Helmut Schmidt vereinte ökonomische und politische Urteilskraft. In einem Gespräch, das hier erstmals zu lesen ist, ermahnte er die Deutschen, ihrer Rolle in Europa gerecht zu werden.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Im Juni 2012 empfing Helmut Schmidt in seinem Büro im Redaktionsgebäude der Zeit in Hamburg. Es ging um ein Buchprojekt über deutsche Politik, das bisher nicht realisiert wurde. Das zweistündige Gespräch mit dem Altbundeskanzler, der von 1974 bis 1982 regierte und der an diesem Montag in einem Staatsakt in Hamburg verabschiedet wird, ist hier gekürzt wiedergegeben. Atemraubend erschien das gute Gedächtnis des damals 93 Jahre alten Politikers. Eindrucksvoll sind Schmidts prägnante Einschätzungen und seine von Fall zu Fall scharfen Urteile.
SZ: Herr Schmidt, reden wir über Außenpolitik.
Helmut Schmidt: Finanzpolitik und Außenpolitik fließen ineinander und sind praktisch dasselbe geworden. Die Spielräume der deutschen Politik sind derzeit undeutlich, aber sie werden gewaltig zunehmen. Wegen des Rückzugs Amerikas von der Weltpolitik im Laufe der nächsten Jahre.
Weil die USA an Macht verlieren?
Nein, vor allem wegen der innenpolitischen, demografischen Verschiebungen. Die Latinos und die Schwarzen zusammen werden im Jahr 2050 die Mehrheit der Wähler darstellen. Und die sind interessiert an Gleichheit der Lebenschancen und nicht daran, die ganze Welt zu ordnen und ihre elf Flotten in den Pazifik zu schicken. Aber bis dahin kann noch viel passieren. Und die elf Flotten können noch sehr viel Mist anrichten.
Wissen das die jetzigen Politiker?
Nein. Es wissen auch die Deutschen nicht. Die haben noch nicht begriffen, dass sie ein überalterndes Volk sind. Die Deutschen haben nicht verstanden, dass im Jahr 1900 – da ging mein Vater noch auf die Schule in Hamburg – 1,6 Milliarden Menschen lebten. Heute sind wir sieben Milliarden, und wir werden neun werden. Diese Explosion der Weltbevölkerung führt dazu, dass die Führungsrolle Europas und Nordamerikas zu Ende geht. Und das heißt, dass das Motiv für die europäische Integration sich völlig verschiebt. Es hatte früher zwei Motive gegeben, nämlich – erstens – gemeinsame Verteidigung gegenüber der Sowjetunion; das ist vorbei. Und das andere Motiv war die Einbindung dieses großen Deutschlands im Zentrum Europas. Das zweite Motiv ist immer noch wichtig. Aber jetzt ist das Motiv, das kommt neu hinzu, dass die Europäer allenfalls gemeinsam einen Teil ihrer früheren Rolle in der Welt aufrechterhalten können.
Die USA interessieren sich nicht mehr so sehr für Europa, sondern für den pazifischen Raum. Man könnte meinen, dass die USA dort China irritieren in einer Art und Weise, die die Chinesen zur Aufrüstung geradezu zwingt. Was ist da los?
Die Amerikaner haben elf Trägerflotten, die atomar bewaffnet sind, das heißt elf Flugzeugträger, jeder von fünfzig oder sechzig Schiffen verschiedenster Art begleitet. Die Chinesen haben bisher einen einzigen umgebauten alten Flugzeugträger zu Versuchszwecken. Der Militäretat der Amerikaner macht 45 Prozent der Weltmilitärausgaben aus; der der Chinesen 7 Prozent. Das heißt: Relativ ist der amerikanische Militärhaushalt viel größer als der der Chinesen. Und das heißt: Die Gefahr geht mehr von Amerika aus als von China. Einstweilen. Wie das am Ende dieses Jahrhunderts aussehen wird, weiß ich nicht. Die Amerikaner haben sich unter Obama einen Militärstützpunkt in Australien geschaffen. Zunächst theoretisch, aber es soll ein Marinestützpunkt werden. Und ein Luftwaffenstützpunkt. Und Obama hat Amerika zur pazifischen Macht erklärt. Das sind die USA! Europa ist für sie nicht mehr so wichtig: Es ist nicht mehr umstritten. Das amerikanische Militär und die Nato in dessen Gefolge hat in erheblichem Maße eine Eigengesetzlichkeit entfaltet. Die Amerikaner können diese Entwicklung nicht abbrechen, sie können sie verlangsamen. Das ist denkbar. Aber sie können nicht diese elf Flugzeugträger verschrotten. Sie können auch nicht acht davon verschrotten, auch nicht sechs oder fünf. Das würde eine Revolution in Amerika auslösen.
