Monster finden

Amerika sucht nach einem Ersatz für das Reich des Bösen.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

„Die Leute bezeichnen mich manchmal als Idealisten. Well, so weiß ich, dass ich Amerikaner bin. Amerika ist die einzige idealistische Nation auf der Welt“ (Präsident Thomas Woodrow Wilson).
„Ich schätze die USA, aber wenn der US-Präsident mal eben drei Staaten zum öffentlichen Angriffsziel erklärt, muss dieses den Widerspruch der Europäer finden, weil dieser Alleingang große Gefahren im NATO-Bündnis schafft“ (Guido Westerwelle).

Die Vereinigten Staaten haben zwei Gesichter, beide zugleich kann das Land nur deshalb tragen, weil es das mächtigste Land der Welt ist: Einerseits halten die Amerikaner sich für eine idealistische Nation. Darin stimmen ihre Verbündeten ihnen in überwältigender Mehrheit zu (und wünschen sich, die Amerikaner möchten manchmal weniger idealistisch sein). Andererseits betreiben die Vereinigten Staaten rücksichtslos Machtpolitik (die ruchlos nur nennt, wer so idealistisch und weltfremd ist, eine unbeschränkt herrschende Hegemonialmacht zu kritisieren).

Die Sanktionen gegen den Irak kosteten viele tausend Kinder das Leben – Madeleine Albright zuckte mit den Schultern: Das müsse man leider in Kauf nehmen. Im Kosovo und in Afghanistan starben tausende Zivilisten im Bombenhagel – der Kampf für Gerechtigkeit, heißt es, erfordere Entschlossenheit. Die Verbündeten der USA haben dabei zugesehen, haben aber nicht widersprochen und hatten eigentlich nicht vor, es zu tun, da sie ihre Beine auch weiterhin unter den Tisch der USA zu strecken gedachten – der als „gemäßigt“ geltende Außenminister Powell nennt das „Respekt vor der Führungsrolle Washingtons“.

Seitdem sie den „Krieg gegen den Terror“ führen, haben die Vereinigten Staaten sich erst rhetorisch und dann auch politisch auf das Niveau vormoderner Zeiten begeben, in denen die Verrechtlichung – die größte Errungenschaft der Moderne – sich noch nicht durchgesetzt hatte. Doch darüber konnten ihre Bündnispartner mit Verweis auf unterschiedliche Mentalitäten und unterschiedliche politische Stile zunächst hinwegsehen. Von September 2001 bis Januar 2002 haben die meisten europäischen Regierungen Amerikas Elite in der Ansicht bestätigt, einer idealistischen Nation anzugehören.

Einsame Willkür

Mittlerweile sind die Vereinigten Staaten aber zu weit gegangen, eben weil sie die Mechanismen der Verrechtlichung – über die in Europa ein größerer Konsens besteht als über Religion – nicht respektieren. Also entdecken Europas Abgeordnete und Minister, also entdeckt sogar Joschka Fischer, dass die USA ihre Rolle als Weltpolizist überziehen. Eben noch war Schröders „uneingeschränkte Solidarität“ das Gebot der Stunde, nun empfinden die Europäer den von Tony Blair angeführten „Schulterschluss“ mit Amerika als unangenehme Umklammerung. Das Verhalten der Vereinigten Staaten, ob moralisch oder nicht, ist in Europa, wo man an das Recht buchstäblich glaubt, nicht schlüssig. Das macht es Europas Regierungschefs zunehmend schwer, den schuldigen Tribut zu zollen. Die USA führen einen Krieg „für Demokratie“, behandeln aber ihre Gefangenen nicht besser, als es in „Schurkenstaaten“ üblich ist. Die USA erfinden eine „Achse des Bösen“ und planen in einsamer Willkür einen völkerrechtlich nicht legitimierten Krieg gegen Saddam Hussein, der die gesamte Region so destabilisieren dürfte, dass nur die USA dort wieder Ordnung stiften könnten. „Antiamerikanismus“ ist inzwischen ein Schlagwort geworden, dass – Donald Rumsfeld beiseite gelassen – vornehmlich politische Großsprecher und die Springer-Presse den Kritikern der amerikanischen Politik entgegenschleudern. Wäre der Christdemokrat Friedrich Merz konsequent, dann müsste er auch Karl Lamers, dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, „Antiamerikanismus“ vorhalten, denn Lamers hat in diesen Tagen viel beklagt, dass die Europäer keine unabhängige, gemeinsame Streitmacht besitzen, die den Namen verdiente. Wenn die USA aber nicht nur idealistisch bewegt sind, was treibt dann ihre Politik?

