Herold der Helden

Stefan Zweigs Aktualität: Wie Literatur Geschichte schreibt

VON FRANZISKA AUGSTEIN

In Ingo Schulzes Roman „Neue Leben“ kommt der Schüler Titus Holm als Gast eines Cafés in eine kleine Not, weil er kurz zuvor Stefan Zweigs Erzählung „Zwang“ gekauft hat und nun nicht weiß, ob er noch die Rechnung bezahlen kann. „Zwang“ handelt davon, dass ein verliebter junger Mann zum Kriegsdienst eingezogen wird. Der Schüler Titus Holm soll einen Aufsatz über „den Aggressor Bundeswehr“ verfassen. Außerdem steht seine Einberufung zur NVA ins Haus. Hat nicht jeder Soldat die Aufgabe, im Zweifelsfall ein Held zu werden?

Eine andere Novelle Stefan Zweigs, „Widerstand der Wirklichkeit“, ist die Geschichte einer Liebe, die durch den Ersten Weltkrieg zerstört worden ist. Als der Pariser Verlag Grasset sie im vergangenen Herbst unter dem Titel „Voyage dans le passé“ erstmals auf Französisch publizierte, war sie im Nu ein Bestseller (SZ vom 21. 2. 2009). Die Franzosen kennen Stefan Zweig vor allem als Autor des Romans „Verwirrung der Gefühle“, der für das Fernsehen in einer elfteiligen Serie verfilmt wurde. Von dem Evergreen „Sternstunden der Menschheit“ haben die wenigsten Franzosen je gehört. Stefan Zweig gilt in Frankreich als Schriftsteller, der schön beziehungsreich über Beziehungsdinge schreiben konnte. Das mag den Erfolg der Publikation von „Widerstand und Realität“ erklären. In Deutschland ist die 1987 in der Werkausgabe publizierte Novelle nur wenigen bekannt.

Hierzulande wird Stefan Zweig seit jeher viel gelesen. Nicht bloß als Autor von Liebesgeschichten wird er geschätzt, sondern mehr noch als der Verfasser historischer Porträts und Miniaturen, genauer gesagt: als ein Schriftsteller, der wie wenige andere der Kontingenz der Geschichte, dem Wirrwarr aus Zufällen und Handlungszwängen Paroli bot, indem er die Figuren, auf die er sein Augenmerk richtete, in ihrem Scheitern oder in ihrer Gemeinheit überhöhte. Auch in schlechten oder glücklosen Menschen wie dem Polizisten und Diener aller Herren Joseph Fouché oder der Königin Maria Stuart fand der Humanist Stefan Zweig wahre Größe. Er schilderte Helden, er konnte nicht anders.

In diesem Jahr ist das Heldentum en vogue: Am Einstein-Forum in Berlin hat kürzlich eine Tagung über Helden stattgefunden. Das diesjährige Sonderheft des Merkur wird sich mit Helden befassen. Der seit 1973 von der Körber-Stiftung ausgerichtete Wettbewerb „Geschichtspreis des Bundespräsidenten“ läuft heuer unter dem Titel: „Helden: verehrt – verkannt – vergessen“. Erst dreimal in der Geschichte des Preises hat ein Thema bei den Jugendlichen mehr Anklang gefunden als dieses: 1831 Beiträge gingen ein.

Wird von Helden derzeit so gern geredet, weil unsere Gesellschaft zwar – mit Brecht gesagt – nicht so unglücklich ist, sie „nötig“ zu haben, dafür aber so unerfüllt, sie herbeizusehnen? Wirkt die Politik der großen Koalition so einfallslos, dass herausragende Gestalten gefragt sind? Suchen wir die Bestätigung, dass Einzelne viel erreichen können, weil die Europapolitik so unpersönlich ist? Was sind das für Zeiten, in denen die Deutschen sich für Helden interessieren?

Stefan Zweig hat das Phänomen 1929 in seinem Buch über Joseph Fouché beschrieben, fügte aber an: „Im realen, im wirklichen Leben, in der Machtsphäre der Politik entscheiden selten – und dies muss zur Warnung vor aller politischen Gläubigkeit betont werden – die überlegenen Gestalten, die Menschen der reinen Ideen, sondern eine viel geringwertigere, aber geschicktere Gattung: die Hintergrundgestalten.“

Als Zweig seine Bücher schrieb, war der Held in der Regel ein Mann und kam mit einer Waffe in der Hand. Aus Sicht der jeweiligen Vaterländer starb jeder gefallene Soldat den Heldentod, auf dem Feld der Ehre. Und damit punktum. Zweig für sein Teil hat allerdings am liebsten zwielichtige oder scheiternde Gestalten auf das Piedestal erhoben. Der jüdische Großbürgersohn aus Wien war ein Herold ziviler Größe. 1929 schrieb er: „Unsere Zeit liebt heute heroische Biographien, denn aus der eigenen Armut an politisch schöpferischen Führergestalten sucht sie sich höheres Beispiel aus den Vergangenheiten.“

Mit seinen Büchern suchte er der gängigen martialisch-dumpfen Heldenverehrung entgegenzuarbeiten. Zweig war besessen von der Idee, dass die Geschichte nicht – wie damals üblich – als Abfolge von Kriegen und Konflikten dargestellt werden dürfe. Nein, er wollte mit seinen Büchern daran erinnern, dass alle Menschen einander gleichen, in Begeisterung und Leid, in Liebe und Hass.

Sein Vorbild – und in einem Buch auch sein Alter Ego – war Erasmus von Rotterdam. Allem Streit und allen Kriegen zum Trotz mussten die Europäer eines Tages erkennen, dass sie zusammengehörten, dass sie einander verbunden waren durch gemeinsame kulturelle und historische Wurzeln und allseits geteilte Ideale.

