Wir und die Taliban

Deutschlands Leumund in der Welt

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Während und nach der Fußballweltmeisterschaft waren die Deutschen eine Zeitlang Weltmeister im Beliebtsein. Bei den Polen galten sie als freundlich, bei Afrikanern als tolerant. Die Spanier priesen sowohl ihre Pünktlichkeit als auch ihr Temperament. Die Briten hielten es kurzzeitig für möglich, dass die deutsche Geschichte bei Adolf Hitler nicht stehengeblieben sei. Und fünfzig Prozent aller befragten Niederländer fanden die Deutschen einfach „nett“, während sie früher zur Charakterisierung des Nachbarn ihre Kreuzchen bevorzugt neben den Wörtern „arrogant“, „unsympathisch“ und „kriegslüstern“ machten.

Der fußballselige Patriotismus wurde den Deutschen allseits gegönnt: Endlich schien die Nation ein unverklemmtes Verhältnis zu ihrer Fahne und sich selbst zu haben. Nicht alle diese großmütigen Einschätzungen waren nur von Lust und guter Laune inspiriert. Während die Österreicher früher halb neidisch, halb enerviert auf die Bundesrepublik schauten, haben sie – ein Umfrageinstitut tat sich um – heutzutage eher den Eindruck, es mit „planlosen“ und „erfolglosen“ Pessimisten zu tun zu haben. Da kann man leicht großzügig sein. Für die Franzosen gilt Ähnliches: Die ökonomische Malaise im Gefolge der deutsch-deutschen Einigung und die innereuropäische Zurückhaltung der Deutschen machen die Franzosen der Bundesrepublik gewogen. 1990 fürchteten viele sich vor neuer Großmannssucht auf der anderen Rheinseite. Die blieb aus. Das stimmt die Franzosen milde. Kenner bezeugen, die deutsche Küche sei besser als ihr Ruf.

Die Zeit drängt, aber zu was?

Die vorzügliche Reputation, welche die Bundesrepublik in China genießt, ist nicht nur auf den rasenden Imageträger Michael Schumacher zurückzuführen, der in China fast so bekannt ist wie Hitler. Angesichts der „miserablen Weltsicherheitspolitik von George W. Bush“, schrieb der Humboldt-Stipendiat Rong Fan vor einigen Monaten in der Berliner Zeitung, fühle China sich den Deutschen doppelt verbunden. Deshalb vergibt die Regierung der Kanzlerin, wenn diese den Dalai Lama trifft. Außerdem finden viele Chinesen es abstoßend, wie hartnäckig einige japanische Politiker die Kriegsschuld ihres Landes leugnen. Um so angenehmer kommt ihnen Deutschland vor.

Dass die ernsthafte Beschäftigung mit der eigenen Geschichte dem deutschen Leumund gutgetan hat, belegt auch eine Untersuchung der Bertelsmannstiftung aus dem vergangenen Jahr: 57 Prozent der Israelis schätzen die Bundesrepublik – und es stört sie nicht, dass sie auch in vielen arabischen Ländern angesehen ist. Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung hat das gute Ergebnis noch übertroffen: Ihr zufolge sind die Deutschen bei 67 Prozent aller Israelis beliebt, die ihr zudem größeren Einfluss in der EU wünschen.
Das sieht die Bundesregierung nicht anders. „Die Zeit drängt“, sagte Angela Merkel im vergangenen September vor der UN-Vollversammlung, die Deutschen seien bereit, „mehr Verantwortung zu übernehmen“. Die Kanzlerin bezog das auf ihren Ehrgeiz, für die Bundesrepublik einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erwirken. Dass die Zeit dränge, findet auch die Bush-Regierung, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen solle, fordert sie seit langem.

Ihr geht es allerdings nicht um den Sicherheitsrat, sondern um den Süden Afghanistans, wo die Amerikaner, Briten, Kanadier und ein paar Niederländer in einem militärischen Konflikt engagiert sind, von dem Generäle sagen, dass er nicht zu gewinnen sei. Das bedeutet: Ohne Aussicht auf ein Ende der Kämpfe werden weiterhin Soldaten sterben. Aus Sicht der Vereinigten Staaten sollen möglichst Angehörige verschiedener Nationen darunter sein. Es geht nicht in erster Linie um militärische Verstärkung (US-Verteidigungsminister Gates hält nicht viel von den europäischen Natotruppen), sondern wohl eher darum, dass die Wähler in den USA gar nicht erst auf die Idee kommen sollen, zu fragen, warum andere Staaten den Kriegseinsatz in Südafghanistan offenbar für sinnlos halten.

