Bit­te­schön, es ist nicht mein Geld!

Die EU hat die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens großzügig subventioniert. Genützt hat das den Ländern wenig. Zumal junge Leute sind darüber empört. Am 1. Juli wird Kroatien in die EU aufgenommen. Und wie geht es weiter? Frieden ist käuflich, Wohlstand nicht – ein Reisebericht.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Mit der Eisenbahn zu fahren sei jedem empfohlen, der begreifen will, wie sehr die Balkanstaaten miteinander zerstritten sind. Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik fuhren neulich ein paar Tage lang mit einem ungarischen Nostalgie-Sonderzug durch drei Länder, die früher zu Titos Jugoslawien gehörten: Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina. Am Ende ging es von Sarajevo nach dem ungarischen Budapest. Auf der Strecke wird vier Mal die Lok gewechselt.

Sarajevo liegt in der „Bosnisch-Kroatischen Konföderation“, der einen Hälfte des Staates Bosnien und Herzegowina. Die andere Hälfte ist die „Serbische Republik“. Beide Landesteile stehen miteinander in Fehde. Undenkbar ist es also, dass eine bosnische Lokomotive durch serbisches Gebiet fährt. Daher muss an der Grenze zur Serbischen Republik die Lok getauscht werden. Weil die Geleise kaum genutzt und nicht in Schuss gehalten sind, dauert es Stunden, bis der Zug an die Grenze zu Kroatien gelangt. Kroatien hat noch nie gern serbische Loks durch sein Territorium zuckeln sehen, weshalb nun eine kroatische Lok den Zug ziehen muss. Mit Ungarn hat Kroatien keinen Streit, trotzdem wird an der Grenze die Lok gewechselt. Als der Sonderzug später an einen ungarischen Intercity angekoppelt wird, der Fahrt aufnimmt, kippen in dem Nostalgie-Speisewagen die Gläser um.

Für die rund 400 Kilometer von Sarajevo nach Budapest braucht der Zug sechzehn Stunden. Verwunderlich ist nicht die Reisezeit, verwunderlich ist vielmehr, dass es den beteiligten Ländern überhaupt gelungen ist, sich über die Passage dieses Sonderzuges abzusprechen. Osijek ist die viertgrößte Stadt Kroatiens. Immer noch zeugt das Stadtbild von der Grandezza der k. u. k. Monarchie. Der Fremdenführer spricht fließend Deutsch. Als er ein Kind war, Anfang der Neunziger Jahre, hatte seine Familie auf der Flucht vor dem Unabhängigkeitskrieg ein Zuhause in Nordrhein-Westfalen gefunden. In Osijek ist nicht bloß eine Universität ansässig, wo der junge Mann jetzt studiert, sondern auch eine Seifenfabrik: „Deshalb“, sagt er, „sind die Einwohner hier besonders sauber.“ Aus Erfahrung weiß er, dass die folgende Pointe sitzt: „Nur für die Politiker gilt das leider nicht.“ Unlängst hat auch die Bundesregierung ihr Plazet gegeben: Am 1. Juli wird Kroatien in die EU aufgenommen. Die konservativen Parteien Westeuropas hatten das betrieben. Die SPD wollte nicht querschießen und erklärte mit einem wohlmeinenden Euphemismus, Kroatien habe die Beitrittskriterien fast erfüllt. Tatsächlich dominiert ethnisch-religiöse Klientelwirtschaft das Land, seine Parteien, die Verwaltung und die Rechtsprechung. Die Privatisierung großer Staatsbetriebe hat nicht den Wettbewerb gefördert, sondern vor allem – auf Kosten der nicht-katholischen Minderheiten – den von Patronage bestimmten Schlendrian. Kluge Kroaten wissen aber, wie sie argumentieren müssen: Die kroatische Meeresküste erstreckt sich über 1778 Kilometer, hinzu kommen mehr als eintausend Inseln, nicht im Ernst könne dem kleinen Land zugemutet werden, seine Grenzen ganz allein gegen die Flüchtlinge abzuschotten, die nach Europa streben. Außerdem hat der kroatische Präsident Josipovic sich 2010 für die Gräuel entschuldigt, die seine Landsleute in den Neunzigerjahren in Bosnien verübten.

