Wie Angela Merkel verlorene Wahlen gewinnen will.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Angela Merkel gehört zu den Menschen, die das Unbewältigte der Existenz an ihren Fingernägeln abarbeiten. Die Spuren sind unübersehbar. Und wie sich an Angela Merkel studieren läßt, kann die Angewohnheit eine eingespielte Beschäftigung sein, die sich mit höchsten beruflichen Zielen gut verträgt. Die Parteivorsitzende der CDU hat ihren Fingern längst vergeben. Sie quält sie, aber sie versteckt sie nicht. Es gibt ganz andere Widrigkeiten, mit denen sie fertig werden muß.
Auf den Tag genau ein Jahr ist es her, daß die damalige CDU-Generalsekretärin in dieser Zeitung ihre Ablösung von Deutschlands Übervaterkanzler Kohl vollzog. Wolfgang Schäuble war nicht eingeweiht. Hätte sie ihm von dem Artikel erzählt, sagt sie, „es wäre fast gewesen wie: mir ein bißchen Deckung holen, jemand anderen noch mit reinziehen“. Der Artikel war aufsehenerregend: Angela Merkel hatte viel gewagt und viel erreicht. Jetzt ist sie die Hoffnung der CDU. Wenn irgendjemand die verlorenen Wahlen von 2002 noch gewinnen kann, dann sie.
Das wird ihrer offenen, unverstellten Art zugute gehalten. Mit ihr kommt Angela Merkel nicht nur beim Parteivolk, sondern auch bei den Medien gut an. Sie gibt sich Mühe mit den Journalisten, zu manchen unterhält sie ein geradezu kokettes Verhältnis. Sie sagt: „Indem ich offen bin, geben andere mir ja auch Einblicke in sich.“ Parteifreunde sagen, sie ertrage Kritik nicht gut. Deshalb bemühe sie sich so um die Presse.
Frühe Lehren
Ein ostdeutscher Politiker beschreibt Angela Merkels politische Begabung so: „Sie hat den Mut zu sagen, daß Zukunft offene Zeit ist.“ Ein westdeutscher attestiert ihr „einen spielerischen Zugang zu politischen Prozessen“. Sie selbst bezeichnet sich als Experiment. Sie weiß, daß eine Ostdeutsche, eine geschiedene, kinderlose Frau dem deutschen Ideal von Autoritätspersonen nicht entspricht. Ebenso weiß sie freilich, daß sie ehrlicher, menschennäher und auch netter wirkt als andere Politiker. Sie weiß, daß in diesem Unterschied ihr großer Bonus liegt. Sie ist um ihre Unbefangenheit besorgt wie Lukrezia um ihre Unschuld.
Mit der Bedrohung ihrer Unbefangenheit schlägt Angela Merkel sich seit jeher herum. Schon als Kind wurde sie daran gewöhnt, daß alles, was sie sagte, gegen sie verwendet werden konnte. Die Mutter hatte ihr eingeschärft, „wenn wir als Kinder telefoniert haben, wenn wir über unsere Lehrer gelästert haben“, niemals zu vergessen: „Es wird alles abgehört bei der Stasi.“ Verglichen mit diesen frühen Lehren sind die Fallstricke des erwachsenen politischen Gewerbes wirklich nur Springseile. Angela Merkel hat sich eine Unbefangenheit ertrotzt, die stark, weil durch Argwohn geläutert ist. Es ist eine Unbefangenheit, die insgeheim mit Enttäuschungen rechnet und deshalb gegen Enttäuschung gefeit ist, eine Unbefangenheit, die überdauert, weil sie ihre Unschuld ja längst verloren hat.
Das Kind Angela, 1954 geboren in Hamburg, ist das älteste von drei Geschwistern. Die Mutter – eine Frau von hohem bildungsbürgerlichen Anspruch – begleitete den aus Ost-Berlin gebürtigen Vater, als er einem Aufruf der evangelischen Kirche folgte: Die Kirche in Brandenburg drohte zu veröden. Im Westen wurden Pastoren gesucht. Im brandenburgischen Templin ließen Horst und Herlind Kasner sich nieder. Der Vater wurde Direktor eines Predigerseminars für die Ausbildung junger Pastoren. Zunächst stand er zu dem jungen Staat. „Er war eher ein Linker in der Kirche“, sagt Angela Merkel, „aber 1968 war er auf der Seite des Prager Frühlings.“
Manfred Stolpe, der die Familie seit Jahrzehnten kennt, nennt den Vater einen „Gerechtigkeitsfanatiker“. Kasner sei „einer von denen, die mitmischen und die Gesellschaft verändern wollen“, ein mutiger Mann, ein „politisches Talent“. Wenn Angela Merkel nach der deutschen Einigung so frohgemut ins politische Leben eintrat wie andere in den Sportverein, dann mag es daran gelegen haben, daß sie zu Hause gelernt hatte, wie das geht. „Runter von den Zuschauertribünen, rein in die Arena“, sagt Stolpe, das sei ihr „mitgegeben“.
