Die erste Seite ist der Vertrag mit dem Leser

Julian Barnes über das Schreiben, den Brexit, die Rolle des Geldes und darüber, warum Großbritannien ein seltsames Land geworden ist

INTERVIEW: FRANZISKA AUGSTEIN

An diesem Freitag erhält der britische Autor Julian Barnes für sein erzählerisches Werk den Siegfried-Lenz-Preis. Seine Eltern waren Französischlehrer, Julian Barnes selbst liebt Frankreich ebenso wie England. Sein erstes Buch, „Metroland“ (1980) handelt auch von Frankreich. Mittlerweile ist er weltberühmt. Er gehört zu den wenigen Autoren, die ihre Leser schon beim Schreiben freundlich behandeln.

SZ: Herr Barnes, bei Ihren ersten Schreibarbeiten als Mitarbeiter am Oxford English Dictionary zählte allein die reine Objektivität. Später waren Sie Journalist, da hat man schon mehr Freiraum. Aber vom Journalismus zur Belletristik ist es ein Riesensprung, beides hat nichts miteinander zu tun.

Julian Barnes: Für mich schon. Immerhin entstehen bei beidem gedruckte Wörter, geschrieben für Leute, die man nicht kennt.

Und warum wurden es dann Romane?

Liebe zu Sprachen, zu Wörtern. Außerdem war ich als junger Mann sehr schüchtern. Ich konnte zu einem Menschen reden, aber nicht zu mehreren. In den Redaktionskonferenzen traute ich mich nicht, den Mund aufzumachen, aus Furcht, etwas Falsches zu sagen. Ich konnte nicht reden, konnte keine Geschichten erzählen. Beim Schreiben war es mir möglich, zu mehr als einem Menschen zu reden. Das Hin und Her der Selbsterforschung: Es kommen Geschichten zutage, die man erzählen möchte. Man wartet darauf, dass Leute sagen: Du kannst nicht schreiben, du solltest das lassen. Bekommt man das nicht zu hören, wird man mutiger. Dann fängt man das erste Buch an.

Apropos Selbsterforschung, haben Sie mal daran gedacht, eine Psychoanalyse zu machen?

Vor acht Jahren ist meine Frau gestorben, sehr plötzlich. Mir wäre nicht eingefallen, mich an einen Therapeuten zu wenden. Ich dachte: Mit Freunden reden könne helfen, mit mir selbst reden könne helfen, mit meiner toten Frau reden könne helfen. Außerdem glaube ich, dass Analytiker von bestimmten Theorien ausgehen, die sie dir dann überstülpen. Das macht unwohl. John Cleese von Monty Python war mal mit einer Analytikerin verheiratet. Er hielt Psychoanalyse für etwas Großartiges. Bis ein Analytiker ihm klarmachte, warum er den Drang hatte, komisch zu sein. Dann hat er jahrelang nicht arbeiten können. Nein, das muss nicht sein.

Schriftsteller gelten als egozentrisch, besessen von ihrer eigenen Ideenwelt.

Bei mir ist das anders. Ich will auch nicht über dem Leser thronen und ihm die Welt erklären. Ich stelle es mir eher wie eine Unterhaltung vor: Der Leser, die Leserin und ich, wir sitzen in einem Café, und ich zeige auf die Straße: Schau mal, was glaubst du, was da los ist, haben die zwei eine Affäre? Warum trägt der da einen so bekloppten Hut? Und die Frau dort läuft mit einem Gehstock, gestern hatte sie noch keinen Stock. – Ich bin kein didaktischer Autor. Mein Verhältnis zu meinen Lesern betrachte ich als Miteinander.

Sie verehren Gustave Flaubert. War der so wie Sie?

Er war auf jeden Fall nicht monomanisch selbstbezüglich. Er wollte erstaunliche, kniffelige, faszinierende Maschinen ersinnen, die mit ihm selbst möglichst wenig zu tun haben sollten. Er hat gesagt: „Der Schriftsteller muss sein wie Gott im Universum: omnipräsent, aber völlig unsichtbar.“ Ein guter Satz! Dass wir ein bisschen von uns preisgeben, ist unvermeidlich. Aber Flaubert war das Gegenteil von, sagen wir, dem alten Tolstoi.

Ah, und wie kam er dann zu dem Satz „Madame Bovary, das bin ich“?

