Seit der Finanzkrise 2008 ist das Wort „Kapitalismus“ rehabilitiert. Mit der Systemkrise werde die Lehren des deutschen Philosophen aktuell.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Es gibt keine Alternative“ hat Margaret Thatcher gesagt, als sie das britische Wirtschaftssystem so auf Vordermann brachte, dass ihre armen Landsleute das Nachsehen hatten. Seitdem Tony Blairs New Labour die „Thatcher-Revolution“ vollendet hat, wächst fast jedes fünfte britische Kind in Armut auf. Aber angesichts der Finanzkrise hat Angela Merkel sich Thatchers Satz zu eigen gemacht, auch in der Bundesrepublik ist er jetzt ein geflügeltes Wort: Es gibt keine Alternative.
So hat man im Westen gedacht, seitdem der Untergang des Sowjetreiches den Sozialismus und den Kommunismus endgültig diskreditierte. Nun schien erwiesen zu sein: Die Kommis ließen nicht nur keinen Rechtsstaat aufkommen, sie waren obendrein ökonomisch unfähig. Mehr als zwanzig Jahre lang konnte der Westen sich in der Vorstellung gefallen, geschichtsphilosophisch sei die Entwicklung der Gesellschaft vollendet, weil die freie, vom Staat nicht behinderte Marktwirtschaft eine herrliche Selbstorganisation verbürge, bis in alle Ewigkeit – Ende der Geschichte!
Wer das Wort „Kapitalismus“ in den Mund nahm, verriet sich: Da handelte es sich wohl um einen Linken, der zu verstockt war, mit der Zeit zu gehen. Mit Ausbruch der Finanzkrise 2008 hat sich das geändert. Seither ist das Wort „Kapitalismus“ rehabilitiert, auch in den Finanzteilen der Presse wird es wieder benutzt. Seither hat die völlig liberale Marktwirtschaft ihren Ruf als nachgerade natürliche Weltordnung verloren; indem sie wieder „Kapitalismus“ genannt wird, ist sie nur mehr ein System. Und wo es ein herrschendes System gibt, liegen Alternativen nah.
Der einzige Konkurrent der Marktwirtschaft, den Ökonomen jeglicher Couleur seit dem späten 19. Jahrhundert als Widerpart anerkannt haben, ist der Marxismus. Die selbstzerstörerische Funktionslogik des Kapitalismus beschrieb Karl Marx so gut, dass einige seiner Analysen heute besser zutreffen denn zu seinen Lebzeiten.
Die „Entfremdung“ des Menschen von der Arbeit, die er verrichtet, setzte so recht erst mit der Fließbandproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Niemand vor Marx hat so genau vorhergesehen, wie die unbeschränkte Entfesselung der Produktivkräfte im Verein mit der Globalisierung der Märkte die ganze Welt verändern würde. Dieser Prozess hat sich erst in den vergangenen zwanzig Jahren in seiner ganzen Totalität bemerkbar gemacht: seitdem das Sowjetreich untergangen ist und letzte Handelsschranken fielen, seitdem China sich als staatsmonopolistischer Kapitalismus entdeckt hat und weltweit Geschäfte macht, seitdem das Internet samt E-mail-Wesen die Kommunikation beflügelt.
Der Fetisch-Charakter der Ware zeigt sich an den Produkten der Finanzmarktindustrie viel deutlicher als an industriell erzeugten Gütern, die man anfassen kann. Erstere haben jenseits des Marktes tatsächlich keinen erdenklichen Nutzen mehr. Dass Länder wie die USA und Großbritannien zu ihrem eigenen Schaden die produzierende Industrie zugunsten der Finanzmarktprodukte vernachlässigt haben, belegt, dass der Kapitalismus tatsächlich sich selbst in die Krise führt.
Im „Kommunistischen Manifest“, das Marx und Engels 1848 publizierten, wird die Staatsgewalt als „ein Ausschuss“ zur Führung der Geschäfte der Bourgeoisie beschrieben. Das galt für Frankreich unter Napoleon III. Es gilt aber auch für die EU, die über die Köpfe ihrer Bürger hinweg die Banken und ihre Investoren finanziert.
Heutige Ökologen können bei Marx vieles finden, was für ihr Anliegen nützlich ist: Wenn die Menschheit überleben will, muss sie den Kapitalismus zumindest insofern überwinden, als sie auf das ewige Wachstum verzichtet – anderenfalls alle miteinander den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Und schließlich: Mit ihrer rücksichtslosen Ausbeutung der weltweiten Ressourcen sowie mit ihrem Protektionismus der heimischen Wirtschaft bringen die entwickelten Staaten die Bewohner der armen Länder dazu, sich genauso zu verhalten, wie Marx es beschrieb, als er sagte: Proletarier haben kein Vaterland.
Proletarier in Marx‘ Verständnis waren zwar die Industriearbeiter. Der Begriff lässt sich aber im Rahmen seiner Theorie erweitern: Liebend gern würden die Menschen, die sich in überfüllten Booten auf die gefahrvolle Reise übers Mittelmeer gen Norden begeben, die Staatsbürgerschaft eines europäischen Landes annehmen. Sie haben kein großes Verständnis von Vaterland, sie fliehen vor unerträglichen Zuständen.
