Eine Kolumne von Franziska Augstein
Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es keinen Grund mehr, die Nato aufrechtzuerhalten. Mit dem Ende des Kalten Kriegs war der Feind zerbrochen. Die Nato hat trotzdem überlebt: Man hat neue Feinde gefunden.
Die Nato habe ich persönlich noch nicht kennengelernt, glaube aber, dass es sich um eine distinguierte Dame handelt. Sie trägt einen ausladenden Hut, wie es bei den Pferderennen im englischen Ascot üblich ist. Vögelchen diverser Nationen finden Platz auf dem Hut. Die Dame hat einen Regenschirm bei der Hand, der alle Unbill von dem Schmuck ihres Hutes fernhält. Davon abgesehen ist sie durchaus ein bisschen schrullig.
Repräsentanten und Fürsprecher der Nato stellen heute fest: Es sei nicht ganz richtig gewesen, sich nach den Attacken vom 11. September 2001 auf internationalen Terrorismus zu kaprizieren: Auch gegen Staaten müsse man sich wappnen. Gemeint sind Russland und China, nebenbei Iran und Nordkorea.
Schon 2001 war klar, dass al-Qaida, von den Taliban beherbergt, bloß zu Gast in Afghanistan war. Deshalb – statt internationale Polizeimaßnahmen anzuberaumen – einen Krieg in Afghanistan zu führen, war eine von den USA erwünschte Dummheit der Nato: Der Westen konnte in Afghanistan, das von Stämmen bestimmt wird, die sich traditionell untereinander bekämpfen und dabei nicht gestört werden wollen, keine Blümchen gewinnen. Der bald 20 Jahre währende Krieg von Nato-Staaten in dem Land hat vor allem eines erreicht: Es starben wohl noch mehr Menschen – Soldaten auf allen Seiten und afghanische Zivilisten –, als es ohne den Einsatz westlicher Streitkräfte der Fall gewesen wäre. Die USA ziehen ihre Truppen nun aus Afghanistan ab. Das bedeutet für die noch dort verbliebenen Truppen der Nato-Bündnispartner, dass auch sie heimkehren werden. Militärisch-operativ effektiv sind allein die USA.
Nun will die Dame Nato ihren Hut neu machen lassen. Dazu, so schreiben die Kommentatoren von Denkfabriken und Medien, sei es nötig, dass Deutschland »Verantwortung« übernehme. Deutschland soll sich an Kampfeinsätzen beteiligen können. Deutschland soll mehr Geld für Rüstung ausgeben, bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Letzteres ist insofern verständlich, als die Bundeswehr in den vergangenen Jahren kaputtgespart wurde. Wir haben Militärhubschrauber, die nicht fliegen, U-Boote, die nicht tauchen können; die Zahl unserer einsatzbereiten Kampfpanzer lässt sich an den Fingern der Hände einer Kindergartengruppe abzählen.
Um die Kinder Deutschlands und der Nato-Verbündeten zu beschützen, wurde das Ziel von zwei Prozent Wachstum ausgegeben, nachdem Russland 2014 die Krim annektiert hatte. Die Annexion war völkerrechtswidrig, war aber machbar, weil eine solide Mehrheit der Einwohner der Krim sich Russland zugehörig fühlt. Seither wabern in den Medien Vermutungen hinsichtlich Wladimir Putins möglicher Gelüste, Ostgebiete der Ukraine einzusacken oder sich gar gegen Polen oder Länder des Baltikums zu wenden. Das ist Blödsinn. Die jetzige russische Führung hat weder die Kapazitäten noch den Wunsch, ihrem Land über die Krim hinaus andere Landstriche untertan zu machen. Was die professionellen politischen und militärischen Strategen in den USA und Europa vom wirtschaftlich darniederliegenden Russland halten, lässt sich mit einem Wort des verstorbenen Kanzlers Helmut Schmidt zusammenfassen: »Obervolta mit Atomwaffen«.
Die Einigkeit von Bündnissen jeder Art wird gestärkt, wenn alle Beteiligten gemeinsam einen Gegner haben. Die Nato hat in China einen Gegner gefunden. Der frühere Verteidigungsminister Thomas de Maizière war Mitglied einer internationalen Kommission von zehn Leuten, die sich über die strategische Ausrichtung der Nato Gedanken machten. Die Ergebnisse hat er zusammen mit einem Amerikaner in »Internationale Politik« publiziert, dem Journal der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Da heißt es: »Die von China ausgehende Bedrohung« müsse man ernst nehmen. Und: »China ist im euro-atlantischen Raum bereits in einer Weise präsent und aktiv, die die Sicherheit der Nato untergräbt.«
Mit »aktiv« ist vor allem gemeint, dass China sich mit allen Möglichkeiten des Internets in europäische und amerikanische Belange einmische. Das ist richtig. Ebenso mischt die amerikanische NSA sich in europäische Belange ein, indem sie zum Beispiel die Mobiltelefone hochrangiger europäischer Politiker abhört, wie neulich wieder einmal ans Licht kam. Die Nato richtet sich auf einen Cyberkrieg ein. Das ist vernünftig, hat aber mit materieller Bewaffnung nichts zu tun. Außerdem ist es schon erstaunlich, wie nonchalant der Volksrepublik China unterstellt wird, andere Länder militärisch einkasteln zu wollen. Infrage kommt derzeit bloß Taiwan. Sofern die Taiwaner sich zufriedengäben mit der Devise, die Deng Xiaoping Anfang der Achtzigerjahre ausgab, »Ein Land, zwei Systeme«, würde die Volksrepublik China die kleine Insel in Ruhe lassen. Derzeit aber werden die nach totaler Unabhängigkeit strebenden Kräfte in Taiwan von den USA inoffiziell unterstützt.
Was hat das mit der Nato zu tun? Zur Erinnerung: Die Buchstaben bedeuten auf Deutsch »Nordatlantikpakt-Organisation«. Durch den Südpazifik in der Gegend vor Chinas Küsten laufen für die Welt wichtigste Schifffahrtsrouten. Die Nato darf wissen wollen, was sich dort abspielt. Sie muss aber nicht militärisch präsent sein. Anderenfalls müsste man fairerweise China konzedieren, mit Korvetten oder einem Flugzeugträger im Golf von Mexiko aufzukreuzen.
Die Nato ist geplant worden als Verteidigungsbündnis unter der Ägide der USA. Einerlei, wie viel Geld die europäischen Partner ausgeben, werden die Vereinigten Staaten die militärische Führerschaft der Nato innehalten.
Zu den Aufgaben der Nato gehört nicht, Kriegsschiffe in den Südpazifik zu senden, weil das wirtschaftlich aufstrebende China der US-Hegemonie auf dem Globus Konkurrenz zu machen droht. Gut wäre es, wenn die Europäische Union eine eigene Verteidigungsstrategie hätte. Wie sich diese, wenn es sie denn eines Tages gäbe, mit der amerikanischen Vorherrschaft in der Nato vertragen soll, ist freilich ein Rätsel. Die Nato wurde als nordatlantischer Verteidigungspakt gegründet. Dabei sollte es bleiben. Die Dame sollte nicht fremdgehen.
Spiegel.de, 05.06.2021