Glaube, Hoffnung, Gewalt

Wenn die Menschenrechte Kriegsgrund sind.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Früher war es die Verbreitung von Christentum und Zivilisation, in deren Namen die starken Staaten des Abendlandes andere Völker zu unterjochen trachteten. Dann wurde kurzzeitig der Kampf gegen den Kommunismus und für die Freiheit das gängige Credo. Seit den neunziger Jahren hat der Westen wieder andere Ziele gefunden: Demokratie und Menschenrechte. Einiges von dem, was im Namen dieses Glaubens unternommen wird, ist aber nicht weniger verblendet als frühere Versuche der Menschheitsbeglückung.

Die Europäer haben Jahrhunderte gebraucht, um die Lektion halbwegs zu lernen: Dass Sendungsbewusstsein Politik nicht besser macht. Die Vereinigten Staaten sind noch dabei. Wie mag es aber kommen, dass stets die mächtigsten Staaten es sind, die ihre eigenen Ideale am erfolgreichsten verraten? Die Antwort ist einfach. Tony Blair hat sie gegeben. Bekanntlich hat sich der britische Premierminister im Irakkrieg der amerikanischen Argumentation angeschlossen, die unter anderem lautete, man müsse Saddams Unrechtsregime beseitigen und den Irakern die Demokratie bringen. Im kleinen Kreis hat Blair – wie in der London Review of Books zu lesen war – noch einen anderen Grund dafür genannt, warum man in den Irak einmarschiert sei: „weil wir es tun konnten“.

Dieses etwas „tun können“ in Verbindung mit politischen Eigeninteressen und der Vorstellung, moralisch gerechtfertigt zu sein, hat jetzt dazu geführt, was alle, die sich nicht so potent wähnen wie Bush und Blair, vorhergesagt haben: Durch den Einmarsch in den Irak ist die gesamte Region noch viel mehr destabilisiert, als sie es zuvor schon war. Es gibt militärische Interventionen, die finden mit Zustimmung der Bewohner des betroffenen Landes statt, so etwa, als die Briten im Mai 2000 Elitetruppen nach Sierra Leone entsandten, wo die Bevölkerung von Gegnern der Regierung grausam drangsaliert wurde. Jene Operationen, bei denen das nicht der Fall ist und die deshalb Krieg genannt werden, haben in den vergangenen Jahren – bei allen Unterschieden – im Kern stets zu denselben Ergebnissen geführt.

Dreimal Faustrecht

Das sind die Kriege im Kosovo, in Afghanistan und jetzt im Irak. Alle drei wurden unter anderem damit begründet, man wolle den Menschen, die dort leben, helfen. Alle drei zielten darauf ab, den oder die Machthaber abzusetzen, was auch in allen drei Fällen gelang. Alle drei hinterließen Länder, in denen es kein Gewaltmonopol und so gut wie keine staatlichen Strukturen mehr gibt. In allen dreien, im Kosovo, in Afghanistan und im Irak herrscht seitdem das Faustrecht. Die Anwesenheit von Tausenden Soldaten ändert nichts daran, dass jenseits ihrer kleinen Einflussbereiche die Bevölkerung nicht sicher ist. Die nach jedem dieser Kriege großspurig gemachten Versprechungen, die internationale Gemeinschaft werde die Wirtschaft auf die Beine bringen, sind in allen drei Fällen nicht einmal ansatzweise wahrgemacht worden. Irak, Afghanistan und das Kosovo sind Brutstätten von Terror und Verbrechen, und nichts weist darauf hin, dass sich das bald ändern werde.