Woher der kommt, ist ungewiss. Flaubert hat ihn nicht in einem Brief oder anderem geschrieben. Madame Bovary ist so lebendig, so charakteristisch für die Region, in der sie lebt, so typisch für die damalige Lage der Frauen, das lockte dazu, nach ihrem Vorbild in der Wirklichkeit zu suchen. Es gab den Fall einer Frau, Selbstmord durch Vergiftung, von dem Flaubert in Ägypten erfahren hat. Aber er hat diesen Fall nicht romanesk in Szene gesetzt, er war viel besser. Doch dann wurde er mit Fragen bombardiert: Wer ist das Vorbild für Madame Bovary? Und schließlich hat er einfach gesagt: „Madame Bovary, c’est moi“, sie ist ein Glatzkopf mit einem dicken Schnurrbart. Es war ein Witz. Man kann lang und tief darüber theoretisieren, über Flauberts feminine Seite und was weiß ich. Dagegen glaube ich: Es war seine Art zu sagen: Lasst mich in Ruhe!

Sie haben einmal Flauberts Spruch zitiert: „Prosa ist wie Haar, beim Bürsten beginnt es zu leuchten.“ Ich selbst betrachte nasse zerwuselte Haare kämmen als lästig. Sie aber sagen, dass Ihnen das Schreiben Spaß mache. Macht es Ihnen wirklich Spaß, an einem Text zu feilen, wie man im Deutschen sagt?

Ja. Der erste Entwurf ist meistens ziemlich frei hingeschrieben, und man gibt sich der Illusion hin, dass man vermutlich nichts daran noch wird ändern müssen. Na ja. Verbessern macht auch Spaß – das hört erst auf, wenn das gesetzte Manuskript zum Gegenlesen kommt, da habe ich dann meistens genug. Die erste Seite lese ich dann niemals mehr: Die erste Seite ist der Vertrag mit den Lesern. Die habe ich da schon fünfzig, sechzig Mal durchgearbeitet.

Ihre Eltern waren Lehrer, für Französisch. Ihr Bruder Jonathan ist ein angesehener Philosoph. Ihre Rezensenten versäumen selten, Ihre Intelligenz herauszustellen. Woher kommt die?

Meine Eltern haben Universitäten besucht.

Klar, aber das erklärt nicht, warum die zwei Söhne so clever sind.

Meine Eltern wollten uns alles möglich machen. Sie haben uns nicht getreten. Freilich hatten sie gewisse Erwartungen. Es fand eine Art Osmose statt: Wir hatten nicht wirklich die Möglichkeit zu denken, man könne auch leben, ohne eine Universität zu besuchen.

Das englische Klassensystem ist weltberühmt, über seine Darstellung in Romanen von Evelyn Waugh und vielen anderen ist es für alle, die nicht darunter litten, eines der amüsanten britischen Merkmale. Ist es noch präsent? „Deference“, die Annahme der kleinen Leute, sie seien den Hochgeborenen Respekt schuldig, hat sich verflüchtigt. Und die Hochgeborenen kleiden sich schludrig.

Das Klassensystem gibt es trotzdem noch. Und heute findet die Oberschicht es klasse, dass sie auf beiden Flöten spielen kann: Mal machen sie auf Populismus, und dann wieder ziehen sie sich zurück in ihre köstliche Isolation. Dazu die ganzen Orden: Die wollen alle haben.

Weil Sie ein englisch-europäischer Schriftsteller sind, rede ich jetzt von England, nicht von Britannien: Im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre hat England sich sehr verändert.

Ja, manches zum Guten, manches zum Schlechten. London ist heute wohl die multikulturellste Stadt der Welt. Um die hundert Sprachen werden hier gesprochen. London ist die erste Großstadt der westlichen Welt, in der ein Muslim zum Bürgermeister gewählt wird – und niemand mokiert sich darüber. Einzelne Übergriffe ausgenommen, kommen die unterschiedlichen Gemeinden in London gut miteinander zurecht. Weniger schön ist der Effekt, den das viele Geld gehabt hat, das in die Stadt gekommen ist. Ausländer betrachten Londoner Immobilien als Bank: Da kaufen sie dann mal einen Straßenzug …

… und Krankenpfleger, Lehrer und Polizisten können die Mieten in der Stadt nicht mehr bezahlen und müssen weit außerhalb Londons wohnen.

Als Haussmann im 19. Jahrhundert die Pariser Boulevards baute, war sein Ziel, die Armen aus der Innenstadt zu vertreiben. Denselben Effekt hat heute das Geld, das nach London kommt. Die Politiker sagen dazu: So funktioniert nun einmal die freie Marktwirtschaft.

Hat sich die Mentalität der Engländer geändert? In den frühen Neunzigerjahren klebten in vielen Bahnstationen Plakate, die Leute vom Schwarzfahren abhalten sollten. Sie zeigten einen Mann, der sehr schuldbewusst auf seinem Sitz saß, weil er nicht bezahlt hatte.

