Rede anlässlich der Vergabe des Marion-Samuel-Preises an den Carl Hanser Verlag

Am 10. November 2011 wurde der Carl Hanser Verlag mit dem Marion-Samuel-Preis ausgezeichnet: Der Verlag, die Lektorin Anna Leube vorneweg, kümmert sich um eine neue Edition der Schriften Primo Levis. Es galt, Primo Levi als Mensch und Autor zu beschreiben. Die Veranstaltung fand in städtisch-prunkvollem Rahmen in Augsburg statt. Auch viele Schüler waren zugegen.


Primo Levi erging es wie anderen auch: Noch während er in Auschwitz war, nahm er sich vor, eines Tages aufzuschreiben, was ihm dort widerfahren war – sollte er das Lager überleben, was er nicht wußte. Daß er die Sprache haben würde, über das Lager zu reden, das wußte er. Über Auschwitz schreiben: Das war für ihn keine Frage von Kunst und Stil. Vielmehr wollte er in einem imaginären Gerichtsprozeß eine Aussage machen. „Ist das ein Mensch“ hat er 1946 zu Papier gebracht, ganz schnell, ja seiner eigenen Wahrnehmung nach geradezu mühelos. Später hat er dazu gesagt: „ Ich mußte nicht gegen Faulheit ankämpfen, Stilprobleme erschienen mir lachhaft, ich fand wundersamerweise die Zeit zum Schreiben, ohne je eine Stunde von meinem Alltagsberuf abzuknapsen. Es kam mir vor, als hätte ich dieses Buch bereits fix und fertig in Kopf, als müßte ich es nur herauslassen und aufs Papier bannen.“

Nun, dieses Buch und dazu auch „Die Atempause“ sowie die Kommentare, Anmerkungen und Ergänzungen, die sich alle in dem heute hier vorgestellten Band finden, habe ich langsam gelesen. Dazu auch vieles andere, was mir von und über Primo Levi in die Finger kam. Besonders zu empfehlen ist allerdings dieses Buch. Es wiegt nicht viel, es ist schön gebunden – und haltbar. Letzteres weiß ich, weil ich diese Ausgabe etliche Tage lang mit mir herumgetragen und in jeder freien Zeit darin gelesen habe. Der Hanser-Verlag wird heute mit dem „Marion-Samuel-Preis“ ausgezeichnet. Ein Mäzen hat es möglich gemacht, daß Primo Levis Werke jetzt mit klugen Kommentaren versehen, in einer Gesamtausgabe erscheinen.

Wie gesagt: mit dem einen Band, der die Bücher „Ist das ein Mensch?“ und „Die Atempause“ samt Kommentar sowie Rückblicken von Primo Levi selbst auf diese Bücher umfasst, habe ich mich nicht nur lange getragen, ich habe diesen Band auch lange mit mir herumgetragen. Daß dies Buch ein „Vademecum“ ist, ein Gefährte auf Reisen, dazu hat Anna Leube vom Hanser Verlag, die hier ist, alles getan. Im Großen und im Kleinen und bis zum letzten Buchstaben hat sie dieses Buch auf die Reihe gebracht. Anna Leube war, um Levi gemäß ein Bild aus der Chemie zu wählen, der Katalysator, der dies Buch hat entstehen lassen.

Von Primo Levi kann und mag man lernen. Es tut im Herzen weh, zu wissen, daß seine Klugheit, seine Weisheit und Menschlichkeit ihm selbst am Ende nichts genutzt haben.

Während er 1946 „Ist das ein Mensch?“ schrieb, fühlte Primo Levi sich ganz wohl. Als das Manuskript fertig war, trat ein, womit der junge Mann nicht gerechnet hatte: Italien interessierte sich nicht für seinen Text, war mit anderen Dingen beschäftigt. Der kleine italienische Verlag, der „Ist das ein Mensch?“ dann herausbrachte, verkaufte bis 1951 lediglich 1400 Exemplare. Was Primo Levi sich vorgenommen hatte, Zeugnis ablegen, scheiterte an der Ignoranz, dem Desinteresse, der Borniertheit des Publikums. Er nahm das zwar übel, überstand  die Anfechtung aber. Er war jung, die Jugend kennt die Verzweiflung in den verschiedensten Schattierungen; zur kalten, abgestandenen Hoffnungslosigkeit, die sich selbst langweilig wird, ist sie indes konstitutionell unfähig. Primo Levis elan vital rettete ihn. Im Rückblick auf die ersten Monate nach seiner Rückkehr in die Heimat sagte er: „Ich sprach mit allen, im Zug in der Straßenbahn, sowie es mir gelang, die Aufmerksamkeit von jemandem zu erlangen.“ Das tat ihm gut.

