Mein Vater, der tote Löwe – Verabschiedung von Karl Rudolf Augstein

Am 25. November 2002 wurde mein Vater, Rudolf Augstein, der am 7. November verstorben war, in der Hamburger Hauptkirche Sankt Michaelis mit einem Staatsakt geehrt. Kein Angehöriger stand auf der Rednerliste. Mein Vater, so fand ich, sollte nun aber nicht nur von Fremden verabschiedet werden. Als einziger der Repräsentanten von Staat und Hansestadt war der damalige Bundespräsident Johannes Rau vorab informiert und um sein Plazet gebeten worden.


VON FRANZISKA AUGSTEIN

Der „Spiegel“ Nummer 46 vom 11. November ist eine Glanznummer geworden, ein würdiges Denkmal für den Herausgeber, eine Zierde für das Haus. Ein Detail jedoch gibt es auf diesen 170 Seiten, die Rudolf Augstein gewidmet sind, das bedarf der Korrektur. Er hieß mit Vornamen nicht Rudolf Karl, wie dort zu lesen ist, sondern Karl Rudolf. Ich erwähne das nicht, weil es von größter Wichtigkeit wäre, sondern weil mein Vater es auch erwähnt hätte, Ordnung möcht‘ schon sein.

Rudolf Augstein war „Der Spiegel“. Und auf den Mann, der den „Spiegel“ gemacht hat, kann man stolz sein. Aber diese feierliche Zusammenkunft, die der Stadt Hamburg zu danken ist, soll ja nicht nur der Trauer über den Verlust des „Spiegel“-Verlegers Ausdruck geben, es geht um einen Ehrenbürger der Hansestadt, um einen Hamburger Bürger. Und manche von Hamburgs Bürgern sind eben Väter.

Dieser Vater, der Ihnen jetzt bitte vier Minuten wert sein möge, war ein durchaus unkonventioneller Hanseat. So hat er nicht selten im Morgenmantel empfangen: Von einer Episode hat er mir erzählt. Sie ist dem einen oder anderen unter Ihnen vielleicht bekannt. Trotzdem möchte ich sie anführen, weil sie so typisch für ihn ist. Da hatten einige Direktoren einer deutschen Großbank sich angekündigt. Sie wollten über das verschollene Bernsteinzimmer sprechen. Der Champagner war kühl gestellt, Kaviar desgleichen. Aber Rudolf Augstein mochte nicht, er sah nicht ein, wozu eine derartige Unterhaltung gut sein sollte. Kurz vor Eintreffen der Herren rief eine aufgelöste Wirtschafterin im Herausgeberbüro an: Herr Augstein sei nicht dazu zu bewegen, sich anzuziehen. Die Büroleiterin wurde an den Krisenort entsandt, doch auch sie konnte nichts ausrichten. Fürs Bernsteinzimmer den Morgenmantel ablegen? Nein! Wie sich zeigte, ging es dann auch so. Die Herren von der Bank waren zu Gast, der Kaviar wurde gegessen, der Champagner wurde getrunken, und mein Vater hatte erreicht, was ihn an jenem Tag vor allem interessierte: Er blieb im Morgenmantel.

Dieses legere Verhältnis zur Etikette kam nicht von ungefähr. Im Krieg hatte Rudolf Augstein erfahren, wie schnell aus einem Aufschneider im schönen Kleid ein toter Mann wird. Als Soldat in Russland hat er auch erlebt, wie wenig Rücksicht das Schicksal darauf nahm, ob einer ein guter Mensch war. Jener Major, der den Funker Augstein mit einer Lüge am Telefon vor dem Kriegsgericht rettete, lag eine Stunde später tot auf einer Bahre.

Dass ein militärischer Rock ehrenvoller sein sollte als ein Bademantel, hat meinem Vater nie eingeleuchtet. Er wusste und hat es oft gesagt, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Er wusste: Den toten Löwen zupfen auch die Hasen an der Mähne. Wenn es um andere ging, war ihm das nicht egal. Wenn es um andere ging, hat er auch Wert darauf gelegt, dass ihre Namen richtig genannt und richtig geschrieben wurden. Für sich selbst fand er all das nicht so bedeutsam.

Mit dem Nachruhm und der Ewigkeit hat Rudolf Augstein nie geflirtet. Sein Interesse galt dem Leben. Solange er noch sehen konnte, hat er die Mitarbeiter des Spiegel-Verlages stets als Erster gegrüßt. Chefredakteure und Ressortleiter: vielleicht nicht immer. Fahrer und Boten: auf jeden Fall. Er nahm sich selbst nicht so wichtig, und er hatte Achtung vor allen Leuten, die sich selbst auch nicht so wichtig nehmen.

Mein Vater war nicht eitel genug für ein Leben, in dem man kleine Ehren sammelt. Und seine Maßstäbe, über die er keine Worte verlor, waren allemal größer als selbst die großen Ehren, die ihm zuteil wurden.

Manche nennen ihn einen Zyniker. Tatsächlich war mein Vater ein Realist. Aber sein Realismus war von einer Konsequenz, die zu tragen nicht jeder bereit ist – wohl deshalb, weil es weh tut, die Welt so zu sehen, wie sie ist.

Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich das Programm dieses Tages etwas durcheinander gebracht habe. Ich glaube aber, dass ich das dem toten Löwen, meinem Vater, schuldig bin.


„Mein Vater, der tote Löwe“, „Financial Times Deutschland“, 26. 11. 2002