Kleines Land im Meer

Taiwan ist eine junge Demokratie. Seine besten Wirtschaftsbeziehungen hat das Land mit der Volksrepublik China. Ein Krieg lohnt sich für beide Seiten nicht. Wie lebt man miteinander, obwohl man einander nicht mag?

VON FRANZISKA AUGSTEIN

In den 1960er-Jahren fiel es der Bundesrepublik schwer, die DDR, die sie als Staat nicht anerkannte, bei einem Namen zu nennen. Bundeskanzler Kiesinger nahm Zuflucht zu dem Wort „Phänomen“. Die Führenden des Phänomens waren entsprechend beleidigt. Als in den 70er-Jahren DDR-Minister mit DDR-Standarte am Auto auf Besuch nach Bonn reisen durften, fühlten sie sich gebauchkitzelt. Und schon liefen die Verhandlungen flotter.

Die Volksrepublik China und Taiwan haben ein ähnliches Problem. Einen Krieg wollen beide nicht. Deshalb rüsten beide auf (so wie im Kalten Krieg in Ost und West aufgerüstet wurde, sicherheitshalber). Neulich hat US-Präsident Trump Taiwan Waffenverkäufe in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar zugesichert, was das große China natürlich ärgert.

Die Taiwaner wurmt es kolossal, dass sie international nicht figurieren und lediglich von siebzehn global wenig bedeutenden Ländern als Staat anerkannt sind. Taiwans Regierende akzeptieren, dass die Volksrepublik China ihr Land nicht in die Souveränität entlassen mag. Aber Taiwan würde – das wäre ein Anfang – gern Mitglied der Weltgesundheitsorganisation und auch von Interpol werden. „Gibt es bei uns keine ansteckenden Krankheiten? Gibt es bei uns keine Kriminalität?“, fragt in Taipeh der Außenminister Jaushieh Joseph Wu suggestiv in die kleine Runde der aus dem Westen angereisten Journalistenschar. Ein wenig klingt es wie die Rede von Shakespeares Shylock: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“

Das Verhältnis zwischen der Volksrepublik China (1,4 Milliarden Einwohner) und der Inselrepublik Taiwan (24 Millionen Einwohner) ist komplexer, als das zwischen der BRD und der DDR es war. Das große China ist der wichtigste Handelspartner Taiwans. Das große China hat Rohstoffe. „Wir haben gar nichts“, sagt ein Vertreter des Außenministeriums und will damit auch sagen: Wir, anders als die da drüben hinter dem Wasser, können über uns selbst lachen; wir sind nicht eingekastelt in der Sprache von hölzernen Funktionären. Lee Ying-yuan von der Umweltbehörde bestätigt unumwunden die Frage, ob Taiwan „das bessere China“ sein wolle. Er sagt: Das zeige sich daran, „wie wir uns benehmen; wie wir essen; wie wir in der Schlange vor einer Bushaltestelle warten“.

Taiwans Rohstoffmangel hat die Insel zur Findigkeit genötigt: Man setzt auf die IT-Branche und auf Technik. So kommen zum Beispiel auch viele Fahrräder auf der Welt aus Taiwan. Nur dass auf den Rädern und Computergeräten nicht „made in Taiwan“ draufsteht.

Die zwei bestimmenden Parteien sind einander recht ähnlich. Die eine, die der jetzigen Präsidentin Tsai Ing-wen, will mehr Distanz zum großen China als die andere, die Kuomintang, welche aus der autoritären Herrschaft hervorgegangen ist, die Chiang Kai-shek nach der Flucht vor Maos Truppen 1949 in Taiwan installierte. (Eine Demokratie ist Taiwan erst seit Anfang der 1990er-Jahre.) Tsais Fortschrittspartei hat am 24. November bei Regionalwahlen miserabel abgeschnitten. Das lag aber nicht an ihrem Wunsch, Distanz zum Festland-China zu gewinnen. Sie hatte den Wählern zu viel versprochen.

Tsais Politik hat dazu geführt, dass das große China die Zahl der Touristen, die nach Taiwan reisen, um angeblich 40 Prozent reduziert hat. Tsai hat die Renten gekürzt, was sie viele Stimmen gekostet hat. Studenten können in Taiwan eine gute Ausbildung erhalten. Aber eine Arbeitsstelle finden viele dann nicht. Hinter dem Wasser liegt das große China, das kluge Leute gern beschäftigt. Vielen Taiwanern, die ihren Fähigkeiten entsprechend arbeiten wollen, ist es ziemlich schnurz, unter welcher Regierung sie das machen. Das gilt auch für Politologen. In Taiwan weiß man, wie einer sagt: „Politologie kann man nur dann gut lehren, wenn man das Fach in einer Demokratie studiert hat.“ Das große China weiß das offenbar auch. Und solange taiwanische Politologen nicht zum Sturz der Regierung in Peking aufrufen, sind sie als Universitätsdozenten willkommen.

98 Prozent seiner Energie bezieht Taiwan aus dem Ausland – Kohle, Flüssiggas. Die Luft auf der Westseite der Insel – von Taipeh zieht sich gen Süden mehr als 200 Kilometer lang eine Megalopolis – ist ungefähr so toxisch wie auf einer Verkehrsinsel in Stuttgarts Innenstadt zur Stoßzeit. Manche meinen, das große, verdreckte China sei schuld, weil dessen Luft nach Taiwan treibe (das sind die Leute, die alles, was in Taiwan nicht gut läuft, dem großen Nachbarn anlasten). Die meisten Politiker meinen: Ihre Insel müsse erneuerbare Energien kultivieren. Man setzt auf Windkraft. Man setzt auf Solarzellen auf Hausdächern. Weil Taiwan regelmäßig Taifunen ausgesetzt ist und Erdbeben öfters vorkommen, sind die meisten Gebäude für den Aufbau von Solarpanels allerdings nicht geeignet. Ein Knackpunkt bei der Luftverbesserung sind die Motorroller: Die sind zahlreich, sind laut und stinken. In einigen Jahren, so sagen die Zuständigen von der Umweltbehörde, sollen sie durch E-Roller ersetzt sein.

Taiwan erwirtschaftet ungefähr das gleiche Bruttosozialprodukt wie Schweden. Es ist nur ein klein wenig größer als Nordrhein-Westfahlen. Es darf international nicht auftreten. Mit dem großen China und seiner Wirtschaft ist Taiwan so eng verbunden, dass eine Trennung ausgeschlossen ist. Das Militärmuseum in Taipeh aber ist bestens bestückt mit lächerlichen Videos, in denen gezeigt wird, wie ein Angriff von der Volksrepublik China abgewehrt werden könnte. Taiwan baut auf die Vereinigten Staaten. Gut wäre indes, wenn die USA das kleine und das große China militärisch in Ruhe ließen. Nicht umsonst haben die Beteiligten Tausende Jahre Kultur im Rücken.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 30.11.2018, Seite 20
Dieser Text stammt aus „Augsteins Welt“ – einer vierzehntägigen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung