Imre Kertész hält seine Vita für ähnlich absurd wie die Geschichte Ungarns – anlässlich seines 80. Geburtstags spricht er über Gott und sein Leben.
Als Fünfzehnjähriger, 1944, wurde Imre Kertész ins KZ deportiert. Er überlebte und arbeitete zunächst als Journalist. Als seine Zeitung zum KP-Parteiblatt gemacht wurde, gab er seine Stelle auf. Es dauerte Jahrzehnte, bis seine schriftstellerische Arbeit Anerkennung fand. 2002 erhielt er als erster Ungar den Literaturnobelpreis.
SZ: Nachdem Sie Buchenwald überlebt hatten und nach Budapest zurückgekehrt waren, haben Sie eine Weile lang versucht, ein nützliches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft zu sein . . .
Imre Kertész: Damit war es bald vorbei.
SZ: Dann haben Sie sich vom politischen Leben abgekehrt. Sie sind gewissermaßen in die Literatur emigriert, in eine Sphäre, die man mit Rilke vielleicht als „Weltinnenraum“ bezeichnen kann. Sie glauben nicht an Gott, gleichwohl erwähnen Sie ihn oft. Aber man kann doch eigentlich nicht über eine Größe schreiben, von der man denkt, dass es sie nicht gibt.
Kertész: Doch.
SZ: Wie?
Kertész: Ich glaube zwar nicht an religiöse Lehren. Aber wenn es jenseits der Welt keinen Raum gäbe, wenn ich die ganze flache Welt, wie sie über mir dahinbrodelt, einfach so hinnähme, dann könnte ich nicht schreiben. Einmal habe ich den Komponisten György Ligeti gefragt, ob er glaube, dass die Welt erkennbar sei. Ja gewiss, hat er gesagt, man müsse unbedingt naturwissenschaftlich denken. Wenn ich das täte, hätte ich niemals auch nur eine Zeile geschrieben.
SZ: Dass der Mensch – auch der Agnostiker – von einem religiösen Gefühl übermannt werden kann, von einem Staunen vor der Welt, einem mystischen Schauder – das verstehe ich. Aber „Gott“ ist ein religionsgeschichtlich halbwegs präziser Begriff. Wie können Sie über Gott schreiben, wissend, dass Milliarden Menschen sich darunter etwas anderes vorstellen als Sie?
Kertész: Ach, wissen Sie . . . Auf Rügen habe ich einmal eine Kirche besucht, und der Pastor sagte uns: „Gott hat keine Religion.“ Wenn ich über Gott spreche, dann spreche ich nicht über den Gott. Ich halte es mit dem Mann, ich glaube, es war Jean Paul Marat, der gesagt hat, wenn es die Auferstehung gebe, wolle er nicht leben.
SZ: Gott ist für Sie eine Chiffre, die dafür steht, dass die Welt nicht so flach ist, wie Ligeti es Ihnen weismachen wollte?
Kertész: Gott bedeutet immer etwas anderes. Wenn es nur unsere eine Wirklichkeit gäbe: Das wäre eine Katastrophe. In „Dossier K.“ habe ich beschrieben, was für ein großes Erlebnis es war, als ich Kant las – Raum, Zeit, Logik: Das ist der Mensch. Aber was der Mensch unter diesen drei Kategorien erlebt, ist nicht das Leben. Die Marxisten haben immer gesagt: Es gibt eine Realität jenseits des Individuums, die sei wichtiger als der Einzelne. Die Faschisten haben das auch gesagt. Aber das kann man nicht akzeptieren.
SZ: Und von Kant haben Sie gelernt, dass ein Stuhl nur deshalb ein Stuhl ist, weil Sie ihn als solchen sehen.
Kertész: Was ein Mensch erlebt, sieht und schmeckt, das ist die Welt. Ich bin die Welt.
SZ: Wer das so sieht, mag sich innerlich freier fühlen. Das kann man vielleicht „Erlösung“ nennen, möglicherweise sogar eine „mystische“ Erkenntnis – auch dies zwei Begriffe, die Sie gern benutzen. Wie steht es aber mit einem anderen Begriff, der mir als Leserin besonders viel Mühe macht. Ich rede von der „Gnade“. Welchen Anlass gibt es, von Gnade im metaphysischen Sinn zu reden? Das ist doch nur möglich, wenn man annimmt, dass es einen Gott gibt, der die Menschen in Gnaden aufnimmt?
