Das böse Gas

Eine Kolumne von Franziska Augstein.

Die Pipeline Nord Stream 2 steht kurz vor der Vollendung. Viele sagen, sie dürfe nicht fertig gebaut werden. Das ist ein Irrtum.

Es ist empörend. Jedes vernünftigen Menschen Vorstellung muss beleidigt sein von der Argumentation, mit der Alexej Nawalny in Russland vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. Unklar ist, wie weit Nawalnys Zuneigung zu einem liberalen, von der Idee der Toleranz durchdrungenen Rechtsstaat reicht. Das spielt aber keine Rolle angesichts der Tatsache, dass es in jeder denkbaren Hinsicht Unfug ist, einem in Deutschland genesenden Patienten vorzuhalten, er habe Bewährungsauflagen nicht genügt.

Alle Kritik an Russlands Führung – im Ausland und auch in Russland selbst – bündelt sich im Schicksal Nawalnys. Seit Wladimir Putin im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, ist die russische Regierung nicht so schwach gewesen. Zweifellos ist der absurde Prozess nicht ohne Putins Machtwort vonstattengegangen. In Deutschland und anderen Ländern wollen viele den Staatschef jetzt sofort bestraft sehen.

Das Ansinnen ist verständlich, wenn auch aus diplomatisch-geopolitischer Sicht heikel. Das gewählte Mittel ist nun allerdings alles andere als einleuchtend: Die Pipeline Nord Stream 2, so wird gefordert, solle nicht fertiggestellt werden. Aus »Solidarität« mit den »gefangenen Demonstranten«, die für Nawalny auf die Straße gingen, so verlangte die Grünenpolitikerin Franziska Brantner, solle der Bau jetzt eingestellt werden. Käme es dazu, würde Deutschland sicherlich Russland schaden, zuallererst aber sich selbst.

Nord Stream 2, obzwar ein von den Anrainerstaaten abgesegnetes und mit europäischem Recht konformes Projekt, ist seit jeher umstritten. Hinter dem Projekt steht bekanntlich das russische, staatsnahe Unternehmen Gazprom. Dazu kommen einige europäische Konzerne: Royal Dutch Shell in den Niederlanden und Britannien, Engie in Frankreich, OMV in Österreich, Wintershall und Uniper in Deutschland und andere. Die Pipeline ist fast fertig. Die Leistung der Ingenieure und aller Arbeiter ist so immens wie das ganze Unterfangen: Von den Gasfeldern Sibiriens durch Russland, dann unter der Ostsee hindurch bis nach Deutschland sind es um die 5000 Kilometer. Die Verlegung der Röhren in Russland hat vor allem Gazprom finanziert. Allein die Verlegung durch die Ostsee wird am Ende rund 9,5 Milliarden Euro gekostet haben.

Bemerkenswerterweise entsprechen die Kosten einigermaßen den Plänen. Bemerkenswert ist auch, dass 9,5 Milliarden Euro im Vergleich zu den Kosten von 8,2 Milliarden Euro für den lächerlichen Bahnhof Stuttgart 21 sich als wenig ausnehmen. Die beteiligten Unternehmen könnten – Leute entlassen gehört heutzutage bei den meisten Konzernen sowieso zum Geschäftskonzept – sich wohl leisten, Nord Stream 2 aufzugeben.

Deutschland könnte ohne Nord Stream 2 auskommen: Dann würden halt die Bürger mehr Geld zahlen fürs Gas, das dann aus herkömmlichen und anderen Quellen bezogen würde – so etwa aus dem kostspieligen Frackinggas, das die USA mit Druck fördern. »Druck« in vielerlei Hinsicht. In den Vereinigten Staaten zerstört die Förderung gefrackten Gases, das durch Druck in den Boden mittels eingeführter Flüssigkeiten aus der Erde herausgeholt wird, ganze Landstriche. Und in der EU haben die USA sich nicht beliebt gemacht, da sie mit Verweis auf Russlands Machenschaften Druck auf Firmen ausübten, die sich am Bau von Nord Stream 2 beteiligten oder beteiligen wollten: Sanktionen wurden angedroht oder verhängt, dieses auch zu dem Zweck, das amerikanische gefrackte Gas zu verkaufen.

