Für seine Schröder-Biografie hat Gregor Schöllgen sehr, sehr viele Akten und Presseartikel durchforstet.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Schöllgen hebt in seiner Biografie darauf ab, dass die Herkunft aus armer Familie Schröder zum machtbewussten Kämpfer gemacht habe, der danach strebte, seine Verhältnisse hinter sich zu lassen. Das wollte er in der Tat. Auch tut Schöllgen recht daran, Schröder als einen Aufsteiger zu beschreiben, der sich mitunter für taktischen Opportunismus nicht zu schade war. Gerhard Schröder hat die Selbstverwandlung aber nicht vollendet. Den sogenannten kleinen Leuten begegnet er mit natürlicher Herzlichkeit. Und wahren Polit-Opportunisten kann er nicht das Wasser reichen.
Die Biografie des Juso-Vorsitzenden, Ministerpräsidenten und Kanzlers Gerhard Schröder zu schreiben, war eine Mammutaufgabe. Entsprechend ist das Buch ausgefallen: Fast eintausend Seiten Text werden in 2412 Fußnoten beglaubigt. Zu den aufschlussreichsten Partien gehört der Bericht „Zur Quellenlage“. Schöllgen durfte die Akten des Bundeskanzleramts einsehen, die außen- und sicherheitspolitische Fragen betreffen. Mehr noch, Angela Merkel selbst wird das Buch vorstellen. Das ist buchenswert, weil sie zu Beginn ihrer Kanzlerschaft nicht eben erpicht war, mit Schröder zu tun zu haben. Was die Kanzleramtsakten angeht: Die müssen es in sich haben. Nicht nur, so Schöllgen, gebe es kein brauchbares Findbuch; hinzu komme, dass „die Ablage und Ordnung der Dokumente nach Kriterien erfolgt ist, die sich dem Nutzer mitunter nur schwer – wenn überhaupt – erschließen“. Gern wüsste man, ob das Berufsethos der Archivare sich da originell zur Geltung bringt oder ob dahinter eine tiefere Absicht steht.
Außerdem konnten Schöllgen und seine Mitarbeiter das gesamte Archiv Gerhard Schröders durchforsten. Der Altkanzler, schreibt Schöllgen, „war sich bis vor Kurzem nicht bewusst“, wie viel da emsig gesammelt worden war. Sich in Akten verewigt zu sehen: Darauf hat Schröder nie aspiriert. Eitel ist er wie fast alle, die sich die Beschäftigung mit dem werten Ich leisten können; aber so eitel ist er eben nicht, dass er darauf achtete, seinen Nachruhm zum darin Blättern herzurichten. Schröder hält es eher mit Goethes Faust: „Das Drüben kann mich wenig kümmern.“
Bei Schöllgen ist zu lesen, Schröder sage von sich, er könne nicht singen. Wer ihn nur ein bisschen kennt, weiß, dass er auch religiös unmusikalisch ist. Verwunderlich ist daher Schöllgens Versuch, Schröders öffentlich kundgetane und also höflich-verbrämte Absagen an Religiosität umzudeuten: Obzwar kein kirchentreuer Christ, habe jener eine „Einstellung“ zu Gott und Christentum, die „greifbar“ und „eigenständig“ sei.
Wie er es mit der Religion hält: Das konnte der Biograf den Biografierten nicht fragen: Weder der Altkanzler noch Doris Schröder-Köpf haben die Arbeit gesprächsweise begleitet. Schöllgen hat zwar etliche Leute interviewt, von denen manche sich loyal-diplomatisch, andere etwas offener eingelassen haben; aber im Grunde ist seine Biografie aus dem gigantischen Bestand schriftlicher Quellen erarbeitet. Wer Einblick in interne Akten hat, der wird doch irgendetwas Spektakuläres finden, denkt der naive Leser.
Ganz und gar neu ist tatsächlich vieles, was man über Schröders Eltern und Großeltern erfährt: Schöllgens Mitarbeiter haben die Details – in öffentlichen Archiven – mühsam zusammengesucht, mit dem Ergebnis, dass die Familie noch deklassierter war, als ehedem schon bekannt. Darüber hinaus: Neu ist zum Beispiel, dass Schröder im Jahr 2001 Frankreich und Großbritannien zuliebe 50 Exemplare des von einigen europäischen Ländern geplanten Militärtransporters Airbus A400M zu erwerben versprach, während nur der Preis für 40 Maschinen in den Haushalt eingestellt war (zu einem Vertrag kam es damals nicht).
Neu ist zum Beispiel auch, dass Schröder Jahre später fälschlich behauptete, schon immer gegen das seit Bill Clintons Präsidentschaft von den USA verfolgte Projekt eines militärischen Raketenabwehrschirms (NMD) gewesen zu sein. Dass Schröder mit Helmut Kohl „nicht reden“ konnte, weil Letzterem jedes Gespräch „nach wenigen Minuten zur Selbstdarstellung“ geriet, ist eine Nachricht, die Schröders Bekannte nicht vom Hocker reißen wird. Öffentlich hat Schröder das indes nicht gesagt. In den Akten wurde Schöllgen fündig.