Kertész: Nein. Die Gnade kommt von mir selbst. Gnade hängt zusammen mit dem mystischen Weiß-nicht-was. Und dieses Weiß-nicht-was tritt plötzlich ein. Ich werde nie vergessen, wie ich Schriftsteller wurde. Stellen Sie sich vor: ein Kind von 23 oder 24 Jahren. Ein Junge im Stalinismus, ganz unkultiviert, ganz aufs Überleben fixiert. Die Welt war völlig flach. Und auf einmal gehe ich durch einen Flur und habe eine . . . eine was? Also, in dem Flur musste ich stehenbleiben, und es war mir klar, dass ich Schriftsteller werden müsse. Das war ganz irreal.
SZ: Und dann haben Sie begonnen, Ihren „Roman eines Schicksallosen“ zu schreiben.
Kertész: Jahre, Jahre, Jahre habe ich daran gesessen. Ich war damals in meiner ersten Ehe. Albina kam aus einem Internierungslager, sie arbeitete als Kellnerin in einem Restaurant.
SZ: War sie eine fröhliche Frau?
Kertész: Sie hatte einen speziellen Humor, wie es ihn eigentlich nicht gibt.
SZ: War sie eine Frau, die das Leben bejaht?
Kertész: Durch mich, ja. Wie soll ich das erklären? Wie soll ich erklären, warum wir bis zu ihrem Tod 42 Jahre zusammengeblieben sind? Das ist wie ein Tag vergangen. Ich kann darüber nicht sprechen – ich verstehe das nicht.
SZ: Ich würde mir Albina gern besser vorstellen können . . .
Kertész: Als ich sie kennenlernte, stand die Welt rund um sie in Ruinen. Der Vater war ein reicher Bankier und Jude, die Schwester war bei den jugoslawischen Partisanen, der Vater starb. Albina kam von Jugoslawien nach Budapest, um sich zu verstecken. Nach dem Krieg hat sie einen Mann gefunden, aber der wurde bald verhaftet, weil er Dollars geschmuggelt hatte. Er und Albina wurden verurteilt, das Vermögen beschlagnahmt. Albina kam für ein Jahr in ein Lager. Nach ihrer Freilassung hatte sie keine Welt mehr. Eine Freundin hat ihr ein Bett in ihrer Küche angeboten. Durch mich ergab sich für sie eine neue Welt. Ich war wie eine Hausaufgabe für sie.
SZ: Wo zuvor nichts war, war nun jemand, um den Albina sich kümmern wollte?
Kertész: Auch das. Und die Literatur machte das Leben interessanter – vielleicht.
SZ: Nachdem Sie erkannt hatten, dass Sie für die Schriftstellerei gemacht waren, was passierte dann mit Ihnen?
Kertész: Diese Erkenntnis datiert von 1953 oder 1954. 1956, als alle demonstrierten, wollte ich schon nicht mehr aus dem Haus gehen. Ich war erst 27, aber ich habe ganz klar gesehen: Die neue Sprache, die hier versucht wird, werde ich nicht mehr lernen. Ich wollte zu Hause bleiben. Das war das kühnste Abenteuer: zu Hause bleiben. Natürlich: meine Frau wollte . . .
SZ: Albina wollte demonstrieren gehen?
Kertész: Das wollte sie, aber ich konnte es nicht . . . Die ungarische Geschichte ist zu absurd. Ich habe die Abschrift eines Gesprächs. Da fragt ein amerikanischer Diplomat: „Was für eine Staatsform haben Sie?“ Der Ungar antwortet: „Königreich.“ „Und wer ist der König?“ „Wir haben einen Staatsverweser.“ „Und wer ist das?“, fragt der Amerikaner. „Admiral Horthy.“ Dann fragt der Amerikaner: „Ihr größter Feind ist Rumänien?“ Der Ungar nickt, der Amerikaner schließt: „Rumänien ist also Ihr größter Feind.“ „Nein“, sagt der Ungar, „Rumänien ist unser Verbündeter.“
SZ: Horthy war ein nationalistischer Antisemit. Nachdem er 1944 versucht hatte, mit der Sowjetunion einen Waffenstillstand abzuschließen, wurde er von den Deutschen verhaftet. Während Albina kellnerte, haben Sie zum Lebensunterhalt beigetragen, indem Sie Lustspiele schrieben. Da hätten Sie so eine Episode eigentlich gut unterbringen können: Sich über den Antikommunisten Horthy lustig machen, das hätte doch auch die ungarische KP amüsieren müssen.
Kertész: Überhaupt nicht. Der ungarische Kommunismus war sehr nationalistisch. Alle diese kleinen Länder sind unterm Kommunismus nationalistisch gewesen. Die Staatsführungen haben das geschürt und sich zunutze gemacht. Aber mich konnte man nicht manipulieren. Ich war ein blöder Kerl, ich verstand die Welt nicht, ich saß zu Haus und schrieb.
