VON FRANZISKA AUGSTEIN
Was tat Helmut Kohl, als er den Deutschen wider besseres Wissen verkündete, die deutsche Einheit werde den Bürgern keine Kosten verursachen? Lange Monate vor den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 hatten viele Experten den Bundeskanzler gewarnt: Die ostdeutsche Wirtschaft sei im Großen und Ganzen marode. Das kümmerte Kohl nicht. Dem damaligen FDP-Parteivorsitzenden Otto Graf Lambsdorff vertraute er 1990 an, so erzählte Lambsdorff zehn Jahre später: Wenn es um die ostdeutsche Wirtschaft schlecht stehe, müsse man die Bundestagswahlen so früh wie möglich abhalten; also: bevor die Ostdeutschen begriffen, was auf sie zukommen würde.
Was Kohl 1990 machte, entsprach ziemlich genau der Definition des Fremdwörter-Dudens von „Populismus“: Das ist die „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik mit dem Ziel, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen“. Kohl hatte auf positive Weise dramatisiert: Er hatte von „blühenden Landschaften“ geschwärmt, anstatt den Wählern reinen Wein einzuschenken. Dafür wurde er mit der Wiederwahl belohnt.
Merkwürdigerweise wird Kohl nicht als Populist bezeichnet. Woran mag das liegen? 1990 war der Begriff kaum im Schwang. Heute wird er über Gebühr verwendet. Das Wort „Populismus“ kommt so oft vor, dass es keine Bedeutung mehr hat. Einige Universitätsprofessoren versuchen, aus der Erörterung des Begriffs Honig zu saugen. Mit Rückgriff auf Rousseau und seine Idee von der Volonté générale (was man zur Not übersetzen kann in den Ausspruch: Wir sind das Volk) stehen der Diskussion über Populismus Tür und Tor offen. Jedem Normalsterblichen indes dürfte ein Blick in den Fremdwörter-Duden genügen.
Als zu Beginn der 2000er-Jahre einige linke oder linksliberale Politiker in Lateinamerika ans Ruder kamen, wurden sie „populistisch“ genannt. Dazu zählt der bolivianische Präsident Evo Morales: Er galt als Populist, weil er, ein Indio, den ärmsten Schichten Boliviens entstammt und versprach, das Schicksal der Armen zu bessern. Das ist ihm einigermaßen gelungen. Dazu zählt auch der verstorbene Langredner Hugo Chávez: Er versäumte, die großen Ölvorräte Venezuelas für den Ausbau des Bildungswesens und der Infrastruktur einzusetzen. Venezuela geht es heute schlechter als zu Beginn seiner Amtszeit.
Mittlerweile sind lateinamerikanische Länder wieder nach rechts geschwenkt. Die neuen Regierungschefs werden aber nicht als Populisten bezeichnet. Heute wird der Begriff, Donald Trump ausgenommen, vornehmlich auf sogenannte „Rechtspopulisten“ in Europa angewendet: die AfD, die österreichische FPÖ, den französischen Front National. Diese Parteien neigen zu Xenophobie und zu nationalistischem Getue. Wer sie populistisch nennt, vermeidet die klare Beschreibung: Rassisten, Nationalisten.
Eine Bewegung wie Pegida oder eine Partei wie die AfD darf man aus juristischen Gründen nicht „extremistisch“ nennen. Aber das rechtfertigt nicht, sich auf den Begriff „populistisch“ zurückzuziehen. Nehmen wir einmal an, Populisten seien Leute, die für das breite Volk sprechen wollen, dann waren auch die Sozialdemokraten des 19. Jahrhunderts Populisten: Sie sprachen für die Arbeiterklasse. Am Ende sind an sich alle Populisten, die das Volk zu beschwatzen suchen, angefangen mit Helmut Kohl. Interessanter ist die Frage: Welcher Politiker ist kein Populist? Solche gibt es, es sind nicht die schlechtesten.