Die von den kroatischen Ustachi 1941 zerstörte Synagoge in Zagreb hat Kroatien aber nicht wieder aufgebaut, eine Entschädigung gab es auch nicht. Und für die Verbrechen an Serben, Sinti und Roma im KZ Jasenovac nach 1941 haben weder die Kroaten noch die katholische Kirche je um Verzeihung gebeten. Dieser Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sagt der frühere Balkan-Korrespondent Heiko Flottau, zeuge nicht gerade von „EU-Reife“. Trotzdem wird Kroatien nun also EU-Mitglied.

Die Bundesrepublik hätte sich als Letzte leisten können, dagegenzustimmen: Der damalige Außenminister Genscher war vorgeprescht und hatte die Unabhängigkeit des Landes im Dezember 1991 anerkannt. Dieser Affront gegenüber den EG-Staaten ließ sich schnell reparieren. Übel für die Kroaten war indes, dass Genscher vom Balkan keine Ahnung hatte und auf Franjo Tudjman setzte, einen Antisemiten und späteren Kriegsverbrecher, der von Demokratie nicht mehr hielt als sein serbischer Gegner Slobodan Milosevic. Bis heute träumen Ökonomen von der Wirtschaftskraft, über die Kroatien 1989 verfügte.
Tudjmans Regentschaft, die 1999 endete, habe das Land zehn Jahre gekostet, sagt der 41 Jahre alte Denis Rubic, der eine Öko-Kirschplantage leitet. Weil er in Deutschland studiert hat, werde er in seiner bornierten Heimat als „Deutsch-Kroate“ scheel angesehen – „meine Rückkehr nach Deutschland ist nicht ausgeschlossen“. Gleichzeitig meinen etliche Kroaten es nicht bloß scherzhaft, wenn sie sagen, man solle ihr Land zum 17. Bundesland machen. Deutschland steht für Ordnung, für Rechtssicherheit. Wenn ein deutscher Parlamentarier seinem Sprössling einen kleinen Büro-Auftrag zuschanzt, ist das aus kroatischer Sicht ein lächerliches Delikt.

Seit dem Krieg sind Kroatien und Serbien einander nicht grün geworden. Einig sind sich beide Seiten freilich darin, dass es grässlich von der EU gewesen sei, vor ihnen Bulgarien und Rumänien aufzunehmen: warum ausgerechnet sie, die echten Korruptionsspezialisten, die Hinterwäldler am östlichen Rande Europas? So ungefähr klingen die Argumente. Nicht bedacht wird dabei, dass die Nachfolgestaaten Jugoslawiens sich in ihrem von den Staatsmedien ausgeteilten propagandistischen Gezeter völlig verzettelt haben.

Letzteres ist leider auch ein Ergebnis des Kosovo-Kriegs von 1999. Damals postulierte die Bundesrepublik zusammen mit der Nato und der US-Außenministerin Madeleine Albright, dass Serbien der Aggressor sei. Man wollte nicht sehen, dass es sich um einen Bürgerkrieg handelte, den die albanischen Freischärler der UCK jahrelang – aus durchaus verständlichen Gründen – mitangefacht hatten. Die Nato ergriff Partei für die Albaner und bombardierte serbische Stellungen im Kosovo. Als der Nato die Ziele ausgingen, bombardierte sie Belgrad und andere Teile Serbiens außerhalb des Kosovo. Milosevic war bei den meisten serbischen Zivilisten nicht sonderlich beliebt. Aber immerhin sprengte er nicht Brücken und Eisenbahnen und Belgrader Häuser in die Luft.

Kein Wunder ist es, dass viele Serben, die damals einfach in Frieden leben wollten, seither der Meinung sind, dass serbische Kriegsverbrecher nicht nach Den Haag ausgeliefert werden sollten. Dieses aber war eine entscheidende Voraussetzung für die Frage, welcher Balkan-Staat zuerst in die EU aufgenommen werde. Kroatien gab sich da williger – zwei angeklagte Militärführer wurden vor einiger Zeit mangels Beweisen freigesprochen, was den Serben wieder einmal zu zeigen schien, dass der Westen mit zweierlei Maß messe.