Würde die Bundesregierung ein paar Soldaten in Südafghanistan opfern, wäre sie bei den amerikanischen Freunden besser angeschrieben. Nicht bloß amerikanische, auch deutsche Kommentatoren sagen, dass die Vereinigten Staaten von den Deutschen machtpolitisch „enttäuscht“ seien. „Jedes längere Vier-Augen-Gespräch“, berichtete der erfahrene Radiokorrespondent Jochen Thies, „fördert diesen Eindruck zutage“. Für Regierungskreise trifft das zweifellos zu, die amerikanische Bevölkerung denkt anders: Im Frühjahr 2007 wusste jeder vierte damals befragte US-Bürger, dass die Deutschen von einer Frau regiert werden, 35 Prozent betrachteten die Bundesrepublik als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Lediglich dreizehn Prozent monierten die Abwesenheit deutscher Truppen im Irak.

Seit der Klärung der deutschen Frage 1990 war die Rolle, die Deutschland künftig spielen solle, etwas ungewiss. Helmut Kohl – das gehört zu seinen bleibenden Verdiensten – wollte keinen umstürzenden Innovationen: Er beanspruchte keinen Sitz im Sicherheitsrat und war auch nicht darauf erpicht, Bundeswehrsoldaten in entlegene Weltwinkel zu entsenden. Der langjährige Außenminister Genscher meinte, vom Rande her könne man besser makeln. Im Kosovo bewiesen Gerhard Schröder und Joschka Fischer, dass Deutsche wieder Krieg führen können, zur Not auch gegen das Völkerrecht. Anlässlich des Irak-Krieges zeigte der Kanzler, dass er nicht jede Invasion mitmacht. Das hat ihm respektvolle Zustimmung von Millionen eingetragen. Nicht aber die der US-Regierung. Und auch jene Berichterstatter waren kritisch, die ihr Berichtsgebiet so verständnisvoll pflegen, dass sie von Pentagon-Pressesprechern kaum zu unterscheiden sind.

Angela Merkel wusste, was ihre vordringliche außenpolitische Aufgabe als Kanzlerin war: Das Verhältnis zu den USA zu „reparieren“. Unter Helmut Kohl hat sie gelernt, mit männlichen Überfiguren umzugehen. Auch mit George W. Bush verträgt sie sich gut. Viele Zeitungen im In- und Ausland haben Merkel dazu gratuliert, das Verhältnis zu den USA wieder ins Lot gebracht zu haben. Merke: Die Bundesrepublik gilt vor allem dann als ein einflussreicher Staat, wenn sie sich nicht gegen die US-Regierung stellt.
Vor dem Prüfstein, der entscheidend dafür ist, welchen Leumund die Bundesrepublik bei der amerikanischen Regierung genießt, scheuen deutsche Diplomaten und Politiker gleichermaßen zurück: vor einem sinnlosen Einsatz deutscher Soldaten im Süden Afghanistans.

Der offiziellen Rhetorik zufolge gibt es dort Reste der Taliban, die man unterkriegen muss, um Afghanistan zu befrieden. Näher an der Wahrheit ist der Ende 2007 veröffentlichte Bericht eines think tanks namens „Senlis Council“: In mehr als der Hälfte des afghanischen Territoriums haben die Taliban sich mittlerweile wieder festgesetzt. Einige westliche Experten sagen, die Frage sei nicht, ob die Taliban Kabul wieder übernähmen, sondern wann sie es täten. Fünfzehn Milliarden Dollar, die dem Land gegeben wurden, sind falsch investiert worden oder in privaten Taschen verschwunden. Dem Senlis-Bericht zufolge ist die Lage in vielen Regionen Afghanistans vergleichbar mit der in afrikanischen Hungergebieten. Längst schon kann man nicht mehr unterscheiden, ob die westlichen Streitkräfte gegen die Taliban kämpfen oder gegen „Aufrührer“, die sich den Taliban anschließen, weil sie nicht tatenlos zusehen wollen, wie ihre Familien hungern.

Ja, die Deutschen haben Einfluss

Unter den Taliban gibt es menschenverachtende Fanatiker und gemäßigte Islamisten. Deutschland hat während des 20. Jahrhunderts ein gutes Verhältnis zu Vertretern der afghanischen Führung gehabt. Ämter und Dienste der Bundesrepublik waren klug genug, diese Beziehungen nie ganz einschlafen zu lassen. Anstatt aus der Luft mal Nester der Taliban und mal harmlose Zivilisten zu bombardieren, hat die Bundesregierung versucht, mit gemäßigten Vertretern der Taliban ins Gespräch zu kommen. Im vergangenen September traf sich der deutsche Botschafter in Kabul mit dem ehemaligen Außenminister der Taliban. Jener Mann, Wakil Ahmad Mutawakil, bat die Bundesregierung um eine „wohlwollende Begleitung“ von politischen Unterhandlungen. Zwischen den Taliban und der Bundesregierung, bekundete er, gebe es „viele Gemeinsamkeiten“. „Unsere Stimme wird als wichtig gehört“, hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier gesagt. Was die US-Regierung angeht, ist freundliche Skepsis angebracht. Was einige Taliban angeht, gilt es gewiss.


 

Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 07.02.2008 – Seite 11
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