Georges-Arthur Goldschmidt hat zwar ein Lieblingscafé in Paris. Er kommt aber auch gern ins berühmte Café de Flore im 5. Arrondissement, wo in der ersten Etage Leute sitzen, die in Ruhe reden oder arbeiten wollen. Über drei Stunden hin begnügt er sich miteinem Espresso. Ihm bliebe auch wenig Zeit, mehr zu trinken: Er erzählt.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
SZ: Ihre Eltern haben Sie 1938, als Sie noch keine zehn Jahre alt waren, aus Deutschland ins damals noch sichere Italien geschickt. Nach Kriegsausbruch kamen Sie auf ein französisches Internat in Savoyen. Sie haben Ihre Deutschkenntnisse in Frankreich nicht verloren. Trotzdem hatten Sie 1945 vor der französischen Abiturprüfung im Fach Deutsch Angst. Warum?
Georges-Arthur Goldschmidt: Dass ich und mein Bruder gerettet wurden, dass wir zu den letzten Juden gehörten, die noch aus Deutschland ausreisen konnten, war einer reichen Cousine meiner Mutter zu danken. Nach dem Krieg dachte ich, ich hätte meine Muttersprache vergessen. Da hatte meine Gönnerin eine Deutschlehrerin für mich engagiert. Die gab mir hektographierte Blätter mit ganz langen Wörtern. Eine Zeile – zwei Wörter. Ich fing an zu heulen wie ein Schlosshund. ,Hör auf‘, sagte sie, ,schau dir das erst mal an.‘ Und zu meiner größten Verblüffung waren das Zusammenstellungen von Wörtern, die ich alle kannte.
Wörter wie Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän?
Solche Wörter, ganz einfache Wörter.
Sie sagen, dass das deutsche Vokabular aus sich heraus klar sei, dass das Deutsche deshalb eigentlich eine Kindersprache sei. Ja, es ist Ihre Kindersprache, aber eigentlich ist es doch sehr komplex.
Viele Wörter im Deutschen sind aus sich heraus verständlich: Nehmen wir das Wort ,Mülleimer‘: Das ist ein Eimer für den Müll. Im Französischen hingegen heißt der Mülleimer ,poubelle‘. Mit Müll hat das Wort nichts zu tun. Das Französische hat viele lateinische Wörter inkorporiert, das macht es zu einer undurchsichtigen Sprache. In 10 000 Jahren, wenn es überhaupt noch Menschen gibt, findet man im Schutt zwei Texte. Einer ist deutsch: Wenn man mit einem Computer zu Werke geht, hat man den Sinn bald auf dem Tisch. Den Sinn eines französischen Textes werden Sie nicht herausbekommen, das Französische ist aus sich heraus ohne Kenntnis des Kontextes nicht verständlich.
Deshalb könnte es doch sein, dass Martin Heidegger recht hatte, als er sagte, Griechisch und Deutsch seien die zwei Sprachen, die vornehmlich zum Philosophieren geeignet seien.
Ganz und gar nicht. Kant ist der letzte große deutsche Philosoph gewesen: Er hat eine vollkommen aus dem Lateinischen wunderbar geholte Sprache geschrieben. Nach Kant ist es aus. Da kommt das Wortgeplänkel. Die deutsche Philosophie wollte dann zum Urigen, zum Ursprung zurückfinden. Denken Sie an Fichte, an Heidegger. Nietzsche war ein großer Dichter. Ein großer Philosoph? Das war er weniger. Außerdem, das ist das Schöne und das Fatale: Mit der deutschen Sprache kann man mit Neologismen alles machen, wirklich alles. Keine andere Sprache wäre so mühelos auf das Wort ,Vergasung‘ gekommen.
Trotzdem leuchtet mir nicht ein, dass Sie das Deutsche als ,Untertanen-Sprache‘ bezeichnen.
