Eine Kolumne von Franziska Augstein
Als Wladimir Putin antrat, bemühte er sich um ein gutes Verhältnis mit dem Westen. Man hat ihn am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Nun folgt die Quittung.
Nicht bloß die griechische Philosophie, auch die Philosophen haben mächtig Eindruck hinterlassen. Etwas weniger als 500 Jahre vor der Zeitenwende, als die Götter noch lebendig waren, wurde dem Anaxagoras eines Tages die Botschaft überbracht: Dein Sohn ist gestorben. Der weise Anaxagoras soll darauf lapidar gesagt haben: »Dass mein Sohn sterblich ist, wusste ich längst.«
Diese Anekdote beschreibt recht gut die Haltung des Westens gegenüber Wladimir Putin. Nicht bloß wurde der Regierungskritiker Alexej Nawalny eingesperrt, auch seine Anhänger werden verfolgt. Putin hat es arrangiert, dass er auch für eine nächste oder gar übernächste Amtszeit gewählt werden kann. Viele Kommentatoren ziehen den Schluss, jetzt zeige Putin sein wahres Gesicht: Dass in ihm ein Autokrat und Diktator stecke, wussten sie längst.
Hinter diesem Urteil steht die Annahme, Putin sei immer gleich gewesen, immer er selbst, unbeeindruckt von äußeren Geschehnissen. Westliche Politiker und Regierungen hingegen betrachten sich als wohlmeinende, konziliante, diplomatisch bewegliche Partner, die auf immer neue Aggressionen vonseiten Russlands, vorneweg die Annexion der Krim 2014, lediglich reagieren mussten und müssen – mit Wirtschaftssanktionen und mehr Bewaffnung an den Grenzen zu Russland. So kann man das sehen, zumal wenn man gleichzeitig auf die Menschenrechte pocht.
Unter Putin geht es übersichtlich korrupt zu
Westliche Staatsführungen berufen sich auf die Menschenrechte. Das wäre glaubwürdiger, wenn da auch Staaten eingeschlossen würden – Saudi-Arabien zum Beispiel –, die üblicherweise foltern und Hinrichtungen für normal halten. Das nimmt der Westen hin, Saudi-Arabien ist »unser« Freund. Was Russland angeht, liegt die Vermutung nahe, dass der Kalte Krieg in den Geistern fortwährt. Was Putin selbst angeht, sollte man näher hinschauen.
Der Mann ist westlich sozialisiert. Er spricht Deutsch. Der miserable russische Präsident Boris Jelzin hatte eine gute Idee, als er Putin zu seinem Nachfolger ernannte. Weil Jelzin die russische Wirtschaft nach neoliberalen Prinzipien aufzog, hielt der Westen ihn für einen prima Partner, was damit der russischen Wirtschaft angetan wurde, war nicht von Belang. Putin, das mag angemerkt sein, hat sich nicht an die Macht geputscht; und er hat dann den Schrotthaufen von Land, den Jelzin hinterließ, halbwegs aufzuräumen versucht. Unter Jelzin war alles in Russland durch und durch korrupt. Unter Putin geht es übersichtlich korrupt zu, für die Bürger berechenbar. Dergleichen Zustände in Deutschland: undenkbar. In dem Riesenland Russland freilich war es ein großes Unterfangen, es so weit zu bringen. Deshalb findet Putin bei Wahlen echte Zustimmung, weniger bei der gebildeten Elite, wohl aber bei Leuten Hunderte Kilometer von Moskau entfernt.