Wer daran etwas zu kritisieren findet, wird damit beschieden, dass es den Menschen in diesen Ländern trotz allem besser gehe als vorher – womit die Bombardierungen doch nachträglich auf jeden Fall gerechtfertigt seien. Dass diese Behauptung nicht überprüft wird und auch nicht nachprüfbar ist, liegt auf der Hand. So kommt es, umgekehrt, dazu, dass die Aussage eines einzigen Menschen Schlagzeilen macht: „Mir geht es jetzt schlechter“, hat ein Bagdader Lehrer gesagt. Dieser Satz wurde eine Überschrift auf der Aufschlagseite des Herald Tribune.
Das Kosovo: Wieviele Albaner durch die Politik Milosevics zur Flucht gezwungen wurden, ist nicht ganz klar. Tatsache ist, dass die Flüchtlingszüge nach Beginn des Nato-Bombardements erst recht anschwollen. Dass im Kosovo bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, dass die Serben nicht nur Täter und die Albaner nicht nur Opfer waren, hat sich seit dem Krieg bestätigt: Mittlerweile sind mehr als 200 000 Serben sowie bis zu 30 000 Montenegriner und Roma aus dem Kosovo geflüchtet. Und wie die jüngsten Ausschreitungen zeigten, ist das den albanischen Milizionären, die nie entwaffnet wurden, noch nicht genug. Angesichts der unüberbrückbaren Zwietracht hat die Nato sich davor gedrückt, über die staatliche Zukunft des Kosovo zu entscheiden. „Standard vor Status“ war die Devise, womit gemeint war, es sollten zunächst bessere Lebensbedingungen in der Provinz geschaffen werden. Angesichts einer Arbeitslosenquote von etwa siebzig Prozent kann davon keine Rede sein. Im Kosovo florieren einzig der Drogenhandel, die Zwangsprostitution und andere Aktivitäten der organisierten Kriminalität. Karl Lamers, der ehemalige außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, wundert sich nicht darüber. Es genüge eben nicht, einen Krieg zu gewinnen: „Man muss wissen, wie man den Frieden gewinnt.“ Im Kosovo habe man davon genausowenig eine Vorstellung gehabt wie in Afghanistan oder dem Irak.

Afghanistan: Das Machtvakuum, das nach der Zerschlagung der Taliban entstand, haben andere sich zunutze gemacht. Die Wirtschaft des Landes bezeichnet Boris Wilke von der Stiftung Wissenschaft und Politik als „Gewaltökonomie“: Da müsse sich jeder einklinken, der in Afghanistan mitreden wolle. Karl Lamers spricht ähnlich: Die USA „hätten die lokalen Kräfte stärker an sich binden müssen“ – das ist sein Wort für „kaufen“. Warum auch nicht?, sagt er. Schon in der Bibel stehe geschrieben: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.“
Die Lage der Menschenrechte in Afghanistan ist so beschaffen, dass Boris Wilke davon eigentlich gar nicht reden will: Wo es keine Zentralgewalt gebe und kein Machtmonopol, könne man gegen die Interessen der lokal Herrschenden die Menschenrechte nicht durchsetzen. Was derzeit in Afghanistan geplant werde, ob es sich um die Anberaumung von Wahlen handle oder um die Verbesserung der Lage der Frauen, geschehe „nicht genügend aus der Logik des Landes heraus“. Folglich sei es „zu früh, das Thema Menschenrechte in den Vordergrund zu stellen“. Für Fachleute wie Wilke ist das eine Binsenweisheit. Aber als der Krieg gewonnen war, wurde der westlichen Welt erzählt, die Frauen des Landes würden nun glücklich ihre Burkas abwerfen. Soll man glauben, dass die Regierungen, die sich für den Afghanistankrieg stark machten, nicht damit gerechnet hätten, wie es anschließend dort zugehen werde?

Genau das ist der Fall. Der Krieg im Irak zeigt es wieder. Wie das Land nach Saddams Sturz zu einem demokratischen und möglichst nicht islamistischen Staat gemacht werden solle, war der Bush-Regierung herzlich egal. Die Kurzsichtigkeit rächt sich. Wenn der Krieg eins gezeigt hat, dann dieses: Demokratie und Menschenrechte spielen derzeit keine gute Rolle. Dreimal hat diese allerfreundlichste Legitimation dazu gedient, den westlichen Wählern militärische Interventionen schmackhaft zu machen, deren Folgen nicht durchdacht waren und die sich deshalb hernach als rücksichtsloses Hasard herausgestellt haben. Karl Lamers sagt: „Man muss mit dem Umstand leben, dass man nicht alles machen kann. Auch wenn einem das Herz im Leibe bricht, wenn man sieht, wie Menschen geschunden werden. Man muss sich fragen: Kann man es besser machen?“
Natürlich, hat der Bagdader Lehrer gesagt, habe Saddams Regime die Iraker unterdrückt: „Aber bei dieser Unterdrückung wusste man wenigstens, woran man war.“


 

Aus: Süddeutsche Zeitung vom 17.04.2004 – Seite 13
FEUILLETON
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