Er hatte es in dieser Hinsicht besser als Imre Kertész. Im „Roman eines Schicksallosen“ beschreibt Kertész, wie er nach seiner Rückkehr aus dem Lager in Budapest, auch in einer Straßenbahn, einem Journalisten begegnet. Der Mann sieht dem Knaben an, dass er aus einem deutschen Lager kommen müsse, er gibt sich Mühe, sucht nach den richtigen Worten. Greuel müsse Kertész wohl erlebt haben. Ob er nicht über seine Erlebnisse berichten wolle. Viel zu berichten gebe es da nicht, antwortet Kertész’ alter ego in dem Roman, worüber er denn berichten solle? „Na, über die Hölle“ antwortet der Mann. Kertész kann mit diesem Wort nichts anfangen. Das KZ, sagt er, das kenne er ein wenig, die Hölle aber nicht. Der Mann lässt nicht locker, er bemüht sich, er tut sein bestes, die richtigen Worte zu finden, er schreibt seine Adresse auf. Kertész stellt mit Anerkennung fest, dass der Mann sich Mühe gegeben, daß er nach den besten Worten gesucht hat. Während der Unterhaltung war ihm aber auch klargeworden: „über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren.“ Der Journalist ist dem jungen Kertész sympathisch, er ist guten Willens, er ist nett. Deshalb hat Kertész den Zettel mit der Adresse des Mannes nicht gleich weggeworfen; er schreibt: „Ich wartete noch, bis seine Gestalt im Strudel der Fußgänger verschwand, erst dann warf ich den Zettel weg.“

An dem „Roman eines Schicksallosen“ hat Imre Kertész dreizehn Jahre lang gearbeitet. Er kannte Primo Levis „Ist das ein Mensch“. Er kannte Jorge Semprúns Buch „Die große Reise“, das von den kommunistischen Idealen des Autors zeugte und Anfang der sechziger Jahre in Ungarn mit staatlichem Plazet bejubelt wurde. Kertész kam es vor, als könne sein eigenes Buch, an dem er seit Jahren arbeitete, nur überflüssig sein. Primo Levi hat es, sagen wir es plump, besser gehabt als Kertész, weil er sein erstes Buch gleich nach der Rückkehr aus Auschwitz geschrieben hat. Auch bei Levi kommt das Wort „Hölle“ nicht vor. Die Hölle tritt nur in einer Hinsicht auf: Einem Lagerkameraden versucht Levi, Zeilen aus Dantes Inferno aufzusagen. Diese Zeilen richtig zu rezitieren, ist Levi wichtig, ist ihm in dem Moment wichtiger als die Lagersuppe, die wässrige Lagerbrühe am Abend, auf die er wartet, von dem Moment an, wo er sie gegessen hat. An seine Fähigkeit, Dantes Verse richtig wiederzugeben, hängt er seine Menschwürde, sein Menschsein. Mit einem Körnchen Salz gesagt, liegt in Dantes Hölle in diesem Moment die Erlösung.  Und es versteht sich, daß das Wort „Hölle“ auf den Lageralltag nicht anwendbar ist.

Primo Levi hat oftmals gesagt, „Ist das ein Mensch?“ ohne Rücksicht auf stilistische Erwägungen geschrieben zu haben. Und da er es gesagt hat, müssen wir es ihm glauben. Merken tut der Leser das freilich nicht. Wir dürfen annehmen, dass Primo Levi ein Mann von großem Esprit war, schlichtweg und seiner Natur nach nicht in der Lage, lediglich eine Art Polizeiprotokoll zu verfassen. In einem ähneln seine Beobachtungen der gewaltigen Abstraktionsleistung, die Imre Kertész sich abverlangt hat: Auch Primo Levi hat das Lagerleben als „natürlich“, als die „Wirklichkeit“ beschrieben, die alle Insassen dazu drängte, keine andere Wirklichkeit mehr zu kennen. Im Maße, wie der Einzelne sich dieser Ordnung unterwarf, war er in Levis Augen nicht mehr Mensch.  Übrig blieben lediglich die Mechanismen aus dem früheren Leben – Handel und Wandel gab es in Auschwitz ebenso wie in Rom und in Turin. Mit anscheinend objektiver Neutralität beschreibt Levi Baisse und Hausse der jeweiligen Währungen – dazu zählten natürlich Brot und Tabak, aber auch Gutscheine für das Lagerbordell. Das kann man als makabren Humor auffassen. Wer Levis Buch so liest, muß sich allerdings fragen, ob nicht er selbst, der Leser, es ist, der bitteren Sarkasmus dort findet, wo Levi sich darauf beschränkte, aufzuschreiben, was Sache war.