In Frankreich hat Franz I. im 16. Jahrhundert durchgesetzt, dass Hochfranzösisch für alle Untertanen galt. Es gab damals ,cahiers de doléances‘, in denen die Bewohner eines Dorfes sich beim König beschwerten, wenn sie sich von der Regionalverwaltung schlecht behandelt fühlten; die waren oftmals schon auf Hochfranzösisch abgefasst. In den deutschen Ländern war das ganz anders: Es gab keine Zentralgewalt, an die man sich wenden konnte, der Kaiser war weit weg. Das Hochdeutsche wurde nicht benutzt, und bei den Obrigkeiten waren Regionaldialekte nicht anerkannt. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts wurde an deutschen Universitäten auf Latein gelehrt. Ein Wort wie ,Gewerkschaft‘ wurde in Deutschland ganz spät erfunden, lange nachdem der französischen Verwaltung das Wort ,syndicalisme‘ schon bekannt war – das Wort war da, es musste nur noch mit obrigkeitskritischem Inhalt gefüllt werden. Die Deutschen hatten kein politisches Vokabular.
Braucht man für reformerische oder revolutionäre Umtriebe einen Fachjargon? Genügt es nicht, dass die Zustände als unerträglich empfunden werden?
Sicher. Aber: Nehmen Sie das Wort ,Obrigkeit‘: Auf Französisch heißt das ,autorité‘, darin steckt das lateinische Wort ,auctor‘ – Urheber. Wo einer was macht, kann man es auch anders machen. Die deutsche ,Obrigkeit‘ hingegen: Sie ist oben, alle anderen sind unten.
2006 haben Sie das Buch ,Freud wartet auf das Wort‘ veröffentlicht. Mein Eindruck ist: Es geht Ihnen nicht so sehr darum, dass Freud auf das Wort wartete, sondern darum, dass Freud auf die Tat wartete, nämlich auf die Untaten des Nationalsozialismus.
Ja, Freud hat etwas kommen sehen, wovon er nicht wusste, was es ist. Sein ganzes Werk ist nur eine Warnung – wie übrigens Heinrich Heine auch gewarnt hat in ,Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‘. Freuds Arbeit war dieselbe: Er fühlte das große Sterben heraufkommen.
In Ihren Augen war das Deutsche wie dafür geschaffen, die Psychoanalyse zu entwickeln. Warum?
Es ist kein Zufall, dass Freud gerade durch die deutsche Sprache die Analyse entdeckt hat. Ich habe mich nie einer Psychoanalyse unterzogen, weiß aber: Das letzte Wort, das der Patient sagt, ist das wahre Wort. Das kommt am Ende der Analyse, wie das Verb am Ende des deutschen Nebensatzes kommt.
Haha.
Lachen Sie nur. In den 70er Jahren war ich einmal im Bundestag. Niemand hörte mehr zu, die Leute babbelten untereinander. Plötzlich fängt ein Redner einen ganz langen Satz an: Die Leute hörten auf, sich zu unterhalten, sie merkten auf.
Die Parlamentarier waren hämisch neugierig: Ob der Redner seinen langen Satz wohl grammatisch richtig zu Ende bringen könne.
Mag sein. Aber das ist dasselbe Phänomen wie in der Psychoanalyse: Erst am Ende kommt die Auflösung, so wie Sie einen deutschen Satz auch erst dann verstehen, wenn das letzte Wort, das Verb, gesagt ist.
Heutzutage reden wir umgangssprachlich in Deutschland so: ,Ich sitze gern im Café Flore, weil: ich mag das Café.‘ Das Verb steht nicht mehr hinten.
Das Deutsche ist freier geworden. Man lässt sich Zeit zum Denken, daher die Zäsur: ,weil:‘ – Nachdenken – und dann kommt das Resultat.
In Frankreich scheint seit langem eine gegenteilige Entwicklung abzulaufen: je unfreier, je komplizierter, desto besser.
Freud hat mit Witz geschrieben. Nichts davon ist in der gängigen Übersetzung ins Französische übrig geblieben. Viele französische Intellektuelle haben sich eine unverschämte Freud-Sprache angeeignet. Die sagen ,l’Hilflosigkeit‘ anstelle von dem allen Franzosen geläufigen Wort
,désemparement‘. Ein deutscher Leser, der nichts von der Psychoanalyse versteht, kann Freud trotzdem verstehen. In Frankreich ist das nicht so: Da werden Freuds Gedanken möglichst unverständlich wiedergegeben.
