Eine Emp­feh­lung – direkt für den Pa­pier­korb

„Ein Kuhhandel“: Die Koalition will von den Vorschlägen ihrer Expertenkommission für den Umbau der Stasiunterlagen-Behörde wenig wissen

VON FRANZISKA AUGSTEIN

An sich hatte es so ausgesehen, als sei die Zukunft der Stasiunterlagenbehörde geklärt. Aber sie ist es nicht, alles bleibt offen. In engagierten Diskussionen hatte die vom Bundestag Ende 2014 eingesetzte Expertenkommission sich auf eine Empfehlung geeinigt, die sie im April vorlegte: Die Akten sollten demnach ins Bundesarchiv überführt werden. Der Leiter der Behörde, Roland Jahn, sollte nicht mehr Behördenchef sein, sondern ein Ombudsmann, der sich um Belange jener kümmert, denen zu DDR-Zeiten von Staats wegen Unrecht geschah. Damit, so wähnte die Kommission, sei allen Interessen gedient: Denen der Opfer und denen von Roland Jahn, dessen Wiederwahl als Behördenchef unlängst anstand (siehe SZ vom 11. 5.).

In der vergangenen Woche entschieden die Fraktionen der CDU und der SPD, dass in dieser Legislaturperiode nichts mehr entschieden werde. Jahn soll Mitte dieser Woche in seinem Amt bestätigt werden, die Behörde bleibt bestehen, wie sie ist. Mit ihrer Zukunft soll der nächste Bundestag sich befassen. Weil es die Fraktionen der großen Koalition waren, die 12 von 14 Mitgliedern der Experten-Kommission beriefen, scheint der Entschluss, vorerst nichts ändern zu wollen, etwas merkwürdig. Erst ein Blick hinter die Kulissen erklärt, warum die große Koalition nun mit den Ergebnissen ihrer Kommission nicht anfangen will.

Die Opferverbände, die „Union der Opfer stalinistischer Gewaltherrschaft“ vorneweg, rannten CDU-Parlamentariern sowie einigen SPD-Abgeordneten in den ostdeutschen Bundesländern die Türen ein: Die Empfehlungen der Experten-Kommission seien nicht zumutbar. Das zeitigte Wirkung. Möglicherweise glauben viele Politiker den Opferverbänden, wenn diese behaupten, für alle DDR-Opfer zu sprechen. Wie aus Koalitionskreisen zu hören ist, wurden Volker Kauder, der Vorsitzende der Unionsfraktion, und die Kanzlerin mit der Angelegenheit beschäftigt. Daraufhin wurde der SPD bedeutet: Sofern sie keinen Ärger mit dem zur Abstimmung anstehenden, fertig formulierten Integrationsgesetz haben wolle, müsse sie im Hinblick auf die Empfehlungen der Experten-Kommission klein beigeben – was die SPD dann auch tat.

Darauf angesprochen, sagt der SPD-Politiker Siegmund Ehrmann, der Vorsitzende des Kulturausschusses, das Wort „Kuhhandel“ zur Beschreibung der Lage sei leider passend; auch gegen das Wort „Erpressung“ verwahrt er sich im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung nicht. Ehrmann hält den ganzen Vorgang „für übel, weil die Union nicht in Ansätzen bereit ist, ernsthaft in die Wertung sinnvoller Empfehlungen einzutreten und für sie zu werben“.

Verärgert ist auch Richard Schröder (SPD), der stellvertretende Vorsitzende der Experten-Kommission Die Argumentation der Opferverbände fasst er für die SZ so zusammen: „Die Stasiunterlagenbehörde muss bleiben, wie sie ist, weil sie das Symbol der Herbst-Revolution ist.“ Das hält Schröder für falsch: „Eine Aktenverwaltungsbehörde als Symbol der Revolution? Das kann doch nicht ernst gemeint sein. Vielmehr ist das Freiheitsrecht der Akteneinsicht der Gewinn der Revolution. Und der soll nicht angetastet, sondern ohne Sonderbehörde im Bundesarchiv normale Praxis werden.“ Außerdem irrten die Opferverbände, wenn sie annähmen, die Stasiunterlagenbehörde sei ihre Interessenvertretung.

Gelassen gibt sich Wolfgang Böhmer (CDU), der Vorsitzende der Experten-Kommission: Er meint zwar, die Kommission habe „einen zumutbaren Kompromiss gefunden, mit dem alle Seiten leben können“. Indes wäre dies nicht das erste Mal, „dass Kommissionen etwas vorschlagen, was dann im Papierkorb landet“. Dass seine eigene Fraktion ihn hat auflaufen lassen, nimmt der Achtzig-Jährige altersweise hin: „Wer seine Arbeit einer Partei zur Verfügung stellt, sollte da nicht allzu empfindlich sein.“

Nur einer hat von dieser Geschichte nichts mitbekommen: der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer. Anlässlich einer Jubiläumsfeier des Bayerischen Journalistenverbands in Regensburg am vergangenen Freitag sagte er der SZ, von den jüngsten Ereignissen in Sachen Stasiunterlagenbehörde nichts gehört zu haben. Das mag auch dabei helfen, zu erklären, warum der Bundestag eine Entscheidung auf die nächste Legislaturperiode vertagt hat: Die meisten Politiker interessieren sich nicht.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 06.06.2016 – Seite 6