An dieses Plakat kann ich mich nicht erinnern. Theresa May, unsere neue Premierministerin, hat Busse rumfahren lassen, auf denen stand: „Wenn Sie illegal in diesem Land sind, verlassen Sie es, sonst werden Sie festgenommen.“

Das ist eine Drohung. Das Plakat, von dem ich rede, handelte von Scham.

Ich als Englishman empfinde Scham. Wenn ich auf der Straße einem dunkelhäutigen Mann begegne, mag der denken: „Dieser weiße Engländer mag mich nicht. Er will, dass ich in mein Heimatland zurückkehre.“ Am liebsten würde ich diesem Mann sagen: „Ich mag Sie. Ohne Leute wie Sie würde unser Gesundheitssystem kollabieren.“

Der Brexit hat klargemacht, dass England gespalten ist. Hier sind jene, die mit Multikulti nichts anfangen können und sich ihrer Identität beraubt fühlen. Dort stehen jene, die mit Britannien die Idee von Weltoffenheit verbinden.

Wir sind ein seltsames Land geworden. Schottland wird das Vereinigte Königreich vermutlich verlassen. Nordirland hat Probleme. In Cornwall hat eine Mehrheit für den Brexit gestimmt. Ausgerechnet in Cornwall, das eine Menge Geld von der EU erhält. Die zuständigen Räte sind nach Westminster in London gefahren und haben gefragt: Unser Geld, das früher die EU gab, das gebt ihr uns jetzt. Sie scheinen nicht begriffen zu haben, worum es bei dem Referendum ging.

Wie kam das?

Die Europäische Union wurde in unserem Land immer unter Wert behandelt. Als Polen zu uns kamen, erklärten die Politiker, es handle sich um vielleicht 20 000 Menschen. Jetzt sind es bestimmt eine Million. Ressentiments kommen auf. Die Politik hat vollkommen falsch kalkuliert. Bizarrerweise sind es vor allem jene Regionen, in denen ganz wenig Ausländer leben, die sich vor Überfremdung fürchten.

Das ist immer und überall so.

Am Abend vor dem Brexit-Referendum saß ich mit sieben Freunden zusammen und fragte: Wer ist am schlimmsten: Boris Johnson, Michael Gove oder Nigel Farage.

Michael Gove hat kein Format. Deshalb hätte ich gesagt: Boris Johnson. Die Statements, die er als Londons Bürgermeister auf Busse hat kleben lassen, waren unsäglich.

So haben meine sieben Freunde auch gedacht. Ich sagte: Nigel Farage, weil Farage seit vielen Jahren als Brunnenvergifter unterwegs gewesen ist. Er hat die Idee geschürt von England als einem Fantasieland, einer kleinen, sehr starken, weißen Nation, die wieder zu sich kommen müsse.

Das klingt ziemlich bescheuert. Leider hat es nichts von dem, was wir Kontinentaleuropäer an Britannien schätzen: Ironie. Bei Ihnen in England, so sehen wir das, gehen Heuchelei und Ironie Hand in Hand.

Ach nein, Ironiker sind nicht bigott, und sie heucheln auch nicht. Ironie zeigt eine ziemlich komplexe Form geistiger Bildung.

Ist sie aber beschränkt auf Universitäts-absolventen?

Nein.

Nebenbei: Das Vergnügen bei der Lektüre Ihrer Bücher kommt auch daher, dass sie viele ironische Sätze enthalten. Frage: Ist Ironie ein englischer Charakterzug? 

Ich denke schon. Ironie ersteht aus der Erkenntnis, dass es auf viele Fragen nicht eine einzige Antwort gibt. Ironie gibt den Dingen einen Drall, sie schaut um die Ecke, betrachtet die Dinge von ihrer Rückseite. Sie ist die englische Weise, über ernsthafte Dinge zu sprechen, ohne sie ganz ernst zu nehmen. Einmal habe ich in Paris eine Rede gehalten. Da wurde mir gesagt, ich stehe in direkter Linie von Edward Lear, Lewis Carroll, Monty Python, und dann komme ich. Da konnte ich nicht Nein sagen.

Und warum sitzt ausgerechnet den Engländern diese Form des Umgangs mit der Wirklichkeit in den Knochen?

Die Franzosen und eigentlich alle sind begabt mit Ironie. Flaubert zum Beispiel war ein sehr ironischer Autor. Das ist einer der Gründe, warum „Madame Bovary“ die Grundfesten des Romanschreibewesens verändert hat: Flaubert beschreibt Madame Bovary mit beidem gleichzeitig: Ironie und Sympathie.

Gleichwohl: Die englische Ironie ist speziell; die der Schotten und Iren auch, in selber Weise, wenn sie dazu aufgelegt sind. Woher kommt das?