„Mir gehen die Monster aus“, hat Colin Powell gesagt, als er noch General war, „mir gehen die Bösen aus.“ Damit ist eine Richtlinie der amerikanischen Politik der neunziger Jahre beschrieben: Die Vereinigten Staaten benötigten Ersatz für das Reich des Bösen. Es mangelte an klaren Frontlinien, an Gegnern und Verbündeten, die des amerikanischen Beistandes bedurften: So kommt Ordnung in die Welt. Ein Hegemon kann seine Macht nur dann voll ausspielen, wenn andere ihn ersuchen, es zu tun.

Der Kosovo-Krieg, so wurde aus Kreisen nahe dem Pentagon seinerzeit berichtet, habe keineswegs etwaige globale Ansprüche der Nato bestätigt, das ganze Gegenteil sei der Fall: so schnell werde die Nato ein solches Abenteuer nicht wieder beginnen. Jetzt zeigt sich, was darunter zu verstehen war: Seit dem Kosovo-Krieg haben die USA keine Skrupel, im Zweifelsfall die Nato links liegen zu lassen. Daher die lächerliche Lage während des Afghanistan-Krieges, als die Europäer sich darum rissen, ihre „Bündnistreue“militärisch unter Beweis zu stellen, derweil Washington die Hilfsangebote eigentlich nur als Belästigung empfand.
Der Kosovo-Krieg war indes nicht von globalem Interesse und nicht dazu geeignet, den USA zu einer neuen weltpolitischen Aufgabe zu verhelfen. Der islamische Fundamentalismus gab einen besseren Gegner ab. Nicht zufällig hat Samuel Huntington – einer der Stichwortgeber Washingtons – die These vom „Kampf der Kulturen“ in die Welt gesetzt, zuerst 1993 in einem Aufsatz in „Foreign Affairs“, dann 1996 als Buch. Die These war ein Anfang, wenngleich zu grob für den Zweck: Solange die USA auf das arabische Öl angewiesen sind, werden sie diese Kulturtheorie nicht weiter verfolgen. Es ist deshalb kein Wunder, dass Huntington den Krieg gegen den Terror nicht als Anwendungsfall seiner These verstanden sehen wollte.

Die wissenschaftliche Feinabstimmung wurde unterdes von anderen vor genommen: In der „New York Review of Books“, die als Forum für die Vordenker der amerikanischen Regierungspolitik gilt, publizierten der Journalist Ian Buruma und der israelische Philosoph Avishai Margalit einen Aufsatz namens „Occidentalism“.
Der Begriff bezeichnet das Gegenstück zu Edward Saids Orientalism. Said hatte die westlichen Vorurteile gegenüber allem „Östlichen“ im Sinn. Parallel dazu beziehen Buruma und Margalit jetzt den Begriff „Okzidentalismus“ auf die „Feinde des Westens“. Angefangen mit dem japanischen Totalitarismus und endend beim islamischen Fundamentalismus, hat der Ausdruck „Okzidentalismus“ den Vorzug der Flexibilität: Nicht der Islam als solcher, sondern lediglich jene Muslime, die den Westen ablehnen, sind damit gemeint. De facto ist das nichts anderes als eine diplomatische Variante von Huntingtons These. Damit Washington auch ganz sicher versteht, was es mit dem „Occidentalism“ auf sich hat, haben die Autoren auch von einer „islamistischen Revolution“ gesprochen. Damit hätte die revolutionäre Sowjetunion endlich ihren Nachfolger gefunden.


 Aus: Süddeutsche Zeitung vom 19.02.2002 – Seite 15
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