Mitgegeben ist ihr auch die Neigung zum Westen. Trotz ihres Engagements in der neuen Heimat hing Herlind Kasner der westlichen Lebensart nach. Pastoren verdienten zwar nicht besonders gut, aber dank der mütterlichen Verwandtschaft trugen die Kinder stets westliche Kleidung, auch der Kaffee und vieles andere stammte aus dem Westen. „Ich habe“, sagt Angela Merkel, „nie besondere Minderwertigkeitskomplexe gehabt, daß ich was versäumt hätte in der DDR. Meine Tante kam mit ihren Kindern in den Sommerferien. Und ich hab‘ dann immer den Vergleich gezogen, weil meine Mutter ja immer Sorge hatte, wir würden was versäumen in der DDR. Ich habe mir das genau angeguckt – die hatten Reitstunde, wir konnten schwimmen im See – und bin bei allen Vergleichen dazu gekommen, daß ich eine gute Kindheit habe und daß ich Gutes erlebe.“
Genau angeguckt hat die Tochter sich die Dinge, hat abgewogen, wie Kinder es tun, und beschlossen, daß nichts fehlte. Angela Merkel mußte nicht Physik studieren, um präzise kalkulieren zu lernen. Daß sie selbst immer „die marktwirtschaftlichste in der Familie“ war, erklärt sie heute damit, daß „es auch eine Reaktion auf den Versuch meiner Eltern“ gewesen sein könnte, „in der DDR wenigstens in Ansätzen etwas zu entdecken, was vernünftig war. Vielleicht hat auch die kindliche Opposition gesagt: Jetzt mußt du dich auf die Seite des Westens schlagen.“ Mit dem Idealismus der Runden Tische konnte Angela Merkel denn auch nichts anfangen. Das unterscheidet sie von ihrem Vater. Ihr Hang zur Marktwirtschaft mag freilich nicht bloß aus kindlicher Opposition geboren sein. Indem Tochter Angela die Bundesrepublik für „gelungen“ hielt, erwies sie sich vielmehr als gutes Kind, das genau verstanden hatte, was der Mutter wichtig war. In der DDR nichts versäumen hieß: den Westen zum Vorbild haben.
Jetzt muß sie Kanzlerkandidatin werden – so lautet ihr jüngster Auftrag – und Zustimmung sammeln. Und jede Meinung, die sie vertritt, wird irgendwelchen potentiellen Wählern mißfallen. Auch deshalb hat Angela Merkel noch kein politisches Profil gewonnen. Je weniger sie sich festlegt, desto weniger Grund zur Ablehnung gibt sie. Weder als Frauenministerin noch als Umweltministerin hat sie sich den Ruf erworben, sich für die Themen ihrer Ressorts sonderlich zu begeistern. Auch mit dem „Sozialen“, sagen Parteifreunde, habe sie nicht viel am Hut. Ihr politisches Programm besteht vornehmlich darin, zwischen den unterschiedlichen Lebensauffassungen von Ost und West rhetorisch zu vermitteln. Ihre Haltung ist so wischi-waschi, wie sie das Gerhard Schröder immer vorwirft. Anders ausgedrückt: Sie ist eine Pragmatikerin. Noch anders ausgedrückt: Die Ideologie, die sie vertritt, ist „Der Westen“. Aber seit der deutschen Einigung besagt das natürlich nichts mehr.
Mitunter wird Angela Merkel unterschätzt. Ohne es zu wollen, nährt sie diesen Eindruck. Sie neigt dazu, Dinge zu beteuern, die ein souveräner Politiker nicht beteuert: Sie sei stark genug, sie könne das, sie sei nicht zu schwach. Sie stellt ihr Licht unter den Scheffel, indem sie selbst die erste ist, die für möglich hält, daß man sie nicht für voll nehmen könnte. Anders als Kohl hat sie aber keinen glühenden Vorrat an Rachsucht und Verachtung, in den mutmaßliche Gegner getaucht werden. Für die Einrichtung eines privaten Fegefeuers für Feinde ist sie viel zu gutartig. Außerdem würde sie sich davor scheuen, so strikt zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Dazu ist sie zu verletzlich. Angriffe faßt sie weniger als freche Provokationen denn als Kränkungen auf.
Daß sie sich gleichwohl auf die einschlägigen Tricks versteht, mit denen man Konkurrenten aus dem Felde schlägt, können viele sich nicht vorstellen. Wie aber kam es zum Beispiel, daß die CDU-Vorsitzende anläßlich der Abstimmung über die Steuerreform im vergangenen Sommer unbeschädigt aus dem Debakel ihrer Partei hervorging und es aussah, als wäre Fraktionschef Friedrich Merz ganz allein für die Schlappe verantwortlich? Ein Engel ohne Flügel ist Angela Merkel nicht. Angeblich kann sie sogar mobben.
Der Parteivorsitzenden fehlt es nicht an Durchsetzungsvermögen. Und politisch unscheinbar ist sie schon gar nicht. Dafür hat sie zu viele mutige Entscheidungen getroffen. Fast ist sie die Gestalt gewordene Erfüllung des Aufrufs von Roman Herzog, die Deutschen mögen sich einen Ruck geben. Wer sich einen Ruck gibt, setzt ein Zeichen. Fürs Zeichen setzen hat Angela Merkel ein gutes Gespür. Sie erkennt, wenn etwas Drastisches zu tun ist. Und dann wagt sie es, obwohl sie weiß, daß sie damit aneckt, obwohl sie nicht kontrollieren kann, was daraus wird, obwohl sie sich selbst dazu einen Ruck geben muß. So mag es zu Schulzeiten gewesen sein, als sie ad hoc mit einigen Klassenkameraden ein kritisches „Kulturprogramm“ auf die Beine stellte. So war es später, als sie, eben zur Umweltministerin ernannt, den erfahrenen Staatssekretär Stroetmann entließ, der glaubte, es sei egal, wer unter ihm Minister werde. So war es auch, als sie in dieser Zeitung über das Ende der Ära Kohl schrieb. Der Artikel ist ihr schwergefallen. Sie sagt: „Ich bin kein Mensch, der Freude am Krach hat.“