Weil in der Diskussion über Nord Stream 2 moralische und wirtschaftliche Gründe in einem Knäuel verschlungen sind, kommt ein Hinweis von Nikos Tsafos gerade recht. Tsafos arbeitet bei der amerikanischen Denkfabrik Center for Strategic and International Studies. Sein Rat ist so gut, dass eigentlich ein jeder darauf kommen könnte: Nicht »ob« Nord Stream 2 fertig gebaut werden solle, sei die Frage; beachtet werden sollten vielmehr die Interessen der verschiedenen Länder.

Machen wir das hier mal, beginnend mit Polen.

Die jetzige polnische Regierung setzt auf Nationalismus. Im Gedenken an Polens Leiden im Zweiten Weltkrieg und die Zeit unter der Fuchtel der Sowjetunion traut man Russland gar nicht und Deutschland wenig. Längst ist Usus, dass russisches Gas, das in Deutschland ankommt, gen Osten zurückgepumpt wird. Dort ist es dann billiger, weil Deutschland gute Kundschaft ist und entsprechend Rabatt hat. Aber die polnische Regierung will ihr Land unabhängig machen von russischem Gas. Lieber kauft man Gas aus Norwegen (eine neue Pipeline ist im Bau) und das teurere amerikanische gefrackte Gas, das per Schiff geliefert wird.

Um die Ukraine sind einige in Deutschland in Sorge. Man fürchtet eine russische Invasion. Das ist, kurz gesagt, derzeit wenig wahrscheinlich. Putin hat genug Probleme in dem Russland, das er regiert. Die Ukraine hat sich seit ihrer Unabhängigkeit wirtschaftlich nicht berappeln können, weil – Demokratie hin oder her – eigensüchtige Oligarchen das Sagen gehabt haben. Das Pipelinenetz datiert aus den Jahren der Sowjetunion und ist seither nicht ordentlich gewartet worden. Das russische Erdgas, das durch ukrainische Pipelines gen Europa fließt, muss zahlreiche Verdichterstationen passieren, von denen möglicherweise einzelne nicht mehr ganz dicht sind, sodass Methan-Gas in die Umwelt austreten könnte. Das Gas, das über Nord Stream 2 laufen soll, würde auf dem Weg von der russischen Küste nach Westeuropa weniger und modernere Verdichterstationen passieren.

Seit Jahren bezieht die Ukraine ihr Gas nicht direkt von Russland, sondern per Rückfluss aus Westeuropa. Wer behauptet, Nord Stream 2 dürfe nicht gebaut werden, weil dann die Ukraine Russland ausgeliefert sei, ist im Irrtum. Wenn Nord Stream 2 benutzt wird, verliert die Ukraine an Transitgebühren, aber das könnte mittels Hilfe von der EU ausgeglichen werden (die EU gibt eh schon sehr viel Geld, um die Demokratisierung des Landes zu fördern). Es wurden – zuzeiten der Sowjetunion – gigantische Gasspeicher in der Ukraine eingerichtet; sie übertreffen alles, was sonst wo in Europa zu finden ist. Diese Speicher sind nötig, weil es immer Zeiten gibt, den Sommer zum Beispiel, in denen weniger Gas gebraucht wird als sonst. Neulich nahm der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, an einer vom „Wirtschaftsbeirat der Union“ organisierten Online-Diskussion teil. Da sagte er etwas Erstaunliches: Die Ukraine könne sich mit der Fertigstellung von Nord Stream 2 arrangieren, wolle dann aber zum Wasserstofflieferanten Nummer eins in der EU werden. Wasserstoff ist die Energiequelle der Zukunft. Wie man damit Öl und Gas ersetzen kann, ist noch nicht ganz klar; die Forschung läuft.