2001 hielt Putin eine Rede vor dem Deutschen Bundestag, etliche Sätze sagte er auf Deutsch. Er schlug vor, es möge eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon eingerichtet werden. Auch einen Beitritt Russlands zur Nato schlug er vor. Die Parlamentarier standen auf und applaudierten. Passiert ist seitdem aber weniger als kaum etwas. Der Westen hatte etwas gegen Russland. 2007 versuchte Putin es erneut. Das war anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz. Putin warnte, er beschwor die Zuhörer: Die Fortführung westlicher Politik gegen Russland, auch vom Uno-Sicherheitsrat ungedeckte Interventionen wie 1999 im Kosovo, würde dem Verhältnis zwischen dem Westen und Russland ungemein schaden. Er bat, er plädierte: Wir, Russland, wir möchten mit euch kooperieren. Frank-Walter Steinmeier, damals deutscher Außenminister, ging in seiner Rede auf Putins Avance nicht nennenswert ein. In jenen Jahren sagte ein offizieller Mensch vom Kreml einem Journalisten: »Wir können machen, was wir wollen. Ihr mögt uns nicht.«
Im Kreml fühlte man sich hintergangen
Als 2011 in Libyen ein Bürgerkrieg ausbrach, gab Russland im Uno-Sicherheitsrat seine Zustimmung dazu, eine Flugverbotszone einzurichten, um Bombardierungen einzudämmen und Zivilisten zu schützen. Das nutzten Frankreich und Großbritannien, die USA folgten, um den Alleinherrscher Muammar al-Gaddafi zu stürzen. Seither befindet Libyen sich immer noch im Bürgerkrieg. Von Staatlichkeit in dem Land kann keine Rede mehr sein. Im Kreml fühlte man sich hintergangen und man hat Konsequenzen gezogen, bis hin zur Syrienpolitik.
In Russland denkt man auch an die im Namen der Demokratie erfolgten sinnlosen Kriege in Afghanistan und dem Irak. Der jahrelange Einsatz der Nato in Afghanistan hat wenig gebracht. Der Irak wurde mit dem Sturz des Diktators Saddam Hussein unregierbar gemacht, die meisten Bürger würden wohl sagen, unter dem Diktator sei es ihnen besser gegangen als heute (unter Saddam gab es zuverlässig Elektrizität, dies bloß als Beispiel). Man erinnert sich im Kreml auch an den völkerrechtswidrigen Einsatz der Nato im Kosovo 1999. Man wundert sich im Kreml, warum der Westen etwas dagegen hat, wenn Russland terroristische Islamisten in Tschetschenien bekämpft.
Eine Russland-Freundin bin ich, Autorin dieses Artikels, nicht. Ich konstatiere bloß, was ist. Neulich hat der Osteuropa-Experte Wilfried Jilge geschrieben: Russland nähere sich mit seinen Streitkräften und Militärübungen bedenklich nahe an die Grenzen der Nato an. Das kann nur als Scherz gemeint gewesen sein. Umgekehrt ist es richtig: Die Nato hat mit der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten ihre Grenzen immer weiter gen Russland verschoben. Putin hat nicht die Absicht, Länder des Baltikums, Polen oder die Ukraine zu überfallen. Das hat er gesagt. Aber weil man im Westen erkannt zu haben meint, dass er ein imperialistisch gestimmter Diktator sei, wird seinen Reden kein Glauben geschenkt. Was Putin und seine Berater planen, wir wissen es nicht, es ist reine Kaffeesatzleserei. Tatsächlich hat Russland in den vergangenen Jahren und bis heute immer wieder Avancen gegenüber dem Westen gemacht, hat sich angeboten. Mangels Reaktion hat Putin sich bemüht, andernorts Kontakte zu knüpfen, mit China. Weil China im Westen als viel größere Bedrohung wahrgenommen wird als Russland, schlägt auch das negativ auf Putins Konto.
Die Gegebenheit, die mit dem eingangs erwähnten Satz des Anaxagoras beschrieben ist: Sie gilt weniger für Russland als für die Einstellung des Westens. Russland wird als potenzieller Feind angesehen. »Dass mein Sohn sterblich ist, wusste ich längst.« Längst weiß der Westen auch, dass Russland schwach ist, in Wahrheit keine Gefahr – und doch soll die Nato noch mehr aufrüsten. Das ergibt eine schlechte Kombination: Einerseits wird Russland mitgeteilt, mit dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama gesagt, dass es bloß eine »Regionalmacht« sei. Gleichzeitig aber wird es als »aggressiv« gebrandmarkt. Das verstehe, wer will.
Spiegel.de, 19.06.2021