Aus diesem Blickwinkel schrieb Zweig seine historischen Bücher. Zu seiner Zeit war er bei den Fachhistorikern verpönt. Wenn sie keine Kampagne gegen ihn anzettelten, so lag das vor allem daran, dass sie ihre Ranküne schon gegen Emil Ludwig richteten. Wie Zweig war auch Ludwig ein höchst erfolgreicher Verfasser historischer Biographien. Dafür haben deutsche Ordinarien ihn gnadenlos gegeißelt. Seitdem jedoch vor zehn oder zwanzig Jahren die Idee sich durchgesetzt hat, dass auch Historiker nicht ganz objektiv sein können, dass sie sich von einem „erkenntnisleitenden Interesse“ steuern lassen, ist die Grenze zwischen dem Romancier und dem Fachhistoriker verwischt.

Die Vertreter der Postmoderne haben dem Publikum gar weismachen wollen, alle Geschichtsschreibung sei in Wahrheit romanesk. Dem hätte Zweig aus tiefem Herzen widersprochen. Es wäre ihm geradezu amoralisch vorgekommen. Sein humanistisches Credo verbot es ihm, Geschichtsschreibung als l’art pour l’art zu betreiben.

Zweigs pointierte Schilderung politischer Zusammenhänge und seine sinnensatte Darstellung historischer Charaktere würde manch ein heutiger Historiker gern nachmachen – wenn er denn dazu in der Lage wäre. Die Bücher von Autoren wie zum Beispiel Saul Friedländer und Eric Hobsbawm zeugen davon, dass auch Fachhistoriker ihr Publikum stilistisch betören können. Im Hinblick auf das Studium der historischen Quellen hielt Stefan Zweig es so wie Lion Feuchtwanger, der bei passender Gelegenheit einmal den Ratschlag zitierte, den Mark Twain dem angehenden Romancier Rudyard Kipling gab: „Junger Mann, zuerst verschaffen sie sich einen Überblick über die Fakten, dann können Sie sie verzerren, wie es Ihnen beliebt.“

Beide, Zweig und Feuchtwanger, waren akribische Rechercheure. Das eint sie. Ganz unterschiedlich war indes ihr Blick auf die Ereignisse, die sie beschrieben. Während Zweig das in den Vordergrund rückte, was man heute den „individuellen Handlungsspielraum“ nennt, zeigte Feuchtwanger seine Figuren als Spielbälle der Geschichte. Wie Stefan Zweig glaubte auch er, dass die Menschheitsgeschichte doch eigentlich vom Dunkel ins Licht führen müsse, von der Blödheit zur Vernunft. Aber anders als Zweig betrachtete Feuchtwanger die unfassliche Geschichte selbst als den wahren Helden der Erzählung. Zu Zeiten der Nazidiktatur waren seine Bücher deshalb bei allen Gegnern Hitlers, die sich Tag auf Tag immer nur in ihrer Ohnmacht erlebten, ganz besonders beliebt: Mochten sie selbst auch hilflos sein, so konnten sie doch immerhin auf den Gang der Geschichte vertrauen.

Die unterschiedliche Weltsicht von Stefan Zweig und Lion Feuchtwanger hat sich seit den sechziger Jahren in der deutschen Geschichtswissenschaft widergespiegelt: Auf der einen Seite stehen die Funktionalisten, die auch einen Mann wie Adolf Hitler lediglich als Rad, wenngleich als ein sehr großes, in dem Gefüge des NS-Staates betrachten. Auf der anderen Seite stehen die Intentionalisten, jene also, die sich wie Zweig mit der Wirkmächtigkeit der Individuen beschäftigen. Es kam nicht von ungefähr, dass der konservative Hitler-Biograph Joachim Fest, der Zweigs Herangehensweise näher stand als der von Feuchtwanger, sich nachsagen lassen musste, er habe sich allzu sehr in Hitler eingefühlt. Nicht wenigen Lesern des hocherfolgreichen Buches erschien es, als habe Fest den „Führer“ unversehens zum Helden gemacht.

Die Falle, in die Joachim Fest da getappt war, hat Stefan Zweig umgangen. Auch er schrieb über Hitler, aber er tat es mittels einer Parabel. „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“ heißt das Buch, in dem er 1936 den autoritären Reformator als einen geistigen Bruder Hitlers darstellte: „Nie wird er einen Kompromiss abschließen, denn . . . einzig diese seine steinerne Unerschütterlichkeit, diese eisige und unmenschliche Starre erklärt das Geheimnis seines politischen Weges.“

Wenige Jahre später hätte Zweig Hitler nicht mehr mit Calvin verglichen. Schon 1934 war er nach London emigriert, von dort flüchtete er nach New York und ließ sich dann mit seiner Frau in Brasilien nieder. Dort überkam ihn die grauenhafte Einsicht in seine eigene Schwäche. 1929 hatte er über Joseph Fouché geschrieben: „Immer ist dem wahrhaft Starken das Exil keine Minderung, sondern nur Kräftigung seiner Kraft.“ Der Schriftsteller und seine Frau gehörten nicht zu den „wahrhaft Starken“.

Mit seinem Selbstmord 1942 hat Stefan Zweig nicht gezeigt, dass seine Art der Geschichtsschreibung ungesund gewesen wäre. Reden über Helden ist immer heikel, aber doch zugleich so ermunternd schön. Gefährlich wird es erst dann, wenn das Publikum nicht mehr nach den Helden in der Geschichte sucht, sondern nach „dem starken Mann“ in der Gegenwart.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 16.06.2009 – Seite 14
LITERATUR
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