Nehmen wir seine Schilderung der Deutschen. Auf die kommt es mir übrigens in dieser Rede besonders an. Levis Freund Alberto hat sich einen Trick ausgedacht. Dazu muß man wissen, dass alle Blockältesten Wert darauf legten, daß die Häftlinge ihres Blocks sich wuschen. Weil das Wasser eiskalt und die Männer schwach waren, taten manche das nicht. Um diese Säumigkeit zu unterbinden, bekamen alle, die naß aus den Duschen auftauchten, ein Zettelchen in die Hand gedrückt. Wer bei der Rückkehr in den Block kein solches Zettelchen vorweisen konnte, wurde geprügelt. Levis Freund Alberto schlägt aus dieser Usance Kapital, die für ihn relevante Währung heißt „Brot“. Aus der Fabrik, wo er arbeitet, entwendet Alberto blitzende Metallplättchen und bastelt daraus verschiedenfarbige Marken, die schöner und haltbarer sind als die verkrumpelten Zettelchen. Diese Marken finden bei den Blockältesten reißenden Absatz. Ich zitiere Primo Levi: „Alberto kennt die Deutschen, und alle Blockältesten sind Deutsche oder durch die deutsche Schule gegangen: sie lieben Ordnung, System, Bürokratie; und wenn sie auch schlagfreudige und jähzornige Rüpel sind, haben sie doch eine kindliche Freude an allen glitzernden und bunten Dingen.“ Schande über den, der denkt, daß Levi diese Zeilen ganz ohne Rücksicht auf ihren Unterhaltungswert geschrieben habe.

Primo Levi hat sein schriftstellerisches Talent im Hinblick auf „Ist das ein Mensch?“ unter den Scheffel gestellt, weil es ihm auf etwas ganz anderes ankam. Er wollte, das hat er oft gesagt, Zeugnis ablegen. Er wollte sein Teil beitragen zu dem großen Weltgericht, das die Deutschen ereilen sollte, die das KZ-System, je nachdem, toleriert, möglich gemacht und durchgeführt hatten. Dazu passende, pauschalisierende Formulierungen finden wir in „Ist das ein Mensch?“ immer wieder.

Da fährt zum Beispiel ein Kapo „mit geschlossener Faust und ausgestrecktem Zeigefinger“ durch die Luft, Levi nannte das „die typische Drohgebärde der Deutschen“ (damit hat er übrigens leider recht). Der Deutsche per se war für Primo Levi ein Dr. Pannwitz, der Mann, der ihn, den Auschwitz-Häftling, einer Prüfung in Chemie unterzog. Die Frage war für Pannwitz, ob Levi zur kriegswichtigen Herstellung von künstlichem Gummi etwas beitragen könne. Für Levi war die Frage, ob er die Prüfung bestehe und danach nicht mehr schwere Rohre oder Holzlatten durch Matsch oder Schnee schleppen müsse. Der Häftling Nr. 174 517 wird also vorgeladen. Levi berichtet: „Was wir alle über die Deutschen dachten und sagten, war in dem Augenblick unmittelbar zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: ,Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.’ Und in meinem Kopf gleich Kernen in einem hohlen Kürbis: ,Die blauen Augen und blonden Haare sind von Grund auf böse. Jede Verständigung ist ausgeschlossen.’ “

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Sein Auge ist blau“. Das hat der Dichter Celan geschrieben, und das wußte Primo Levi, bevor Celan es schrieb. Heutzutage dürfen Deutsche wieder blaue Augen haben, in früheren Jahrzehnten war das ein Makel. Wenn Primo Levi sagte, „Ist das ein Mensch?“ ohne Nachdenken geschrieben zu haben, so hängt dies auch damit zusammen, daß er das Buch mit großem Zorn schrieb. Die ungeheuerliche, überwältigende Qualität des Buches liegt darin, daß Levis Zorn umso größer war, als er nicht nur Rachsucht hegte, sondern vielmehr einfach nicht verstand: Wer waren die Deutschen? Wie konnte ein rundum zivilisiertes Volk all seine bürokratische Kraft und all seine technischen Kenntnisse dafür aufwenden, unschuldige Menschen zu hunderttausenden industriell zu vernichten?

Solange Levi zornig war, suchte er nach einer Antwort auf diese Frage. Solange er eine Antwort auf diese Frage suchte, fühlte er sich lebendig. Er hat geschrieben, daß es in Auschwitz niemanden gegeben habe, der an Erkältung oder Depressionen oder irgendeiner anderen Krankheit litt, die die Menschen unter zivilen Umständen heimsuchen. Der Lebenswille unterdrückte in Auschwitz alles, was der menschliche Organismus sich unter anderen Umständen sozusagen leisten darf. Unter normalen, zivilen Umständen sind zwei Dinge der Gesundheit besonders zuträglich: Verliebtheit und das, was Bertolt Brecht als „den langen Zorn“ bezeichnete. Mit so einem langen Zorn ist Primo Levi jahrzehntelang der Frage nachgestiegen, wer die Deutschen sind. In Wahrheit war sein Buch „Ist das ein Mensch?“ von Anfang an für deutsche Leser bestimmt. Bei denen kam es 1961 in der deutschen Übersetzung an. In seinem Buch „Die Untergegangen und die Geretteten“ schrieb Levi 1986: „ Die wirklichen Adressaten des Buchs waren sie, die Deutschen. Jetzt war die Waffe geladen.“ Das war so heftig nicht gemeint. Levi konnte nicht anders: Er, der Chemiker, der erklärtermaßen philosophisch nicht musikalisch war, er war unerbittlich nur in einem: Er wollte verstehen, was die Deutschen bewegt hatte.

Er wartete auf Leserbriefe aus Deutschland. Die allermeisten hat er beantwortet. Er neige von Natur nicht zu Haß, sagte er. „Ich bin kein Faschist’“, schrieb er, „ich glaube an Vernunft und Diskussion als oberste Instrumente des Fortschritts, und darum steht bei mir die die Gerechtigkeit vor dem Haß.“ Nur verstehen wollte er. Die Leserbriefe kamen. Hilfreich waren für ihn nur jene, die von Menschen seiner Generation geschrieben waren. Mit den Briefen der deutschen Kinder und Enkel, die ihre Altvorderen entweder verteidigten oder verständnisloses Entsetzen hilflos in Worte packten, konnte er nicht viel anfangen. Primo Levi wünschte sich, daß irgendwelche Deutsche sich zu seinem Buch äußern würden, die zu der Zeit erwachsen waren, als er das Morden und Sterben in Auschwitz mitansah. Ein paar deutsche Leser haben das getan. Viele von ihnen schrieben das übliche blabla, von wegen Hitler habe alle verführt, man habe ja nicht gewußt, wie schlimm… und so weiter. Andere schütteten mehr Asche auf ihr unschuldiges Haupt, als Primo Levi ertragen konnte. Eine Dame schickte ihm sogar ein paar echt-goldene Manschettenknöpfe. Das hatte er nicht gewollt, er suchte nicht nach Ablaßgeld, er wollte verstehen.

Die gemeine Paradoxie, der er ausgesetzt war, wurde vom Fluß der Zeit okroyiert. Denn: Erst die Nachgeborenen der zweiten und dritten  Generation der Deutschen hatten die geistige Freiheit, sich für die Taten ihrer Vorväter und Vormütter historisch verantwortlich zu fühlen. Aber das waren eben nicht mehr die Täter, jene, die zugesehen und mitgemacht hatten, die alles hatten geschehen lassen und mit ins Werk gesetzt hatten. Und entsprechend einfältig waren die Leserbriefe dieser jungen Deutschen. Sie sagten Levi nichts mehr, sie waren nicht anders als die Leserbriefe von jungen Italienern, die er erhielt. Als Primo Levi mit seinen Büchern Erfolg hatte, half dieser Erfolg ihm nicht mehr. Er fühlte sich längst schon einsam.

