Die nie ganz souveräne Republik

Der Historiker Josef Foschepoth zeigt, wie Kanzler Adenauer half, Deutschland zu einem Überwachungsstaat zu machen.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat sich eine gewisse Selbstzufriedenheit breitgemacht. Während die DDR zum „Unrechtsstaat“ wurde, strahlt die alte Bundesrepublik im milden Schein der Verklärung. Jetzt hat der Freiburger Historiker Josef Foschepoth den Deutschen ein Licht aufgesetzt: „Es war nicht alles so glatt, so rechtsstaatlich, so demokratisch, so glücklich und erfolgreich, wie manche Darstellung zur Geschichte der Bundesrepublik suggeriert.“ Foschepoth zeigt, dass die alte Bundesrepublik zeit ihres Bestehens ein veritabler Überwachungsstaat war, dass das Grundgesetz missachtet und der Rechtsstaat unterwandert wurde – und dieses nicht von Kommunisten, sondern auf Betreiben Konrad Adenauers.

Vor einigen Jahren stieß Foschepoth, ein Experte der deutsch-deutschen Geschichte, zufällig auf eine Akte über Postzensur. Die war seltsam unvollständig. Von einem Aktenzeichen wühlte er sich zum nächsten und kam so darauf, dass etliche Dokumente als geheime Verschlusssachen geführt wurden. Daraufhin wandte er sich an den Historikerverband; sekundiert von der Presse, zettelte man eine Kampagne für die Freigabe der Akten an. Der 2009 amtierende Innenminister Wolfgang Schäuble war das Gerangel bald leid, zeigte sich als echter Demokrat und regte im Bundeskabinett an, die Verschlusssachen sukzessive freizugeben. Der Bestand dieser Dokumente allein im Bundesinnenministerium wurde auf 1,5 Millionen geschätzt. Foschepoth erhielt eine Sondergenehmigung und durfte, nachdem er sich vom Verfassungsschutz hatte durchleuchten lassen, Einblicke in viele Arkana deutscher Behörden nehmen. Im Gespräch mit der SZ sagte er, nicht alle Bediensteten dürften gewusst haben, wie brisant das Material war, das er zu sehen bekam.

1955 traten in der Bundesrepublik die Pariser Verträge in Kraft, die den Besatzungsstatus beendeten. Adenauer verkündete, nun seien die Westdeutschen „Freie unter Freien“. Insgeheim wusste er es besser. Die Westmächte hatten sich allerlei Vorbehaltsrechte ausbedungen, um Westdeutschland auch weiterhin kontrollieren zu können. Im Besonderen forderten die Drei Mächte nun im Namen der „Sicherheit der alliierten Truppen“ in Deutschland „Maßnahmen im Fall eines inneren und äußeren Notstands und zur strategischen Überwachung des Post- und Telefonverkehrs“. Dieses sollte gelten, bis die Westdeutschen ein eigenes Überwachungsgesetz verabschieden würden.

So ein Gesetz wäre höchst unpopulär gewesen, schreibt Foschepoth. Vollends lästig aber war: Dazu musste der 10. Artikel des Grundgesetzes geändert werden, der mit den Worten anhebt: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.“ Der Eingriff ins Grundgesetz wäre nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag zu machen gewesen, wozu die SPD sich in den 50er-Jahren nicht bereit erklärt hätte. Weil Adenauer einen politischen Erfolg brauchte und die Pariser Verträge also unbedingt abschließen wollte, ersann er, was Foschepoth einen „Trick“ nennt: Zusammen mit den Westmächten setzte der Kanzler einen Brief an sich selbst auf, in dem von ihm gefordert wurde, die nötige Überwachung zu gewährleisten. Damit hatte Adenauer eine aus seiner Sicht optimale Lösung gefunden: Die Alliierten waren zufrieden, und der Brief blieb als Annex zu den Pariser Verträgen geheim; nur wenige Politiker und Beamte wussten davon.

Dass Adenauer, wie Foschepoth schreibt, einen „schweren Verfassungsbruch“ beging, indem er Artikel 10 des Grundgesetzes aushebelte, kümmerte ihn nicht. Er war damals schließlich nicht der Einzige, der die Auffassung vertrat, der Schutz des Staates sei wichtiger als der Schutz des Bürgers und seiner Grundrechte. Was schützenswert sein soll an einem Staat, der Grundrechte seiner Bürger missachtet: Diese Frage wurde in jener Phase des Kalten Kriegs selten gestellt. Es galt schließlich, den Kommunismus zu bekämpfen.

Von 1955 bis 1968 sah die Arbeitsteilung so aus: Die den Alliierten in den Pariser Verträgen versteckt eingeräumten Rechte legitimierten die individuelle sowie strategisch-allgemeine Überwachung des westdeutschen Post- und Fernmeldewesens. Bundesdeutsche Behörden – die Post, der Zoll, Staatsanwaltschaften und Gerichte – setzten sie um. Das Abhören des Fernmeldeverkehrs oblag dem BND, dem MAD und den Verfassungsschutzämtern, die sich auch in den Postverkehr einmischten. Die Alliierten hatten zum Abhören zudem ihre eigenen Einrichtungen: Die allgemein-strategische Überwachung wurde bis 1968 vornehmlich von ihnen ausgeführt.