Frankreichs Europa-Staatssekretär Clément Beaune sagte vor ein paar Tagen, die Arbeiten an Nord Stream 2 sollten eingestellt werden. Das war wohlfeil. Frankreich lässt im Moment noch seine zahlreichen Atomkraftwerke laufen; es importiert gefracktes Gas. Frankreich braucht wenig Erdgas aus Russland. Mit der neuen Regierung in den USA möchte man sich auf guten Fuß stellen. Da kann man für einmal die »deutsch-französische Freundschaft« hintanstellen. Auf den französischen Konzern Engie, der an Nord Stream 2 beteiligt ist, muss Beaune keine Rücksicht nehmen: Engies Investitionen sind sehr breit gestreut.

Deutschland möchte ebenfalls gute Beziehungen zu den USA haben. Deshalb sind neue Häfen geplant, wo das gefrackte Gas aus den USA angelandet werden kann; als Erstes wird ein Hafen im norddeutschen Brunsbüttel fertig sein. Der Bau ist an sich überflüssig: Gefracktes Gas geht auf Kosten der Umwelt. Und jetzt schon gibt es in Europa 36 Terminals, wo gefracktes Gas hingebracht werden kann; und die alle sind nicht ausgelastet.

Deutschland ist in einer Sonderposition. 40 Prozent des russischen Gases, das in die EU fließt, werden in Deutschland verbraucht. Auch aus Norwegen bezieht Deutschland Gas, 20 bis 30 Prozent des Verbrauchs. Aber die Produktion in Norwegen wird enden. Wenn Polen sein Gas aus Norwegen bekommt, fällt für Deutschland weniger ab. Die Niederlande, von denen Deutschland auch Gas bezieht, werden die Förderung in der Nordsee ziemlich abrupt einstellen. Es drohen seismische Aufwühlungen, die das platte Land sich nicht erlauben kann.

Die Sonderposition Deutschlands besteht auch darin, alle Sorgen aller Länder zur Kenntnis nehmen zu müssen. Wenn Polen den größten Teil des bisher für Deutschland bestimmten Kontingents an norwegischem Erdgas importiert, so ist das hinzunehmen. Bis die Wasserstofftechnologie ausgereift ist, muss Deutschland mit Öl, ein bisschen Atomstrom, ein bisschen Kohle und eben Erdgas heizen. Und das meiste Erdgas kommt aus Russland. Mag man Putin auch einen Verbrecher schimpfen, er steht in einer Linie mit seinen sowjetischen Vorgängern: Verträge mit Deutschland werden eingehalten.

Was nur wenige bemerkt haben: Sofern der Westen irgendwie daran interessiert sein sollte, dass Russland sich nicht wirtschaftlich komplett China zuwendet und dass die Menschenrechte dort Beachtung finden, muss Nord Stream 2 fertig gebaut werden. Gazprom hat Milliarden investiert, um die Pipeline von Sibirien her zu bauen. Andreas Metz, tätig für den Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, hat dazu gesagt: »Russland macht sich dadurch abhängiger von der EU, denn diese Pipeline kann nicht mal eben Richtung China umgedreht werden.« In einem öffentlichen Schreiben hat der Ost-Ausschuss erklärt: »Je weniger Interessenüberschneidungen Russland mit der EU hat, desto geringer wird der europäische Einfluss dort sein.«

Angenommen Nord Stream 2 würde nicht fertiggestellt, hätten wir es zu tun mit einer Industrieruine, die nicht einmal museal tauglich wäre, weil ja alle Röhren unterirdisch verlegt sind. Da die USA für die westliche Welt immer noch meinungsbildend und Garant der Sicherheit sind, sei schließlich der amerikanische Politanalytiker Nikos Tsafos abermals zitiert: »Es herrscht der Eindruck – in Washington, in Berlin, in Brüssel –, dass Sanktionen (gegen Russland) bloß den Mangel einer Strategie verhehlen, wie die USA mit Russland umgehen sollen.«

Wir müssen nicht annehmen, dass Tsafos’ Empfehlung aufgegriffen wird. Wir sollten aber hoffen, dass Nord Stream 2 fertig gebaut wird.


Spiegel.de, 08.02.2021
Dieser Text stammt aus „Post von Augstein“ – einer Kolumne auf Spiegel.de
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