Vietnams Regierung hofiert auswärtige Unternehmen – auf Kosten der heimischen Industrie. Der Traum vom Dollar ist stärker als die schrecklichen Erinnerungen an den Vietnamkrieg. 2019 will die EU mit Vietnam ein Handelsabkommen verabschieden. Wie steht es um das Land?
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Im Jahr 1999 besuchte die Redaktion der Satirezeitschrift Titanic vietnamesische Kollegen in Ho-Chi-Minh-Stadt, die ebenfalls in der Humorproduktion tätig waren. Die Redaktion von Jugend lacht – so die Übersetzung – hatte zwar keinen Sinn für politische Satire (dergleichen wäre in dem Einparteienstaat nicht gelitten gewesen); gleichwohl fühlten die deutschen Gäste sich wie zu Hause: Die Cartoons in Jugend lacht erinnerten frappant an die einstigen Humorseiten von Fernsehzeitschriften wie Hör Zu.
Alsgleich machten die Spezialisten von Titanic sich an die Klassifizierung der Cartoons. Ihre Liste umfasste unter anderem „Sahnetortenwitze“, „Leiterwitze“ sowie „Bügelwitze“. Einer von letzteren geht so: Ein Vietnamese bügelt, es klopft an der Tür; er geht öffnen, und als er zum Bügelbrett zurückkehrt, hat das Eisen einen Fleck ins Hemd geschmaucht. Nun brennt der Mann das Bügeleisen noch mehrmals in den Stoff und präsentiert dann stolz das neue Textilmuster. Dass ein heimtückisches Humorkartell heimlich die weltweite Verbreitung derselben Sorte schaler Scherze organisiere, wäre eine Vermutung aus dem Reich der Verschwörungstheorien. Gesichert ist hingegen, dass seit Jahren immer mehr Kleidung in Vietnam produziert wird.
Die Löhne in China sind stetig gestiegen. Mittlerweile sind sie zwei- bis dreimal so hoch wie in Vietnam. Die kommunistische Führung in Hanoi pflegt die Ansiedlung auswärtiger Unternehmen. Elektronikhersteller wie Samsung und die Großen der Bekleidungsindustrie wie Adidas haben Vietnam als Standort entdeckt. Die New York Times zitierte jüngst eine Studie, der zufolge zwei Drittel aller amerikanischen Textilhersteller ihre Produktion von China in benachbarte Länder verlagern werden. Sie hoffen, an Trumps Importzöllen vorbeizukommen, wenn auf ihren Produkten nicht mehr „Made in China“ steht. Freilich, ein großer Teil der Stoffe und Accessoires, die in Vietnam vernäht werden, müssen aus China eingeführt werden. Und das könnte stramme US-Handelskrieger auf den Gedanken bringen, eigentlich handle es sich immer noch irgendwie um chinesische Waren.
Im Bekleidungssektor öffnete sich Vietnam früh für ausländische Unternehmen. Das Schneiderwesen florierte bereits, als das Land noch bitterarm war. Doch je mehr auswärtige Konzerne sich ansiedelten, desto weniger zählte die heimische Produktion. Auch deshalb werden Knöpfe und Reißverschlüsse importiert. Für kostspieligere Produkte gilt heute das Gleiche: Samsung zum Beispiel beschäftigt 60 000 Arbeiter in Vietnam und machte das Land zum zweitgrößten Smartphone-Exporteur der Welt (nach China). Aber es bleiben eben südkoreanische Mobiltelefone. Die vietnamesische Industrie kommt nicht in die Puschen. Und was passiert, wenn Myanmar oder Kambodscha sich so weit berappeln, dass die dortigen, in Südostasien unschlagbar niedrigen Löhne die Weltkonzerne zum Umzug verführen?
Der Preis ist hoch, den das nurmehr dem Namen nach kommunistische Land dafür entrichtet, dass auswärtige Unternehmen hofiert werden. Mit dem Bekenntnis zur internationalen Kooperation meint die Regierung es so ernst, dass sie nicht widersprach, als Donald Trump sich 2017 über die angebliche Übervorteilung der USA durch Vietnam beschwerte. Gegen diese „Unfairness“ hatte Trump eine Lösung parat. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fasste sie süffisant zusammen: „Der Präsident der größten Wirtschaftsnation der Welt legte der Regierung der Nummer 48 auf der Rangliste nahe, künftig doch einfach amerikanische Waffen zu kaufen.“
An dieser Stelle drängt ein Ausflug in die vietnamesische Geschichte sich auf. Mit amerikanischen Waffen haben die Vietnamesen bekanntlich schreckliche Erfahrungen gemacht. Zum Schaudern lehrreich ist die grandiose Dokumentationsreihe „Vietnam“ von Ken Burns und Lynn Novick von 2017 (sie ist auf Netflix zu sehen), in der Polit- und Militärveteranen beider Seiten zu Wort kommen.
Der Zynismus der Präsidenten Kennedy und Johnson samt ihren Ratgebern war ebenso erschreckend wie ihre antikommunistische Verblendung. Sie erkannten nicht, warum vietnamesische Kämpfer in den Tod gingen; warum Frauen freiwillig die Laster mit Nachschub bei Nacht ohne Scheinwerfer durch den Dschungel fuhren; warum Jugendliche bereit standen und, sowie ein Bombardement vorüber war, die Krater in den Wegen zuschaufelten: Der Drang nach der Unabhängigkeit ihres Landes war stärker als die Furcht vor dem Tod. Ein amerikanischer Veteran sagt in dem Film: Der Mut der Vietnamesen sei so groß gewesen – er sei zu der Überzeugung gekommen, er habe „auf der falschen Seite“ gekämpft.
Was das aus der Luft verabreichte Napalm angeht sowie das Entlaubungsmittel Agent Orange, dessen Einsatz bis heute zu Missgeburten führt, trifft ein traurig-ironischer Satz zu, mit dem der Schriftsteller Joseph Roth den Einsatz von Granaten im Ersten Weltkrieg beschrieb, „deren verwüstende Wirkung nicht Tücke war, sondern eine Sinnlosigkeit, so unermesslich, dass sie grausam sein musste“.
Kaum ein Vietnamese hegt Hass gegen die USA. Die Leute wollen wirtschaftlich vorankommen. Sie sparen Dollars. Sie finden amerikanische Turnschuhe schick. Sie haben dem Land vergeben, das ziemlich weit damit kam, sie in die Steinzeit zurückzubomben. Wie aber verhalten sich die USA? Ein US-Gericht schmetterte 2005 eine Sammelklage von Agent-Orange-Opfern mit der irrwitzigen Begründung ab: Es habe sich nicht um „chemische Kriegsführung“ gehandelt, ein Bruch internationalen Rechts liege daher nicht vor. Und Trump beschuldigt Vietnam, es führe unfairen Handel.