Ich glaube, das geht zurück auf Shakespeare. In Frankreich im 17. Jahrhundert haben Schreiber von Theaterstücken entweder eine Tragödie oder eine Komödie verfasst. Shakespeare hat es anders gemacht. Er legt Farce und Sarkasmus in seine tragischsten Szenen …

… und seine Komödien haben etwas tief Tragisches. Aber der Geist Shakespeares kann es nicht gewesen sein, der in all den seither verstrichenen Jahrhunderten verprügelte Schulkinder dazu brachte, nicht zu weinen, sondern ihr Schicksal in ironische Worte zu kleiden.

Vielleicht stand Shakespeare für etwas, was sowieso in den Menschen in England vorhanden war. Ich bin sicher, dass es schon zu Shakespeares Zeiten Witze über König Harold gab. Außerdem: Ich bin ziemlich sicher, dass ihre eigene Fantasie viele Engländer dazu brachte, aus der üblichen Konvention ausbrechen zu wollen. Physisch ging es nicht, also mit Worten.

Mag das damit zusammenhängen, dass Heinrich VIII im 16. Jahrhundert sich vom Katholizismus trennte? Da saßen die Briten und mussten genau schauen, ob sie nun zum Papst hielten, den sie ehrten, oder zu ihrem König, den sie auch ehrten? 

Vielleicht. England hatte es schwer, war von Katholiken bedrängt: Schottland, Frankreich, Spanien, von heimischen Katholiken gar nicht zu reden.

Der englische Autor Edward St Aubyn hat in einem seiner Romane einen Franzosen aufgeführt, der sagt: „Du musst dich selbst erfinden, um du selbst zu werden.“ 

Kein Engländer würde das sagen. Solche Leute gibt es nur im Fernsehen.

Ihre Bücher sind komisch, so wie Sie Shakespeares Komik beschreiben: Konzipieren Sie das absichtlich so?

Nein, wenn man als Autor die eigene Sprache gefunden hat, muss man keine Scherze einbauen. Das kommt von selbst. Wenn ich schreibe, denke ich nicht, oh, das wird die Leute lachen machen.

Lucky you.

Ich bin beim Schreiben viel mehr mit Fragen beschäftigt wie: Sollte diese Figur nun einen Bus nehmen oder einen Zug? Wenn man schon länger schreibt, dann nimmt man die Routine als eine Gabe.

Sie lieben Frankreich. Was hat Frankreich, was England nicht hat, mal abgesehen von der Sprache?

Die Landschaft und den Genuss an Freude.

Freude?

Ich glaube, die meisten Briten werden immer noch in sich vom Puritanismus regiert. Dann schaut man nach außen, nach einem anderen Land, von dem man meint, die Leute dort machen es besser. Die Franzosen sind eine Ausnahme, sie meinen, sie machen es am besten. Seitdem ich das erste Mal dort war, habe ich das Gefühl, dass man in Frankreich mit der Idee von Genuss sehr entspannt umgeht. Was meine Landsleute angeht: Ich glaube, die haben das mittlerweile auch mehr oder minder mitbekommen.

Erlauben Sie mir, „Genuss“ und „Freude“ in das Wort „Sex“ zu übersetzen?

Das gehört dazu. Manche von uns Engländern, nicht ich, aber viele, fühlen sich schuldig, wenn sie in diesem Sinn genießen. Das kommt von dem römisch-katholisch-protestantischen Einschlag in unserer Geschichte. Und dann kommt dazu, was die Oberen sagen. Das Leben gilt als Arbeit, und am Freitagabend darfst du dir erlauben, was Freude genannt wird. Ich habe viel Freude jeder Art in meinem Leben. Mit meinem Freund, dem Schriftsteller Ian McEwan habe ich mich darüber oft unterhalten. Ich sage ihm: Dir macht das Leben Spaß. Er antwortet: Ich nehme meine Freude am Leben sehr ernst. Ian plant sein Leben im Hinblick darauf, was ihm Spaß macht.

Sie machen das nicht?

Nein. Ich kann vermutlich glückliche Momente ebenso genießen wie Ian. Aber ich plane sie nicht.

Sie haben sich einen „fröhlichen Pessimisten“ genannt. Mir scheint, das ist ein Etikett, das Sie sich aufgesetzt haben, um weiteren Fragen zu entkommen.

Da ist etwas dran. Aber Sie könnten mich auch einen melancholischen Optimisten nennen.

Quatsch, so würden Sie sich niemals beschreiben.

Da ist auch etwas dran.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Bayern) vom 11.11.2016 – Seite 14
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