Gilt das auch für die Übersetzungen von Heideggers Schriften?
Nein. Die sind auch auf Deutsch unverständlich. Ich habe – Frankreich ist ja tolerant – Vorträge gegen Heidegger gehalten. Da habe ich mir irgendwelchen Blödsinn ausgedacht, den Heidegger angeblich gesagt habe, und das dann ins Französische übersetzt. Ich behauptete, es handle sich um Texte, die ich im Nachlass meines Schwagers gefunden hätte. Niemandem fiel das auf. Man nahm den Quatsch, den ich da verfasst hatte, als Original-Heidegger hin. Die französische Übersetzung seiner eigenen Texte ist nicht nur unverständlich, sie ist teils auch falsch. Heidegger schrieb über den ,schutzlosen Markt der Wechsler‘. Da schwingt das Wort ,Wucherer‘ mit. Bei Antisemiten waren die Juden als Wucherer verschrien. ,Wechsler‘ ist so ins Französische übersetzt worden, dass ,Wucherer‘ nicht mehr mitklingt. Die Franzosen wollen Heidegger als reinen Philosophen sehen, dass er ein Anhänger des Nationalsozialismus war, wollen und können sie nicht begreifen.
Heidegger: ein Anhänger des Nationalsozialismus, nicht bloß ein Mitläufer?
Ja! Meine Schwester hat 1934 einen Schüler von Heideggers jüdischem ,Kollegen‘ Edmund Husserl geheiratet: Ludwig Landgrebe. Er war ein ,Arier‘, weshalb meine Schwester, Frau in einer ,Mischehe‘, nicht deportiert wurde. Landgrebe hat Heidegger nach dem Krieg besucht, ich war dabei. Mein Schwager fragte ihn: ,Wieso waren Sie ein Nazi?‘ Er antwortete: ,Herr Landgrebe, das war die größte Dummheit meines Lebens.‘ Er hat nicht gesagt, ich war es nicht! Aber die Franzosen wollen das nicht wahrhaben.
Woher die Vorliebe französischer Intellektueller für das Unverständliche?
Es gibt eine französische Intelligenzia, die nicht verstanden werden möchte. Anfang des 20. Jahrhunderts lebte in Frankreich ein großer Philosoph: Henri Bergson. Aber er war Jude, das haben die Franzosen ihm nicht verziehen. Nach dem Krieg führten marxistische Denker das Wort. Aber zusammen mit dem Kommunismus war dann auch der Marxismus diskreditiert. Frankreich litt an einer philosophischen Lücke. Die wurde gefüllt von Leuten, die alles aufblasen, damit die Lücke auch garantiert prall gefüllt werde. Heute ist die Heidegger-Mode zum Glück am Abflauen.
Das französische Faible für unverständliche und bizarre Thesen ist doch eigentlich ,camp‘, halbschwul, eine reine Männerfreude – das, wohin eine männliche Gesellschaft ausweicht, wenn sie nicht gerade Lust hat, Krieg zu führen. Es sind doch vor allem intellektuelle Männer, die Autoren wie Oswald Spengler, Ernst Jünger und Heidegger faszinierend finden.
Ob nur Männer davon begeistert sind, weiß ich nicht. Allerdings: Die Lust an Heidegger kam in Frankreich in den 60er Jahren auf, zusammen mit der sexuellen Befreiung. Und die Lust an der Kompliziertheit ist in der Tat von homosexuellen Männern prominent vertrieben worden. Denken wir an Roland Barthes und Michel Foucault.
Die Sexualität ist eines der Themen, die Ihnen ganz wichtig sind. Warum eignet sich das Französische für erotische Reden besser als das Deutsche? Warum kann man auf Französisch Dinge sagen, die auf Deutsch nur vulgär klingen?
Die entsprechenden Wörter waren verboten. Bestenfalls gibt es lustige Wörter wie ,vögeln‘. Auf Französisch sagt man dazu ,baiser‘: küssen, oder ,faire l’amour‘: Liebe machen. Erotik in diesem katholischen Land gehörte immer zur Normalität. Ich denke: Der Protestantismus hat die Erotik verboten. Meine Familie war im 19. Jahrhundert zum Protestantismus übergetreten. Protestantischer als meine Hamburger Familie geht es nicht.