SZ: Und wovon handelten Ihre Lustspiele?
Kertész: Es gab da eine Regel. Erster Aufzug: Mann und Frau verlieben sich. Zweiter Aufzug: In der Bar – das Liebespaar zankt sich. Dritter Aufzug: Sie kommen wieder zusammen und küssen einander.
SZ: Um so konventionelle Stücke witzig zu schreiben, muss man ziemlich gut beieinander sein, oder?
Kertész: Ich weiß nicht. Ich habe das so erlebt: Ich sitze in einem Mauseloch, und dort muss ich arbeiten, vor allem an dem Buch, „Roman eines Schicksallosen“. Aber diese Arbeit hatte gar keinen Sinn.
SZ: Mitte der sechziger Jahre erschien Jorge Semprúns „Die große Reise“ auf Ungarisch. Das wurde bejubelt. Sie haben mir einmal gesagt, das Buch sei in der literarischen Tradition geschrieben. Sie wollten anders über das Lager schreiben. Eine Passage Semprúns schien Ihnen gar aus einem Roman Dostojewskis zu stammen.
Kertész: Ich dachte: Wenn man so über das KZ schreiben muss, um zu reüssieren, dann wird niemand mein Buch je lesen wollen.
SZ: Aber Sie haben nicht resigniert.
Kertész: Ich musste weiterschreiben. Aber ich sagte mir: Ich will nichts.
SZ: Wie haben Sie den Prager Frühling erlebt?
Kertész: Damals blieb ich oft bis um die Mittagszeit im Bett, eines Tages kam Albina nach Hause und knallte mir eine Tageszeitung auf die Bettdecke. Da waren die Truppen des Warschauer Paktes in Prag einmarschiert.
SZ: Hat Sie das schockiert?
Kertész: Nein, es passte zu allem, was ich kannte. In Ungarn war das vielleicht schlimmer als in der Tschechoslowakei und in Polen. Unter Parteichef Kádár, also von 1956 bis 1988, musste man sich verleugnen, man musste ein bisschen zum Schwein werden gegenüber sich selbst – dann ging es. Und die Politik gegenüber Minderheiten war schlimm. Das werden Sie von niemandem hören, nur von mir: In Ungarn braucht man den Antisemitismus.
SZ:Entschuldigung, aber ich kenne Leute, die das auch so sehen. Der Rassismus in Ungarn . . .
Kertész: Und leider haben das alle akzeptiert, auch die jüdischen Gemeinden. Als Jude in Ungarn musste man soviele Kompromisse eingehen, dass am Ende der Charakter ganz verzerrt war.
SZ: 1968 waren Sie keine vierzig Jahre alt. Wie haben Sie Ihr Leben ausgehalten?
Kertész: Sie meinen, ob ich auch ins Theater gegangen bin, vielen schönen Frauen begegnet bin?
SZ: Zum Beispiel. Gab es da schöne Frauen?
Kertész (schüttelt den Kopf): Ich habe in einer Obsession gelebt. Ich weiß nicht, was das war. An den Zustand kann ich mich erinnern – aber den Mann, der ich damals war, kann ich nicht wieder auferstehen lassen. Ich bewunderte ihn: ein tapferer Kerl. Dass ich mein Leben vergeudete, wäre mir nicht eingefallen. Außerdem sind wir abends ausgegangen und haben witzige Leute kennengelernt. Normal war aber auch: Wenn ich in eine Kneipe ging, saß da einer von der Opposition, in eine samtige Jacke gekleidet und eine dicke Zigarre im Mund, und bestellte noch einen französischen Cognac. Das war die Opposition! Noch in den späten achtziger Jahren war das so.
SZ: Im Prinzip lebten Sie wie die Figur in „Fiasko“, die Sie „der Alte“ nennen, in einer Wohnung von 28 Quadratmetern, in Gedanken lieber bei der Schriftstellerei als bei der Realität jenseits Ihrer Wohnung. Wenn Sie nicht an einem Roman oder an einem Lustspiel saßen, haben Sie deutsche Literatur übersetzt, Heidegger, Nietzsche, Wittgenstein, komplizierteste Texte. Haben diese Bücher Sie geprägt?
Kertész: Ja.
SZ: Was heißt „ja“?
Kertész: Nein.
SZ: Ja, nein?