Das „Kommunistische Manifest“ hebt paradoxerweise mit einem Lobpreis jener Klasse an, mit Blick auf deren Abschaffung es verfasst wurde: der Bourgeoisie. Das Aufkommen der Märkte, wo es auf persönliche Beziehungen nicht mehr ankommt, wo allein die Ware und ihr Wert entscheidend sind, hat zu einer – mit Max Weber gesagt – Entzauberung der sozialen Beziehungen geführt. Marx selbst schrieb: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht . . . Die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“
Das ist es, was Marx faszinierte und was auch heutige Ökonomen besticht: der nüchterne Blick. Politische Argumente zählen sehr oft zu dem, was Marx als „Überbau“ bezeichnete, den es zu entlarven galt – wobei er selbst dabei zuallererst die Religion im Sinn hatte. Heute gehört es zum Allgemeinwissen, dass die Weltgemeinschaft zusieht, wie afrikanische Staaten verkommen, einfach deshalb, weil viele dieser Länder für den Welthandel irrelevant sind. Die Grundlagen für diese Sichtweise, die sie historischen Materialismus nannten, haben Marx und Engels gelegt.
So wie Sigmund Freud der Welt beibrachte, dass man mit dem Unterbewussten rechnen muss, so haben Marx und Engels die Übung eingeführt, das politische und gesellschaftliche Geschehen auf die dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen hin zu betrachten.
Die heutige Krise gilt vielen als größte Krise des Kapitalismus. Die Deregulierung der Finanzmärkte, die um 1980 begann und bis über das Jahr 2000 fortgesetzt wurde, hat diese Krise erwirkt. Nicht zufällig ist Marx‘ Denken wieder aktuell. So zählt zu den wenigen halbwegs konkreten Forderungen, die viele Anhänger der Occupy-Bewegung unterschreiben, Marx‘ Diktum „Jeder nach seinen Fähigkeiten. Jedem nach seinen Bedürfnissen“, das er in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ der SPD 1875 publizierte. Es ist nicht schwer, Marxens Theorien an die Gegenwart anzupassen. Mag auch das Proletariat nie die umstürzlerische Kraft gewesen sein, als die er es sah, so wird doch der Begriff vom Klassenkampf sinnvoll, wenn man ihn internationalisiert: Auf Dauer wird es den wohlhabenden Ländern nicht gelingen, die armen Nachbarn in Schach zu halten.
Zwar hat Marx im „Kommunistischen Manifest“ der „Gewalt“ das Wort gesprochen, Massenmord und den Gulag hat er sich darunter aber nicht vorgestellt. Ihn bewegte vielmehr grenzenlose Enttäuschung darüber, dass die „Waffen der Kritik“ – die Verbesserung der Welt vermittels des freien, öffentlichen Gesprächs – von der Obrigkeit geknebelt wurden. Heute, da die Bedingungen in Deutschland ungleich besser sind, würde er sich begeistert in die Debatte werfen. Vermutlich würde die SPD-Spitze ihn gern zu ihren Ratgebern zählen.
Marxens Konzept, warum eine Revolution kommen müsse, war falsch. Aber seine Kritik und seine analytische Methode sind nach wie vor unüberboten – und damit einher gehen seine Vorstellungen von einem guten Leben, die nicht auf Moralsätzen gründen, sondern auf ganz praktischen Ansichten darüber, was dem Menschen nicht zugemutet werden darf.
Der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton, der sich einen katholischen Marxisten nennt, hat ein Buch publiziert: „Warum Marx recht hat“. Er liest in Marx ganz andere Dinge hinein, als Antikommunisten es tun: Marx habe ein „Modell des guten Lebens entworfen, das „beruhte auf dem Gedanken des künstlerischen Selbstausdrucks. Er glaubte, dass einige Revolutionen friedlich verlaufen könnten und hatte nichts gegen soziale Reformen“. Aus Eagletons Perspektive hätte Marx mit Ludwig Erhard das Credo „Wohlstand für alle“ vertreten können. Und mit Leuten wie Heiner Geißler und Norbert Blüm wäre er mühelos ins Gespräch gekommen. Nicht zufällig hat die katholische Soziallehre viel von Marx gelernt.
Jetzt, da der krude, von Marx beschriebene Finanzkapitalismus seine Trümpfe ausgereizt hat, sind Werte wieder gefragt. Insofern ist die Occupy-Bewegung, die an ihrer Naivität zugrunde geht, ganz auf der Höhe der Zeit. Das gutsituierte Bürgertum lebt nicht wochenlang in Zelten vor einer Börse, bis die Ratten kommen. Aber auch die Bürger haben entdeckt, dass die unbegrenzte Kapitalakkumulation ihren Interessen auf die Dauer zuwiderläuft. Was tun?
Marx hat Vorschläge gemacht, er hat Kritik geübt und der Welt Instrumente an die Hand gegeben, mit denen man zeigen kann, dass die herrschenden Zustände nicht „alternativlos“ sind. Wie schreibt Terry Eagleton? „Wenn wir uns nicht gegen das scheinbar Unvermeidliche stemmen, werden wir nie herausfinden, wie unvermeidlich das Unvermeidliche war.“