Die Westmächte fischten gleichsam mit einem Riesennetz in großen Datenmengen auf der Suche nach Detailinformation. Die Bundesregierung hingegen hatte es mit patriarchalischer Fürsorge darauf abgesehen, das Land gegen Propagandamaterial aus dem Osten abzuschotten. Wissenschaftler wunderten sich also, dass abonnierte Zeitschriften aus dem Osten nicht ankamen; Bundestagsabgeordnete vermissten Post; private Grüße erreichten ihre Empfänger nicht. Dabei handelte es sich auch um Sendungen, die in Westdeutschland aufgegeben worden waren. Nichts daran war rechtens. An sich hätten Richter darüber befinden müssen, ob ein Brief geöffnet werden dürfe – sie bekamen die Sendungen aber schon geöffnet zum Absegnen vorgelegt. Wenn ein Richter sich weigerte, was selten vorkam, dann geschah nichts weiter: Allen war daran gelegen, dass das Treiben nicht publik werde.

Den Postministern war nicht wohl bei den Aktivitäten, die ihre Beamten ausführen mussten. Die Postler standen am Anfang der Kette der Unrechtmäßigkeiten: Sie mussten die Postsäcke auf staatsfeindliches Material hin durchforschen. In Anbetracht des Postaufkommens war da Hellsehertum gefragt. Laut den Foschepoth zugänglichen Akten wurden zwischen 1951 und 1972 rund 90 Millionen Postsendungen aus dem Verkehr gezogen und größtenteils vernichtet. Adenauer forderte von Innenminister Gerhard Schröder mehrfach, er möge endlich ein Überwachungsgesetz vorlegen. Doch dieser hatte keine Lust, für den Kanzler die Kastanien aus dem Feuer zu holen, indem er sich bei der Bevölkerung gründlich unbeliebt machte.

In den 60er-Jahren zeigte sich, dass dieser Zustand nicht ewig andauern konnte. 1963, ein Jahr nach der „Spiegel-Affäre“, gab es die „Abhöraffäre“. Die Zeiten hatten sich gewandelt: Ein Beamter des Verfassungsschutzes packte aus, weil er das widerrechtliche Ausforschen der Bundesbürger mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte. Auch die SPD hatte sich gewandelt, sie wollte als „regierungsfähig“ gelten. Also geschah nun, was einige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre: Mit den Stimmen der SPD wurde 1968 das G-10-Gesetz verabschiedet: ein Überwachungsgesetz zur präventiven Abwehr von Gefahren. Sofern der Verfassungsschutz oder der BND behaupteten, es liege ein „Anhaltspunkt“ für eine Gefahr vor, durften die Bürger ausspioniert werden. Die Rechte der Westmächte blieben trotzdem bestehen. Das G-10-Gesetz diente lediglich zur formalen Legalisierung der rechtsstaatswidrigen Praktiken. Auch hier wurde, mit Foschepoth gesagt, „ein Trick“ angewendet: Um die Bürger nicht kopfscheu zu machen, packte man das G-10-Gesetz in die Notstandsgesetzgebung. Über letztere wurde in der Öffentlichkeit heiß diskutiert, als die Notstandsgesetze verabschiedet wurden, ist das G-10-Gesetz mit durchgesegelt.

Die Bundeskanzler – nicht nur Adenauer, auch Brandt, Schmidt und Kohl – mochten nicht zugeben, dass bundesdeutsche Überwachungsbehörden verpflichtet waren, ihre Erkenntnisse mit den Alliierten zu teilen. Stattdessen wurde offiziell immer wieder aufs Neue die „Souveränität“ der Bundesrepublik gefeiert.

„Bei der Deutung des SED-Staates“, schließt Foschepoth, „ist das System der Überwachung gleichsam zum Synonym der DDR geworden.“ Dass auch die Bundesbürger bis 1989 von ihrem Staat systematisch bespitzelt wurden, wird übersehen.

Und wie steht es heute? In den Unterlagen zum 2+4-Vertrag von 1990 hat Josef Foschepoth keine Hinweise darauf gefunden, dass die Überwachungsrechte der Alliierten gelöscht worden seien. Im Gegenteil: Der Verzicht auf Souveränität, den Adenauer begann und der 1968 mit dem G-10-Gesetz fortgesetzt wurde, ist in einem geheimen Dokument festgeschrieben, das Foschepoth einsehen konnte: Die Rechte der Allliierten, die Deutschen auszuforschen, sind durch das 1959 abgeschlossene Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut verbürgt, das immer noch in Kraft ist. Bis heute ist die Bundesrepublik nicht ganz souverän. So kann etwa die National Security Agency der USA frei schalten und walten. Der Unterschied zu früher besteht laut Foschepoth darin, dass sie heutzutage Satelliten zur Überwachung einsetzt.

Foschepoth plädiert dafür, die Geschichte der alten Bundesrepublik nicht als abgeschlossene Erfolgsgeschichte zu sehen. Leider, sagte er der SZ, sei der offene Umgang mit geheimen Verschlusssachen, den Schäuble einleitete, nun schon wieder beschränkt: Bundesinnenminister Friedrich fürchte vielleicht, dass Angela Merkel etwas dagegen haben könne, wenn ein Schatten auf Adenauers Andenken fällt.

Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012. 377 Seiten, 34,99 Euro.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 13.11.2012 – Seite 15
DAS POLITISCHE BUCH
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