Seitdem China wirtschaftlich bedeutsam geworden ist, hegt man im Westen Befürchtungen: Xi Jinping und seine Regierung würden übergriffige Machtfantasien hegen. In der Wirklichkeit hat die Zentralregierung schon im eigenen Land weniger Einfluss, als man es sich im Westen vorstellt.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Erstaunlich erschien es westlichen Beobachtern, dass das Coronavirus einzelne unbetroffene chinesische Städte dazu bewog, sich präventiv abzuriegeln. Das kann man auf zwei Weisen deuten: Entweder zeigte sich da vorauseilender Gehorsam gegenüber der Zentralregierung in Peking, oder es geschah auf eigene Initiative. Eine Betrachtung des Projekts der „neuen Seidenstraße“, heute international bekannt als „Belt and Road Initiative“ (BRI), gibt eine Antwort auf diese Frage.
Seitdem China ein weltweit führendes Exportland geworden ist, seitdem die chinesische Führung entsprechend selbstbewusst auftritt und 2010 sogar erklärte, den Dollar als globale Leitwährung zurückdrängen zu wollen, sind die US-Regierungen vergrätzt. Pekings Vorstellungen passen nämlich gar nicht zu der in den 1990er-Jahren üblichen Annahme, die von etlichen Akademikern (vorneweg der vormalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński) wissenschaftlich unterstützt wurde: Der Niedergang der Sowjetunion habe zur Folge, dass im Namen der Demokratie die Hegemonie der USA im Westen nun auch in andere Richtungen hin ausgebaut werden könne und solle.
Schon bevor Donald Trumps chaotische Vulgärpolitik den Eindruck erweckte, der Präsident sei mit dem Klammerbeutel gepudert, kursierten im Weißen Haus Bedrohungsszenarien. Chinas wirtschaftlicher Aufstieg und daraus sich ergebende überzogene Forderungen an die Handelspartner haben die Sorge geweckt, da werde an der amerikanischen Führungsposition in der Welt gekratzt. Weil Trump, anders als seine Vorgänger, auf erfahren-kluge Diplomaten keinen Wert legt, ist von der US-Regierung mittlerweile vor allem Klartext zu hören. China wolle „ein Wirtschaftsimperium werden“, sagte zum Beispiel der Außenminister Mike Pompeo, „und wir werden alles tun, das zu verhindern“. Das klingt so, als sei Pompeo gegen die freie globale Marktwirtschaft, beziehungsweise halte sie nur dann für richtig, wenn die USA profitieren.
Nachdem die Vereinigten Staaten einen Handelskrieg mit China begonnen hatten, folgte die EU im Schlepp und veröffentlichte im März 2019 ein „Strategiepapier“, in dem sie China zum „systemischen Rivalen“ erklärte. Dergleichen ist hilfreich, wenn man irgendwie Druck und schlechte Stimmung machen will; ein weiterer Nutzen dieser Erklärung ist nicht ersichtlich. Nötig erschien sie der EU nicht zuletzt angesichts der Seidenstraßen-Vorhaben, die bisher den Anschein erwecken, dass China alles nach Möglichkeit allein machen will. Eine Umfrage bei deutschen Unternehmen ergab: Die meisten, auch wenn interessiert, erhalten kaum Kenntnis von geplanten Häfen, Eisenbahnlinien, Flughäfen, Kraftwerken, Staudämmen in Asien und Afrika; sie werden außen vor gehalten. Viele westliche Kommentatoren fürchten zudem, Xi Jinpings China wolle nicht bloß ökonomisch triumphieren, sondern auch – in den weiten Ärmeln des Mantels von Konfuzius versteckt – seine undemokratische Ideologie in die Welt exportieren.
Was zur Zeit des Kalten Krieges der zähnefletschende russische Bär, ist heute der sanft sein Gift verträufelnde chinesische Drache, personifiziert von Xi? Nun ja – der Bär wollte in den 1970er- und 1980er-Jahren gar nicht beißen; und der Drache ist damit beschäftigt, seinen eigenen Schwanz einzufangen. Zu denen, deren Recherchen die westlichen Ängste ein wenig mildern könnten, gehören Lee Jones (Queen Mary University of London) und Jinghan Zeng (Lancaster University). Anfang 2019 haben die beiden in der Fachzeitschrift Third World Quarterly einen exzellenten Aufsatz veröffentlicht. Auf Deutsch heißt er: „Chinas Road and Belt Initiative verstehen“.
Die BRI, schreiben die Autoren, werde weithin betrachtet als klar umrissene Strategie mit einem Masterplan, der in Peking entworfen und von dort in die Regionen zur Umsetzung durchgestellt werde. Von wegen, schreiben die Autoren: Sofern überhaupt von einer Strategie die Rede sein könne, sei sie in diesem Riesenreich notwendigerweise unklar. Nicht anders als seine Vorgänger gebe Xi vage Devisen aus, deren Realisierung eine Frage der Auslegung ist. Was im Westen als eine Reihe von Kampfansagen aufgefasst wird, kommt in Chinas Provinzen nicht selten bloß als unverbindliche Empfehlung an. In Peking ist man nachgerade daran gewöhnt, dass Vorgaben der Zentralregierung bei allerlei regionalen Instanzen versuppen: „Nachgeordnete Akteure können die Zentralpolitik beeinflussen, interpretieren oder sogar komplett ignorieren.“ Was schließlich entsteht, schreiben Jones und Zeng, habe mit Pekings Absichten oftmals nicht viel zu tun, bis dahin, dass die staatliche Außenpolitik „unterminiert“ werde.
Da sind die „leading small groups“ (LSG), kleine organisatorische Einheiten, die von der KPCh oder vom Staatsrat eingesetzt werden, um wolkige Worte des Staatspräsidenten in die Praxis umzusetzen; im Kampf um Bedeutung und Finanzierung arbeiten diese LSG gern gegeneinander. Das Gleiche gilt für die staatlichen Unternehmen. Lokalregierungen wollen Arbeitsplätze bewahren, weshalb sie von den lokalen staatlichen Banken erwarten, dass die auch noch das kaputteste Zombie-Unternehmen über Wasser halten. Dann sind da die Provinzgouverneure, die „quasi-autonom“ internationale Verträge abschließen. Wie um das Kompetenzgerangel abzurunden, verfügt auch die Armee über beachtlichen wirtschaftspolitischen Einfluss.
Wen will es da noch wundern, dass unter dem Rubrum BRI mal hier ein Hafen gebaut wird und dort eine Eisenbahn, ohne dass diese Projekte zum durchdachten Ausbau von Handelsrouten beitragen? Peking ist nicht allmächtig, das gilt sogar für den Umgang mit dem Coronavirus.