Kertész: Den Stil habe ich mir angeeignet. Vieles ist eine Frage des Stils. Nehmen Sie „Fiasko“: Ich habe das Buch angefangen als einen Büroroman. Ein Mann am Schreibtisch, der einen Roman schreiben will. Aber das war mir nicht genug. Und dann las ich Hemingways „Der alte Mann und das Meer“. Das war so schön: Es war falsch – aber so süß.
SZ: Deswegen heißt Ihre Hauptfigur „der Alte“?
Kertész: Das habe ich noch nie erzählt. Ja. Das war auf einmal da. Und ich habe das mit Genuss gemacht, es hat mich in eine andere Sphäre entrückt. Ich musste Hemingways Welt nur für mich übersetzen. Auch Thomas Mann und Nietzsche liebe ich sehr. Nietzsche lügt nicht. Sein Stil ist grandios. Er hat ganz klar ausgesprochen, was er dachte. Hätte er die NS-Zeit erlebt, er wäre der erste gewesen, den man in ein KZ gesteckt hätte.
SZ: Manche Leute betrachten „Auschwitz“ als ein Phänomen, das von der Moderne hervorgebracht wurde, als die böse Kehrseite der Aufklärung. Denken Sie das auch?
Kertész: Hitler hat nichts Neues gemacht. Die Welt war immer grausam. Nur eines war neu: „Auschwitz“ wurde rational betrieben. Ich sage nicht, dass die Vernichtung Folge der Aufklärung gewesen ist, allenfalls meine ich: Aus dem alltäglichen Leben der zwanziger und dreißiger Jahre konnte „Auschwitz“ hervorgehen. Während der Auschwitz-Prozesse Anfang der sechziger Jahre las ich von einer Frau, die ein Buch über „Die Banalität des Bösen“ geschrieben hatte. Das machte mich ungeheuer neugierig.
SZ: Hannah Arendts Buch ist in meinen Augen nicht besonders gut.
Kertész: Darauf kommt es nicht an. Die Banalität des Bösen: Genau das war es, was ich im „Roman eines Schicksallosen“ zu schildern versuchte. Was mich angeht, war es genug, dass ein Buch unter diesem Titel veröffentlicht wurde. Die Seiten hätte man auch weiß lassen können.
SZ: Seit 2001 leben Sie mir Ihrer Frau Magda zumeist in Berlin. Reisen Sie noch nach Budapest?
Kertész: Ich wäre glücklich, wenn ich Budapest nie in meinem Leben mehr sehen müsste. Aber Magdas Sohn und vier Enkelkinder leben dort!
SZ: In den neunziger Jahren wurden Sie aus antisemitischen Gründen in Ungarn befehdet.
Kertész: Die gleichen Leute haben noch heute das Sagen. Dieselben Leute, die auch in den Zeiten von János Kádár schon am Ruder waren. Es ist sehr traurig, was in Ungarn passiert. Die Intellektuellen passen sich an, aber sie wissen noch nicht an wen. Das ist eine Situation, die ich in Diktaturen mehrmals erlebt habe. Und Ungarns Umgang mit seiner Geschichte ist vollkommen verlogen.
SZ: Dieser Verlogenheit sind Sie entkommen. Sind Sie darauf ein bisschen stolz, heute, da Sie weltbekannt sind?
Kertész: Jetzt zurücksehen und mein Leben als eine Karrieregeschichte betrachten: Das wäre die falscheste Perspektive überhaupt. Mein Lebensweg ist absurd. Das zu beobachten war die beste Schule. Es hätte alles auch ganz anders ausfallen können. Ein bisschen stolz, wie Sie es nennen, bin ich, wenn es mir gelingt, mich selbst in einem Text, den ich schreibe, nicht zu schonen.
SZ: Sie haben mir einmal gesagt: „Vielleicht habe ich keine Liebe in mir.“ Wer Sie kennt, nimmt Sie ganz anders wahr. Was meinten Sie damit?
Kertész: Als meine Mutter gestorben war, musste ich ganz laut sagen: „Ich liebe meine Mutter nicht. Ich mache für sie alles, aber ich liebe sie nicht.“ Ich bin unbarmherzig. Und: Ich wollte niemals Kinder haben – ich hätte kein guter Vater sein können.
SZ: Sie sind wirklich sehr streng mit sich. Lieben Sie sich selbst?
Kertész: Da fängt es an: Sich selbst zu lieben, das ist eine ganz harte Übung. Ich empfinde keine Solidarität mit dem, was ich bin. Aber, natürlich, manchmal gratuliere ich mir selbst. Und dann wieder verspüre ich einen kleinen Ekel gegenüber meinem komfortablen bürgerlichen Zustand. Aber, schauen Sie, das Leben ist ein Kunstwerk. Man muss es aufbauen.