1962 begann das Jahr 1968

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Vor fünfzig Jahren sollte der SPIEGEL ruiniert werden. Nur wenige Abgeordnete im Bundestag erhoben scharf Einspruch dagegen. Die Sache ließ sich gut an für die Staatsgewalt, mit dem Volk rechnete sie nicht. Ruhe galt in Deutschland ja als Bürgerpflicht. Und die Deutschen sahen sich schon immer eher als Lampenputzer denn als Revoluzzer. Warum Protest und Aufruhr in Deutschland schnell zu Ende waren, hatte Erich Mühsam beschrieben: „Lasst die Lampen stehn, ich bitt! – denn sonst spiel ich nicht mehr mit!“

Niemand rechnete damit, dass die Besetzung des SPIEGEL und die Verhaftung Rudolf Augsteins Aufruhr auslösen könnten. Zur Überraschung der Obrigkeit gab es ihn aber. Zwar friedlich, aber mit Macht, auch mit Witz. Trude Herr („Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann“) hatte einen Riesenerfolg mit dem Song „Tanz mit mir den Spiegel-Twist, auch wenn du von der Kripo bist.“

In gutem Angedenken sollte auch der Mann bleiben, der bei dem Staatsanwalt Siegfried Buback anrief: „Hier ist Augstein, ich bin bei meinem Freund Strauß; wir haben uns wieder vertragen, deshalb können Sie aufhören und nach Hause gehen.“

Das eher konservative Bürgertum protestierte im Theater, und die Studenten protestierten auf der Straße. Sie sahen, was sich hinter den Vorwürfen gegen den SPIEGEL verbarg: der Versuch, Kritik am Staatswesen zu eliminieren. Auf einmal wurden viele brave Bürger zu friedlichen Revoluzzern. Die Bürger bauten auf die im Grundgesetz verbürgten Rechte und leuchteten dem Obrigkeitsstaat heim. Die Staatsgewalt musste nachgeben.

Das war für sie eine neue Erfahrung. Preußen hatte die Furcht vor der Obrigkeit im 19. Jahrhundert in Deutschland etabliert. Die Nazis hatten sich das zunutze gemacht. Und so blieb es – bis 1962.

Mit der SPIEGEL-Affäre hielt sich die Staatsgewalt selbst den Spiegel vor. Viele Funktionäre der jungen Bundesrepublik waren überzeugt, dass der Staat mehr gelte als seine Bürger. Letztere waren wie Minderjährige zu behandeln oder wie nicht voll Zurechnungsfähige. So sahen das im Besonderen Angehörige der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die den SPIEGEL verfolgte. Sie waren als Nazis ganz gut gewesen. An Demokratie und Meinungsfreiheit konnten sie sich nicht recht gewöhnen.

Als Franz Josef Strauß seine Fehde gegen den SPIEGEL mit juristischen Mitteln betrieb, stieß er in der Bundesanwaltschaft auf Sympathie. Der SPIEGEL galt bei vielen seiner Gegner als ein „nihilistisches“ Blatt. Aus den Vorwürfen des „Nihilismus“ und der „Nestbeschmutzung“ – beides Wörter, die in der Nazi-Zeit Konjunktur hatten – ergab sich der „Landesverrat“ wie von selbst.

Kanzler Adenauer, obzwar er ein Gegner des NS-Regimes gewesen war, sah das ganz ähnlich. Demokratie hieß: Kluge Leute regieren, und die Bevölkerung darf zustimmen (die SED in der DDR sah das übrigens nicht anders). Adenauers patriarchalisches Selbstverständnis ähnelte dem eines fürstlichen Landesherrn. Als die Westdeutschen für den SPIEGEL demonstrierten, fühlte der Kanzler sich umzingelt. Da er sich kein neues Volk wählen konnte, suchte er sich andere Schuldige, Reinhard Gehlen zum Beispiel. Dieser, erklärte der greise Regierungschef, müsse sofort verhaftet werden. Warum? Gehlen hatte die Vorläuferorganisation des BND gegründet. Und weil ein SPIEGEL-Mann Kontakte zum BND hatte, war Gehlen also fällig – in Adenauers Augen. Mühsam brachte man dem Kanzler bei, dass man einen Menschen nicht nach Lust und schlechter Laune verhaften lassen kann, zumindest nicht in einem Rechtsstaat.

Zu den Absurditäten der Zeit gehört die „Mosaiktheorie“: Wenn eine Zeitschrift sich unterstand, lauter bekannte Tatsachen schlüssig zusammenzufassen, so dass „der Feind“ sich die Mühe nicht mehr selbst machen musste – dann konnte das als Landesverrat ausgelegt werden. Ob oder ob nicht: Das war eine Frage der politischen Machtverhältnisse.

1962 meinte die Obrigkeit, sich die Aktion gegen den SPIEGEL leisten zu können. Der SPIEGEL und die Hamburger Verlage, die halfen, dass er weiterhin erscheinen konnte, wurden abgehört. Der CSU-Innenminister Hermann Höcherl war der Auffassung, der Staat habe sein Recht, Telefone abzuhören, „vor November 1962“ nicht ausreichend genutzt. Derselbe Höcherl fand nichts dabei, dass der SPIEGEL-Redakteur Conrad Ahlers rechtswidrig in Spanien verhaftet worden war: „Etwas außerhalb der Legalität“ sei das gewesen, aber im Übrigen ganz in Ordnung. Man konnte damals schließlich – noch ein Spruch des legendären Höcherl – „nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“. Er hätte es tun sollen.

Mit der SPIEGEL-Affäre 1962 begann das Jahr 1968. Viele junge Deutsche legten die Lampenputztücher beiseite, es begann die Zeit der Putztruppen.


Aus: DER SPIEGEL Nr. 38 vom 17.09.2012 – Seite 74
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