Ging es da nur um die Religion?
Meine Familie wollte ganz und gar Teil ihres bürgerlichen Umfelds sein. Als mein Vater in den 1890er Jahren Student der Jurisprudenz war, traf er Wilhelm II. Der schüttelte einigen Studenten die Hand. Meinem Vater sagte er: ,Junger Mann, machen Sie es gut für Deutschland.‘ Ha, mein Vater hat sein Leben lang seine Hand im Glaskasten getragen. 1892 oder 1893, da war er 20 Jahre alt, ging er in den Sachsenwald, und – darauf hatte er es angelegt – er traf Bismarck. Der hat ihm gesagt: ,Kommen Se‘ mal mit.‘ Seine Erinnerungen hat Bismarck diktiert, da finden sich im Originalmanuskript lauter verschiedene Handschriften. Meinem Vater hat er auch diktiert. Um sechs Uhr abends hat Bismarck dann gesagt: ,Weg, Ihr Zug fährt!‘ Weder danke noch guten Tag, nix. Aber mein Vater war im Himmel, im Himmel!
Und die Religion?
Ich bin im absoluten Verbot erzogen worden. Als ganz kleiner Junge spielte ich manchmal mit meinem Pimmel. Meine Mutter wurde verrückt. Ich dachte, meine Eltern schmeißen mich raus.
Haben Sie sich deswegen wirklich schuldig gefühlt?
Ja. Und dazu kam noch etwas. Ich gehöre ja zu den Leuten, die Hitler gesehen haben: Ich war mit meiner Kinderfrau einkaufen. Plötzlich standen wir ganz vorne, ich war fünf oder sechs Jahre alt. Und plötzlich saß ich auf den Schultern eines SS-Mannes. Da war vor mir die Beule seines Kopfes in der Mütze, die fand ich sehr erstaunlich. Und dann kam der Hitler vorbei und hat gewinkt. Ein andermal, da war ich im Deutschen Museum in München, sagte eine Frau: ,Du bist ein ganz entzückender kleiner Deutscher.‘
Sie haben blaue Augen und hatten blonde Haare.
Und ich wusste: Da stimmt was nicht. Ich muss da was geahnt haben. Ich dachte: Juden, das ist meine eigene Schweinerei. Und das blieb so. Als man mich in Frankreich auf dem Internat in Sicherheit gebracht hatte, wusste ich ja schon, was sich abspielte: Ich masturbiere, während andere deportiert werden! Das Internat in Frankreich, wo man mich unterbrachte, wurde von einer Frau geleitet, der es eine perverse Lust gemacht hat, Jungs auf den nackten Hintern zu schlagen. Das war für mich wie eine Freude: Erlösung von der Schuld; und sie hat auch nicht so sehr zugeschlagen, dass der Schmerz die Lust überwogen hätte. Nebenbei: Die Frau hat mir das Leben gerettet, sie hat mich versteckt, während die Nazis im Ort nach Juden suchten. Außerdem habe ich dort – das ist auf Jungsinternaten ja üblich – die Homoerotik erlebt.
Von der Bezwingung der Scham und der Erringung sexueller Freiheit handelt auch Ihr neues Buch : ,Ein Wiederkommen‘, das im März auf Deutsch erscheint.
Ich nenne das: eine schöne Schuld. Ich war mit vielem sehr spät dran. Meine Frau ist die erste Frau, mit der ich überhaupt geschlafen habe. Ich war damals 28 Jahre alt.
Sie haben das einmal aufgeschrieben: Sie sahen eine junge Frau, im grünen Mantel mit einem eng geschnürten Gürtel, und Sie haben sich gesagt: Das ist die Frau, die ich mag.
Ja. Und das Komische ist: Ich habe sie mir immer wieder erfunden, bevor ich sie kannte. Und dazu habe ich auch noch Humor gelernt und sei es, man kann ja nie wissen, Galgenhumor.