Was halten Sie von der außenpolitischen Strategie der Bundesrepublik?
Es ist jedenfalls keine Strategie, die ausreichend langfristig ist. Immerhin hat die gegenwärtige deutsche Regierung die bisherige Strategie der europäischen Vereinigung, des europäischen Zusammenschlusses akzeptiert. Dass sie das nicht sonderlich geschickt und weitreichend angelegt betreibt, ist eine andere Sache. Und man muss leider hinzufügen, dass Angela Merkel in England, aber eben durchaus auch in Frankreich, keine Partner gefunden hat, die sie festgehalten hätten an dem Konzept der schrittweisen Erweiterung und Konsolidierung der europäischen Integrationspolitik.
Kann Deutschland überhaupt eine eigenständige Außenpolitik haben? Müssten wir uns nicht darauf verlegen, dass die EU eine gemeinsame Außenpolitik hat?
Die Europäer könnten dann zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gelangen, wenn sie eine Führungsperson hätten, die das bewältigen kann. Haben sie aber nicht. Und haben die Deutschen auch nicht. Die Franzosen sind immer noch gewichtiger als die Deutschen in der Weltpolitik, auch wenn es den Deutschen nicht so scheint. Mir tun alle deutschen Diplomaten ein bisschen leid.
Braucht die Bundesrepublik einen festen Sitz im UN-Sicherheitsrat?
Nein, keineswegs. Diese Idee ging immer über die Reichweite der Deutschen weit hinaus. Ich habe das nie mitgemacht. Alles dummes Zeug! Die Deutschen sind dazu verurteilt, ohne Atomwaffen durch das 21. Jahrhundert zu gehen. Das ist eine Folge des Holocausts. Und anderer Schandtaten. Dass die Deutschen keine Atommacht werden dürfen: Es steht nirgendwo geschrieben, aber es bleibt so. Und deswegen kann das auch nicht wirklich geheilt werden dadurch, dass sie einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat haben. Dann sind die Japaner genauso berechtigt und die Brasilianer schon lange und die Inder auch. Und die Indonesier auch. Und dann kommen die Nigerianer. Nein, das ist alles Unfug.
Wie steht es um die Europäische Union?
Die Gefahr, die ich sehe, ist insbesondere, dass die Europäer auf anstehende Probleme unterschiedlich reagieren. Dass die Engländer ausscheren, kann man notfalls in Kauf nehmen. Was man nicht in Kauf nehmen kann, ist Uneinigkeit zwischen Franzosen und Deutschen – und den Polen. Die Deutschen haben die Polen nicht richtig auf der Rechnung. Aber geostrategisch ist Polen für uns ganz wichtig; sie kommen gleich nach Frankreich, und das schon seit 200 Jahren.
Die Euro-Zone wird in Deutschland viel kritisiert. Brauchen wir eine Volksabstimmung?
Wo steht es, dass wir sie brauchen? Was wir brauchen, sind Mehrheiten in den gewählten Parlamenten. Das ist viel wichtiger als eine Volksabstimmung. Ich bin ein Anhänger der repräsentativen Demokratie.
Deutschland muss alles tun, den Euro zu erhalten?
Ob der Euro auf Dauer bestehen bleibt, ist fraglich, weil die europäischen Institutionen falsch konstruiert sind und nicht wirklich funktionieren. Weder funktioniert die Kommission, noch das Parlament, noch der Europäische Rat. Die einzige europäische Institution, die funktioniert, ist die Europäische Zentralbank. Der Giscard und der Schmidt hatten in den 70er-Jahren ein europäisches Währungssystem geschaffen. Das hatte auch einen Fehler, aber es hatte den großen Vorteil, dass es die nationalen Währungen aufrechterhalten hat. Die wurden, wenn nötig, abgewertet. Die Abwertung führte zum Ausgleich der Zahlungsbilanzen und der Leistungsbilanzen. Heutzutage haben die Deutschen einen Überschuss in der Leistungsbilanz von nahezu fünf Prozent des deutschen Inlandsprodukts. Das ist ein schwerer Verstoß gegen das gesetzliche Prinzip des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. Und entsprechend sind die Defizite der anderen. Deutschland, Holland, Dänemark und ein paar andere machen Überschüsse. Die anderen machen die entsprechenden Defizite. Und dagegen ist kein Kraut gewachsen und kein Kraut vorbereitet. Ob das zu einer Transferunion führt, ist zweifelhaft. Denn die Deutschen haben es nicht begriffen und die Holländer auch nicht.
Sollte es denn eine Transferunion geben?