Die Serben sind Kummer gewohnt. Gewohnt sind sie, nicht anders als ihre Nachbarn, seit jeher auch ans Klagen. Wenn neue Zurücksetzungen kommen, dann bestätigen die nur, was die Großeltern schon erzählt haben: Erst wurden die Serben vom Osmanischen Reich unterdrückt und missachtet, dann kamen 1941 die Deutschen, dann die Nato, jetzt die EU. Der ehemalige serbische Präsident Boris Tadic lädt in Belgrad in den prunkvollen Aero-Club ein. Er gilt als liberal, als ein Freund der EU. Vor allem aber ist er als der „serbische George Clooney“ bekannt. So gut, wie er aussieht, redet er auch. Und er redet der EU nach dem Munde. Deshalb sagt der schöne Boris Tadic „stakeholder“, wenn er serbische Bürger meint. Die jetzige Regierung wird von Ivica Dacic angeführt, der früher Milosevics Regierungssprecher war. Seine „Sozialistische Partei“ steht in der Tradition Milosevics, weshalb Dacic einleiten konnte, was bisher nicht möglich war: die Anerkennung des Kosovo als eigenständigen Staat. Auch über den Norden des Kosovo, wo vor allem Serben leben, die sich von den Albanern verfolgt fühlen und ihre Waffen zu Hause regelmäßig putzen, könnte er mit seinem kosovarischen Widerpart einig werden – wenn beide es denn wollten.

Was aus internationaler Sicht machbar und nötig sei, beschreibt der deutsche Botschafter in Belgrad. Es geht vor allem ums Geld. Frieden ist käuflich. Und die Serben im Norden Kosovos müssen sich darauf verlassen können, dass sie in einem unabhängigen Kosovo nicht arbeitslos werden, sofern sie es nicht eh‘ schon sind. Im Übrigen ist der Botschafter Heinz Wilhelm der Meinung, dass Serbien „besser ist als sein Ruf“. Immerhin hat der serbische Staatspräsident Nicolic sich neulich für das Massaker in Srebrenica 1995 entschuldigt. Allerdings hat er nicht gesagt, dass die Serben damals einen „Genozid“ an Muslimen verübt hätten (für die dann fälligen Entschädigungen wollte er nicht einstehen). Das wird den Serben seither vorgehalten.

Der Großmufti Husein Kavazovic, das Oberhaupt aller Muslime in Bosnien und Herzegowina, ist weiser als die Medien. „Srebrenica hat für Serbien mehr Bedeutung als für die Bosniaken“, sagt er, „so wie Auschwitz für die Deutschen mehr Bedeutung hat als für die Juden.“ Kavazovic residiert in Sarajevo, in der früher religiös und ethnisch bunt gemischten Stadt leben heute vor allem bosnische Muslime.
Für Besucher aus Westeuropa hat der Großmufti zwei Hauptbotschaften: Der Aufbau von Bosnien und Herzegowina werde nicht gerade beflügelt, wenn die EU lediglich „zweit- und drittklassige Leute“ schicke. Damit spielt Kavazovic wohl auch auf Christian Schwarz-Schilling an, den früheren deutschen Postminister, der sich 2006 und 2007 als Hoher Repräsentant der UN für Bosnien und Herzegowina den Namen „Schlaf-Schilling“ erwarb, weil er bei Sitzungen oftmals einnickte. Mindestens ebenso wichtig ist dem Großmufti, dass Muslime „immer schon hier gelebt“ hätten: „Wir sind Europäer.“ Mit der Auslegung des Koran, wie sie andernorts praktiziert werde, hätten sie nichts zu tun.