Eine Beobachtung ist mir übrigens wichtig, darauf möchte ich am Ende auch noch zu sprechen kommen: Heutzutage ist vielfach davon die Rede, daß die deutschen Vertriebenen ein schweres Schicksal hatten. Ja, das war so. Aber die Völker, die von Nazi-Deutschland besetzt waren, hatten auch ein schweres Schicksal. Heutzutage, wo man über den Gräbern Völkerverständigung feiert, steht die Ansicht hoch im Kurs,  die da lautet – ich zitiere einen Pop-Song – „das Böse ist immer und überall“. Damit wird alles Unrecht nivelliert: Den Juden ging es schlecht, den Polen, den Tschechen den Bürgern der Sowjetunion und vielen anderen – und eben auch den Deutschen. Derartige Geschichtsschreibung wird heutzutage gefeiert, weil man sich einbildet, damit etwas für die Völkerverständigung zu tun. Viele bilden sich außerdem ein, damit etwas für den  Zusammenhalt der Europäischen Union zu tun: Am Ende, so die Devise, waren wir alle Opfer. Also gehören wir heute alle zusammen…

Was die deutschen Vertriebenen und die Verbrechen angeht, die Deutsche im Osten verübten, was die Frage angeht, was diese Opfer gemeinsam haben:  Den besten Kommentar dazu hat Primo Levi einem Leserbrief entnommen: Eine aus ihrer Heimat im Osten vertriebene Deutsche schrieb ihm: „Als wir auf die Flucht gingen, haben wir so Entsetzliches erlebt; und das Schlimmste war, daß wir die Straße entlang mußten, auf der vor uns die Häftlinge von Auschwitz evakuiert worden waren – diese Straße war gesäumt mit Toten; ich möchte alle diese Bilder vergessen und kann es nicht; ich träume noch immer von dieser Straße und von diesen Gestalten am Wegesrand.“ Besser und vor allem kürzer, bei allem heute modischen Streben nach gefühlvoller Geschichtsschreibung, kann man kaum darstellen, wie die Vertreibung der Deutschen und der Vernichtungskrieg im Osten zusammenhängen.

Primo Levi hat sein Leben lang darauf gepocht, daß er rational sei. Er hoffte auf Vernunft und Einsicht. Er glaubte, daß man selbst für das Unerklärbare, für das Unbeschreibliche, für die „Hölle“ Worte finden könne. Von dieser Hoffnung zeugen seine Bücher. Und nebenbei, aber das war ihm gar nicht so wichtig, war Primo Levi ein ganz großer Schriftsteller. Daneben hatte er auch eine andere Seite: Journalisten hat er anvertraut, daß er Chemie studiert habe, weil er Romantiker gewesen sei. Er wollte buchstäblich wissen, was die Welt im Inneren zusammenhält. Er hat auch gesagt, daß seine irrationale Seite  ihm selbst unerklärlich sei, daß sie ihn gelegentlich einfach überkomme. Hätte es diese irrationale Seite nicht gegeben, wäre Levi vermutlich kein großer Schriftsteller gewesen. Ich erlaube mir aber zu sagen: Sein Wunsch, seine Leser zu unterhalten, gehörte zu seiner rationalen Seite.  Erst als er keinen Sinn in der Kommunikation mehr sah, als alles gesagt war, gewann – möglicherweise – seine irrationale Seite die Oberhand. Warum er eines Tage beim Blick in das ihm vertraute Treppenhaus seiner Wohnung in Turin beschloß, sich über das Geländer in die Tiefe zu werfen, an vielen Stockwerken vorbei: es ist nicht an uns, diese Entscheidung exakt zu erklären. Nur eines will ich dazu sagen, ich berufe mich auf Volkhard Knigge, den erfahrenen Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. Der Umgang mit früheren Häftlingen des KZ Buchenwald hat Knigge gelehrt: Die meisten Menschen, die ein Konzentrationslager überlebt haben, wollten fortan Herren ihres Schicksals sein. Sie  wollten stärker sein als der Tod, dem sie in Konzentrationslager entkommen waren. Entweder wollen sie ewig leben, oder sie wollen dem Tod zuvorkommen.

Von Primo Levi bleibt: grandiose Literatur, die uns über die Natur des Menschen und über Menschlichkeit sagt, was wir wissen müssen, um selbst, wenn wir wollen, etwas bessere Menschen zu sein, als wir sind. Der Hanser Verlag und Anna Leube haben Primo Levis Werk so fabelhaft ediert, daß es ein „Vademecum“ ist, ein Buch, das als Begleiter gut ist, für jeden – auch für Sie.


Am 10. November 2011 wurde  der Carl Hanser Verlag mit dem Marion-Samuel-Preis ausgezeichnet. Rede zum Festakt in Augsburg.

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