Das wäre wünschenswert, aber wir haben sechzig Jahre gebraucht, um den gegenwärtigen Status der europäischen Integration zu erreichen, mit mehreren schweren Krisen unterwegs. Aber die haben wir überwunden. Und jetzt sind wir – aus wirtschaftlichen Gründen – in der schwersten Krise, die die europäische Integration erlebt hat. Ob wir sie überwinden werden, ist mindestens fragwürdig. Jedenfalls haben die Deutschen bisher keinerlei große Anstrengung dazu unternommen.
Hat Angela Merkel im Hinblick auf Griechenland eine Salamitaktik betrieben?
Aus ihrer Sicht war das keine Salamitaktik. Sie hat das Problem von Anfang an völlig unterschätzt. Sie war gutwillig. Aber was kam, war zu wenig und kam immer zu spät. Und deswegen musste immer wieder nachgebessert werden. Es gibt ein Präjudiz. Mitte der 70er-Jahre war Italien in einer Zahlungsbilanzkrise. Da haben wir denen zwei Milliarden Mark geliehen, das war damals eine Riesensumme. Und um die Gesetzgebung dafür zu vermeiden, habe ich die Bundesbank dahin gebracht, einen Kredit an die Banca d’Italia zu geben. Aber so, wie die Bundesbanker nun mal gestrickt sind, wollten sie ein Pfand haben. Und die Italiener haben entsprechend Gold verpfändet. Sie haben es später zurückbezahlt und haben ihr Gold behalten. Dieses Präjudiz ist interessant: Es ist ein Präjudiz für deutsche Hilfsbereitschaft gegenüber einem kranken Partner, einem damals leicht erkrankten Partner, und es ist ein Präjudiz für das, was wir jetzt Transferunion nennen. Bisher haben weder die Bundesbank noch der Bundeshaushalt einen einzigen Cent an Griechenland überwiesen. Sondern wer gehandelt hat, war die Europäische Zentralbank
– gegen den Widerspruch der deutschen Zentralbanker. Wir haben Gott sei Dank aber nicht die Mehrheit im Rat der Europäischen Zentralbank.
Ist Deutschland heute völlig souverän?
Es gibt keine souveränen Staaten mehr. Mit Ausnahme von China und den USA. Die meisten Staaten sind durch internationale Verträge gebunden. Das gilt sogar für die Amerikaner und die Chinesen, etwa durch die Verfassung der Vereinten Nationen. Der Begriff der Souveränität ist überholt.
Bis zum Fall der Mauer und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag war die bundesdeutsche Außenpolitik abhängig davon, was die Amerikaner sagten.
Nicht ganz. Beispielsweise gab es in den 70er-Jahren, angesichts von zwei Ölpreisexplosionen, mutwillig durch Saudi-Arabien ausgelöst, erhebliche Konflikte zwischen der Bundesrepublik und Amerika. Und die Bundesrepublik hat sich durchgesetzt. Die Amerikaner hatten enorme Inflationsraten. Wir hatten sie nicht. Wir haben die Amerikaner gezwungen, ihre Inflation zurückzufahren. Die haben damals die Ölpreise subventioniert, um das amerikanische Volk bei Laune zu halten. Nein, die deutsche Außenpolitik war sicherlich abhängig von der Hilfszusage des amerikanischen Bündnispartners, aber dass sie abhängig gewesen sei in jeder Beziehung, ist ein Irrtum. Noch ein Beispiel: Wir haben den Brasilianern in meiner Regierungszeit, gestützt auf den Atomwaffensperrvertrag, alle Möglichkeiten gegeben, Kernkraftwerke zu bauen. Gegen den Widerspruch der USA. Erst gegen Jimmy Carter, dann gegen Ronald Reagan. Wir haben uns durchgesetzt. Und: Die deutsche Ostpolitik ist von Anfang an und bis auf den heutigen Tag – was Herrn Putin angeht – nie im Sinne der Amerikaner gewesen.
Frau Merkel kommt mit Putin einigermaßen gut aus.
Mag sein. Aber sie hat sich von den Amerikanern überreden lassen zur Verteidigung der Menschenrechte. Das hat sie auch China und Iran gegenüber aufrechterhalten. Ob das notwendig war, ist schwer zu entscheiden. Was Russland und China angeht, bin ich der Meinung, es war nicht notwendig, aber da kann man anderer Meinung sein. Natürlich ist Frau Merkel groß geworden in der Opposition gegenüber der Sowjetunion. Sie ist nicht groß geworden mit der europäischen Integration. Sie hat sie überhaupt nicht miterlebt.
Die Kanzlerin war 2011 in Israel und hat in der Knesset unbedingten Unterstützungswillen der Bundesrepublik zugesagt.
Ja, sie hat ein Wort gebraucht, das man nicht hätte brauchen sollen. Sie hat von „deutscher Staatsräson“ gesprochen. In meinen Augen war das ein schwerer Fehler. Weder Schröder noch Kohl hätte diesen Fehler gemacht.
