in Afghanistan durchstehen mussten, werden wenig dazu getan haben, dass sie Land und Leute besser kennenlernten.
In Afghanistan kennt Neudeck sich aus: Die Grünhelme haben dort Schulen und Krankenhäuser gebaut. So etwas wollte er nun in Syrien ins Werk setzen. Weil er sich dafür die Stadt Azaz gewählt hatte, wo die Rebellen ihn freundlich empfingen, wähnte er irrtümlich, dass Assads Tage als Regierungschef gezählt seien, dass statt seiner Herrschaft demnächst eine ordentliche Demokratie in Syrien Einzug halten könne. Umso empörter war er darüber, dass der Westen die Rebellen nicht genügend unterstütze. „Waffenlieferungen“, schreibt er am Ende seines „Tagebuchs“, „sind kein ungefährliches Instrument. Aber auch Untätigkeit kann fatale Folgen haben.“
Tatsächlich hat der Westen schon 2011 einiges zur Aufrüstung der Rebellen getan. Volker Perthes, der Direktor der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, schrieb unlängst: „Die USA begannen mit der Lieferung leichter Waffen an die Rebellen und ermutigten vor allem die Golf-Monarchien, der FSA (Freie Syrische Armee, Red.) mit Geld und Waffen zu helfen“. Perthes‘ Verb „ermutigen“ ist eine amüsante Umschreibung dafür, dass die USA einen Stellvertreterkrieg mitanzettelten, wie es in den Zeiten des Kalten Krieges üblich war.
Die reichen Saudis und das ebenfalls reiche Katar unterstützen sunnitische Islamisten und auch Terroristen. Russland und Iran unterstützen Assad, der zwar ziemlich säkular lebt, aber als Alawit zu den Schiiten gehört. Wie der Politikwissenschaftler Fjodor Lukjanow neulich in der Zeitschrift Internationale Politik schrieb, hülfen die Russen Assad vor allem deshalb, weil sie keine Lust hätten abzuwarten, welche fundamental-islamistischen Gruppen sich in Syrien um die Macht streiten werden, sofern Assad abgesetzt würde.
Der Aufruhr in Syrien war zunächst eine friedliche Demonstrationsbewegung. Baschar al-Assad machte den größten Fehler seines Lebens und ließ die Versammlungen gewaltsam sprengen. Nicht eingeschüchtert, trafen sich am 27. Juni 2011 rund 150 syrische Dissidenten im Hotel Semiramis in Damaskus – unbewaffnet, darunter viele Intellektuelle. Die BBC hat darüber berichtet: Zu Beginn wurde die Nationalhymne gesungen, dann gab es eine Schweigeminute für all jene, die von Assads Sicherheitskräften getötet worden waren. Die Versammelten plädierten mehrheitlich dafür, einen friedlichen Reformprozess in Syrien in Gang zu setzen.
An dieser klugen Initiative, sagt der aus Iran gebürtige Schriftsteller und Islam-Kenner Bahman Nirumand, sei das Ausland nicht interessiert gewesen: „Keine Regierung hat diesen Leuten Beistand angeboten.“ Stattdessen halfen die USA einen Monat später, im Juli 2011, in der türkischen Provinz Hatay bei der Gründung der „Freien Syrischen Armee“, die Assad stürzen will. Mittlerweile besteht die FSA aus unübersichtlich vielen kleinen Gruppen, die ganz unterschiedliche Ziele haben. Im kommenden Sommer sollen in Syrien Wahlen abgehalten werden. Falls es dazu kommt, wird Assad die Wahlen vermutlich gewinnen: Die Opposition spricht nicht mit einer Stimme, und die meisten Syrer wollen nicht, dass ihr Land in die Hände von Terroristen oder islamistischen Fundamentalisten gerät.
In seinem Tagebuch schreibt Rupert Neudeck: „Die Syrer sind das verlassenste Volk der Erde.“ In Syrien geht es in der Tat fürchterlich zu. Aber Waffen brauchen die Syrer nicht. Wenn die beteiligten Mächte sich demnächst in Genf treffen und etwas für das Land und die Region tun wollen, dann sollten sie gemeinsam beschließen, den Stellvertreterkrieg zu beenden.