Ungern spricht Husein Kavazovic über das saudische Engagement in Sarajevo. So groß sei das gar nicht: „Muslime haben mehr Herz als Geld.“ Tatsächlich hat Saudi-Arabien in den Neubauvierteln der Stadt lauter Moscheen errichten lassen. Im kleineren Tuzla haben die saudischen Wahhabiten Erfolg. Dass sie es indes mit der Bekehrung Sarajevos nicht allzu leicht haben werden, bezeugt das Straßenbild: Die Frauen tragen allenfalls ein Kopftuch. Unter den Mädchen ist „bauchfrei“ mit knackenger Jeans in Mode. Sarajevo scheint die Kriegsjahre überwunden zu haben, es macht den Eindruck einer fröhlichen Stadt. Dass in Bosnien und Herzegowina Misswirtschaft und Klientelismus regieren, sieht man nicht. Aber es gibt viele deftige bosnische Witze darüber. Einer geht so: „Wenn in Bosnien ein normaler Mensch auf eine Mine tritt, verliert er mindestens ein Bein. Wenn das einem bosnischen Politiker passiert, zerreißt sie ihn, bis nur noch das Arschloch übrig bleibt – und das wird dann Minister.“

Und noch ein anderes großes Problem sieht man Sarajevo nicht an: Der Staat Bosnien und Herzegowina ist eine Art Abfallprodukt, er wurde übereilt gegründet, weil die westlichen Verhandlungsführer in Dayton 1995 sich über die Beilegung des Krieges freuten und nun nicht Feinheiten aufs Tapet bringen wollten, die den Krieg wieder anschüren könnten.
Ein Unding ist es, dass Bosnien und Herzegowina als zweigeteilter Staat geschaffen wurde, dessen Hälften – die Serbische Republik und die Bosnisch-Kroatische Föderation – einander spinnefeind sind. Unmöglich ist, dass der neue Staat mit einem institutionellen Gefüge versehen wurde, das vernünftiges Regieren von Anfang an quasi ausschloss. Vollends peinlich ist, dass beim Abkommen von Dayton „offenbar kein Jurist zugegen war“, wie der Historiker und frühere Botschafter Slobodan Soja es ironisch-süffisant formuliert. Wie anders, fragt er, sei es möglich gewesen, dass 1995 ein Wahlrecht verabschiedet wurde, demzufolge Angehörige von Minderheiten nicht in ein hohes politisches Amt gewählt werden dürfen?

Das ist eine Farce, und sie macht Geschichte. Vor vier Jahren, erzählt Soja, hätten Angehörige von Minderheiten, der prominente Jude Jakob Finci und der Roma Dervo Sejdic, sich zur Wahl aufstellen lassen wollen. Das war durchaus als PR-Gag gedacht. „Als ihnen die Kandidatur – gesetzesmäßig – verweigert wurde, klagten sie vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof. Der entschied zu ihren Gunsten. Daraufhin hieß es von Seiten der EU, sofern das Wahlrecht nicht geändert werde, könne sie das Ergebnis neuer Wahlen in Bosnien und Herzegowina nicht anerkennen.“ Slobodan Soja schließt: Das passe beiden Regierungen, der von der Serbischen Republik und der von der Bosnisch-Kroatischen Konföderation. Er sagt das so, weil die gemeinsame Staatsregierung von beiden als bedeutungslos gilt.

Bosnien und Herzegowina ist kein „failed state“. Dieser Staat mit dem komplizierten Namen wurde von Anfang an falsch eingerichtet. Die Menschen dort erleben das bei jeder Gelegenheit. Die politisch engagierte Tija Memisevic vom „European Research Centre“ in Sarajevo sagt den Besuchern aus Deutschland: „Unsere Politiker hier tun nichts für die Bevölkerung. Alle Parteien, mit vielleicht einer Ausnahme, sind korrupt. Was die EU an Aufbauhilfe gibt, wird falsch ausgegeben.“ Und dann zuckt die stattliche Frau mit den Schultern und sagt: „<<Bitteschön>>, es ist nicht mein Geld! Es ist Ihr Geld. Tun Sie etwas!“
Mit Kroatiens Beitritt zur EU wird sich die machtpolitische Gemengelage auf dem Balkan verschieben. Die Situation auf dem Schachbrett ist von da an eine ganz andere. Die Einflussreichen – König, Dame, Turm und so weiter – werden sich neu positionieren. Dass es den Bauern besser gehen wird, ist nicht abzusehen.


 Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 26.06.2013 – Seite 12