War die Kanzlerin bei der Abschaffung der Wehrpflicht gut beraten?
Das ist einer der Entschlüsse von Frau Merkel aus dem Handgelenk, ähnlich wie die Energiewende. Ausgelöst wahrscheinlich durch den damaligen Verteidigungsminister, den Guttenberg. Die langfristigen Zielsetzungen sind unklar. Klar ist nur, dass Frau Merkel sich hier hat von den Meinungsumfragen leiten lassen. Ähnlich wie sie sich hat leiten lassen von den Meinungsumfragen hinsichtlich der Energiepolitik. Jetzt begreift sie inzwischen, was sie angeleiert hat. Das Gleiche gilt für die Armee.
Ist die deutsche Einigung gelungen? Ich frage nicht nach den menschlichen, sondern nach den ökonomischen Aspekten.
Die Deutschen haben letzten Endes die Wiedervereinigung nicht gut gemanagt. Sie haben die DDR völlig deindustrialisiert. Haben alle vorhandenen Werke meistbietend verkauft an die Konkurrenz, und die hat sie dicht gemacht.
Wäre der damalige Treuhand-Chef Karsten Rohwedder nicht 1991 ermordet worden, hätte er als Sozialdemokrat der ganzen Sache eine andere Richtung gegeben, als seine Nachfolgerin Birgit Breuel es dann tat?
Glaube ich nicht. Ich halte die ganze Treuhand-Veranstaltung für einen schweren Fehler. Einen Fehler, den man nicht rückgängig machen kann.
Wollte die Treuhand den westdeutschen Konzernen ostdeutsche Konkurrenz ersparen?
Ich glaube, die von der Treuhand waren ehrlich überzeugt, dass sie einer guten Aufgabe dienten. Aber was sie nicht gesehen haben: dass sie die Reste der DDR-Industrie verkauft haben an Leute, die kein Interesse an dieser Industrie hatten. Die eher ein Interesse daran hatten, unerwünschte Konkurrenz aus Chemnitz oder Leipzig oder Rostock oder Magdeburg auszuschalten. Magdeburg und Halle: Das sind die schlimmsten Fälle.
Eine private Frage: Im Zweiten Weltkrieg waren Sie Oberleutnant an der Ostfront. Haben die Erinnerungen an den Krieg Sie verfolgt nach Kriegsende?
Nein. Aber die Kriegserfahrung spielte eine Rolle, zum Beispiel bei Friedrich Zimmermann, CSU-Zimmermann. Sie spielte auch eine Rolle bei Franz Josef Strauß. Sie spielte keine Rolle bei Kohl. Kaum eine Rolle bei Genscher. Keine Rolle bei Brandt. Keine Rolle bei Wehner. Das waren die entscheidenden Figuren jener Zeit.
Wehner hatte andere Erfahrungen.
Ganz andere Erfahrungen. Brandt hatte ganz andere Erfahrungen. Die hatten alle keine Kriegserfahrung. Die Kriegserfahrung gilt für mich, für Zimmermann, für Hans-Jürgen Wischnewski.
Wischnewski war bei der Entführung des Flugzeugs „Landshut“ in Mogadischu 1977 Ihr Unterhändler am Ort. Unter Ihrer Führung hat die Bundesregierung sich damals nicht erpressen lassen. Die „Landshut“ wurde gestürmt; die Geisel der RAF, Hanns Martin Schleyer, wurde erschossen. Man weiß, dass Sie damit bis heute hadern. Heinrich Breloer hat einen Film gemacht über diese wohl schwerste Prüfung, der Sie als Kanzler ausgesetzt waren. Er erklärte die Entschlusskraft des Krisenstabs damit, dass die meisten als Offiziere den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hatten. Stimmt das?
Als ausschließliche Herleitung nicht. Aber dass das eine Rolle gespielt hat, würde ich gern glauben. Nicht die Leutnants-Erfahrung, die Kriegserfahrung. Zum Teil waren wir Obergefreite gewesen. Die Kriegserfahrung spielte eine Rolle, nicht die Erfahrung als Offiziere.
Und Sie wären zurückgetreten, wenn das nicht gut gegangen wäre.
Mhm – und hätte Deutschland in einer katastrophalen Situation hinterlassen.
Haben Sie damals einmal geweint?
Nö! Wie komme ich dazu?
Aus Erleichterung, nachdem die Stürmung der „Landshut“ erfolgreich verlaufen war?
Es kann sein, dass ich eine Träne vergossen habe, als das vorbei war. Das kann sein.
Aus: Süddeutsche Zeitung (Bayern) vom 23.11.2015 – Seite 11