Der Lange Marsch in die Zukunft

Eine Kolumne von Franziska Augstein

Vor dreißig Jahren war China ein unterentwickeltes Land. Heute wird es im Westen als Bedrohung wahrgenommen. Dabei hält es die Volksrepublik wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: »Wir sind wieder wer.«

Die meisten Chinesen, ob gebildet oder ungebildet, sind in einem einig: Die Zivilisation ihres Landes ist alt, ist erhabener als die der Länder anderer Kontinente. Was an europäischen Monumenten in chinesischen Freizeitparks nachgebaut wird, dient der Erbauung an exotischer ferner Kultur. Ebenfalls eines Sinns sind die meisten Chinesen darin, mit Scham der Zeiten zu gedenken, da im 19. Jahrhundert ihr Land von Großbritannien unterjocht wurde und im frühen 20. Jahrhundert von Japan.

Im Westen sind die meisten der Auffassung, China treibe es mit seinen weltweiten Ansprüchlichkeiten zu weit. Die Europäische Union hat China zu einem »Systemischen Rivalen« erklärt. Und in den USA hat man ohnehin eine Grundabneigung gegen China, die von der Verständigungspolitik Richard Nixons in den 1970ern und der seiner Nachfolger lediglich unterbrochen wurde. Während des Kalten Kriegs war Chinas Polit-Kommunismus den USA zuwider. Heute schabt das Riesenland an der amerikanischen Vorstellung von der US-Hegemonie in der Welt.

2010 habe ich zusammen mit drei Freunden die Provinz Guizhou bereist. Zwei von denen sprechen glücklicherweise Mandarin. Anders wäre es kaum möglich gewesen, die nötigen Bahn- und Busfahrkarten an den jeweiligen Schaltern zu kaufen. Wir fuhren per Kleinbus zu einem für Touristen zurechtgemachten einstigen Sammelpunkt der Roten Armee.

In der hügeligen Landschaft lag einst eine Etappenstation auf Maos berühmtem »Langen Marsch«. Im Kampf gegen die Truppen Chiang Kai-sheks waren die Kommunisten zunächst unterlegen; sie mussten sich zu Fuß aus den südlichen Gefilden Chinas zurückziehen und zusammen mit den Genossen aus dem Norden neu aufstellen. Sämtliche vergleichbaren Manöver in der gesamten europäischen Geschichte erstreckten sich über allenfalls einige Hunderte Kilometer. Auf Maos »Langem Marsch« liefen die Truppen von 1934 bis 1935 12.000 Kilometer. Die Männer liefen buchstäblich über Stock und Stein; die Schuhe waren bald kaputt, die Gesundheit auch; der Tod fand reiche Beute. Bloß jeder Zehnte überlebte.

Von der eben erwähnten Etappenstation aus kann man eine Weile lang in bewaldeter Umgebung den geplätteten Erdhang hinanlaufen, auf dem seinerzeit die Soldaten der Roten Armee, teils in Lumpen, den Langen Marsch gen Norden fortsetzten. Am Beginn der Strecke stand ein von Beamten besetztes hölzernes Wachhäuschen. Es war kalt, es regnete, mir war speiübel, weil ich am Vorabend billigen Maotai getrunken hatte (diesen Weizenschnaps gibt es in ausgezeichneter und in grottenschlechter Qualität). Meine Freunde parkierten mich in dem Wachhäuschen. Die jungen Männer dort setzten mir, es war zum Frösteln kalt, einen Becher heißen Tees auf den Holztisch, an dem ich sitzen durfte. Auch eine alte Frau war da. Die hat mit voller Absicht, aber wie aus Versehen meinen Teebecher umgestoßen.

Das war ihr kleiner Protest gegen uns, gegen den Westen. Die Chinesen sind Patrioten. Sie haben viel ausgehalten, im Kaiserreich; unter der britischen Kolonialherrschaft; während der Kriege im 20. Jahrhundert; unter Maos Führung, die ungefähr 60 Millionen Chinesen das Leben kostete. Das alles dafür, dass sie nun westlichen Touristen Tee spendieren oder dass ihnen vom Westen gesagt werde, was gut sei und was nicht?!

Vielleicht muss sich der Westen daran gewöhnen, dass China nicht auf Krieg aus ist, sondern auf Wohlstand, Fortschritt, Anerkennung und Respekt.

Auf dem langen Marsch heraus aus der Scham und an die Weltspitze ist China tüchtig vorangekommen – mit unfairen Mitteln, wie die USA und die EU zu Recht konstatieren. Aus Sicht der EU fährt China europäische Unternehmen an die Wand, weil der Staat seine eigenen Produkte subventioniert, sodass nicht chinesische Unternehmen auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig sind. Das ist das eine, dagegen muss und wird etwas unternommen werden, was der EU auch möglich ist, weil China 2001 stolz war, in die Welthandelsorganisation aufgenommen zu werden.

Das andere hat mehr mit dem Denken deutscher Unternehmer zu tun: Kein deutsches Unternehmen wurde je gezwungen, Millionen Autos und andere Güter nach China zu verkaufen und die Blaupausen dazuzugeben. Wenn die Manager sich dazu entschieden haben und die chinesischen Auflagen in Kauf nahmen, dann kann man allenfalls sagen, dass die Deutschen schlecht verhandelt hätten.

Gut verhandelt haben aus ihrer Sicht die Eigner und die Geschäftsführung des Maschinenbauers Kuka, die ihr Unternehmen samt allem Know-how 2016 nach China verkauften. Die Wirtschaftsreporter deutscher Zeitungen waren entsetzt, die Bundesregierung auch. Später hörte ich: Die Leute von Kuka seien immer noch begeistert über den Handel. Außerdem: Die Leute von Kuka hätten damit gerechnet, dass es bloß eine Frage weniger Jahre gewesen wäre, bis Chinesen die Kuka-Maschinen selbst hätten entwerfen und herstellen können.

Als beschämend empfand ich es, als die alte Frau in dem Wachhäuschen meinen Teebecher umstieß. Die chinesische Staatswirtschaft rüttelt nicht am Teebecher, vielmehr rührt sie die Weltwirtschaft um. Vielleicht muss sich der Westen daran gewöhnen, dass China sich aus der Scham der Kolonialherrschaft befreit; dass es ein Land ist, das nicht auf Krieg aus ist, sondern auf Wohlstand, Fortschritt, Anerkennung und Respekt.


Spiegel.de, 22.05.2021

Dieser Text stammt aus „Post von Augstein“ – einer Kolumne auf Spiegel.de
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