Unter dem Dach der Erlanger Universität betreibt der Professor für Neuere Geschichte das „Zentrum für Angewandte Geschichte“, eine Art Biografien-Manufaktur. An sich ist sie auf Unternehmer-Viten spezialisiert, die auf Anfrage und gegen Entgeld hergestellt werden. Drei der vier bisher Porträtierten waren einst Mitglieder der NSDAP. Schöllgen ist vorgehalten worden, er beschönige und betreibe eine „Apologetik-Agentur“. Er replizierte, dass er sich das nicht leisten könne, schließlich habe er einen Ruf zu verlieren. Sein Buch über Schröder ist nicht liebedienerisch. Es irritiert auf andere Weise: Kläglich stranden die Versuche, zu ermitteln, was der Autor über den Menschen Gerhard Schröder sagen will, was nicht schon stereotyp bekannt ist.
Schöllgen hält das so: Ein Kommentar zu Schröders Haltung wird anschließend relativiert, später konterkariert, um manchmal dann doch wieder aufzutauchen. Anhand Schröders Einstellung zum Nato-Doppelbeschluss von 1979 lässt sich beispielhaft zeigen, welche Verwirrung Schöllgen zu stiften vermag: Schröder ist auf Seiten der Friedensbewegung, die zu Beginn der Achtzigerjahre gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik demonstriert. Auch kritisiert er, dass West-Deutschland die Olympischen Spiele in Moskau 1980 boykottiert, zur Strafe für den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan. Warum? Schöllgen meint, Schröder halte „diese Positionen im Wahlkampf (es geht um die Bundestagswahlen 1980, Anm. d. Red.) für mehrheitsfähig (. . .) Von Rückgrat keine Spur, wohl aber von bedenklichem Opportunismus“. Dann schreibt er weiter: „Nun gehört eine ordentliche Portion Opportunismus zum Wesen der Politik.“ Kurz darauf heißt es: „Er gilt in den meisten Sachfragen als Linker, und das hilft auch deshalb, weil in den Dämmerstunden der Ära Schmidt und in der aufziehenden Ära Kohl linke Positionen zu Minderheitspositionen werden“, mit denen Schröder sich habe in Szene setzen können.
Das macht grübeln: Vertrat Schröder die Mehrheitsposition oder die Minderheitsposition? Hat er sich womöglich als brillanter Opportunist gleichzeitig der Mehrheit und der Minderheit angeschlossen? Und warum fällt dem Autor nicht auf, dass Schröder spätestens seit jener Zeit und bis heute oft dafür geworben hat, der Sowjetunion respektive Russland mit dem Bemühen um gegenseitiges Verständnis zu begegnen?
Eifriges Studium der Fußnoten hilft bei der versuchsweisen Klärung der letzten Frage. Die meisten wirklich interessanten Zitate, die Schöllgen anführt, stammen nicht aus Akten, sondern aus der Presse. Zunehmend erweckt die Lektüre den Eindruck, dass die zeitgenössische politische Berichterstattung dem Autor als Leitfaden diente. An der souveränen Synthese scheint ihm weniger gelegen zu sein als an der genauen Abarbeitung der Themen, die jeweils anstehen.
Diese Methode, die generell der Abfassung sehr dicker Bücher förderlich ist, ergibt eine ungemein eindrucksvolle Fülle an Fakten und Beobachtungen (völlig unter den Tisch fällt allerdings Schröders misslicher Beitrag zur Deregulierung der Finanzmärkte). Wer in der Ära Schröder politisch interessiert war, erlebt bei der Lektüre viele Déjà-vu-Momente; für das darob geschmeichelte Leser-Ego wäre das freilich nur dann voll befriedigend, wenn Letztere öfter durch überraschende oder auch nur pointiert formulierte Einsichten ausbalanciert würden.
Wie lässt sich Schöllgens Schröder-Bild zusammenfassen? Er destilliert die Ansichten der Journalisten. Dazu gehört: Dem jungen „Gerhard Schröder geht es um die Macht, um nichts als die Macht“. Er ist „lernfähig“ und kann daher seine Meinung ändern. Er stellt sich sehr gut mit der Wirtschaft. Der Öffentlichkeit sage er „immer, was er vorhat“ und „stellt damit seine Partei vor vollendete Tatsachen“. Überhaupt sei er mit der SPD „nie recht warmgeworden“. Öffentliche Ausfälle gegen politische Gegner seien seine „Sache nicht“. Er sei ein loyaler Freund und Partner; habe er aber das Vertrauen verloren, „macht er den Schnitt“. Am Ende konstatiert Schöllgen, der Altkanzler sei „mit sich im Reinen“. Dasselbe hat er auch in seiner Biografie über den „Quelle“-Gründer Gustav Schickedanz geschrieben.
Im Jahr 2010 hielt Gerhard Schröder auf Einladung von Schöllgen und seinem „Zentrum für Angewandte Geschichte“ einen Vortrag an der Universität Erlangen. Von Schöllgens Unternehmen war er angetan: Da wird Geisteswissenschaft wirtschaftlich nutzbar. Was dabei herauskommt, wenn Bücher manufakturmäßig produziert werden: Das zeigt diese – übrigens in einem angenehm flotten Stil geschriebene – Biografie.