Der Nobelpreisträger Imre Kertész ist gestorben – ein großer Schriftsteller, ein liebenswürdiger Mann.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Vor etlichen Jahren, kurz nachdem Imre Kertész 2002 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, fand im Berliner Abgeordnetenhaus eine Veranstaltung für das allgemeine Publikum statt. Unter den Rednern befand sich auch Kertész. Er blieb nicht lange. Bei der Dame, die neben ihm saß, entschuldigte er sich: Sein Rücken schmerze, das Sitzen mache ihm Beschwerden. Die Dame lächelte; dann solle er doch besser gehen, sagte sie, das dürfe er: Auch ein Nobelpreisträger sei nicht verpflichtet, in der Öffentlichkeit zu leiden. Kertész entgegnete: „Ach, darf ich das? Wenn ich Rückenschmerzen habe, darf ich nach Hause gehen?“ Wer den kleinen Wortwechsel mithörte, wusste nicht genau, ob Kertész tatsächlich erleichtert war, oder ob seine Worte von tiefem Sarkasmus zeugten.
Die Unsicherheit, die er unwillkürlich bei seinen Zuhörern hervorrufen konnte, lag nicht so sehr an seiner behutsamen Intonation des Deutschen, sondern vielmehr daran, dass sein Schicksal die Menschen befangen machte, wenn sie ihm begegneten: dem Mann, der als Kind die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte, der trotz des Nobelpreises stets mit einer liebenswürdigen Bescheidenheit auftrat, die andere beschämte, so dass sie sich in seiner Gegenwart hoffärtig oder grob vorkamen.
Als nach der Wende, zu Beginn der 90er-Jahre, der Antisemitismus in Ungarn wieder zu sich kam, musste Kertész sich vorhalten lassen: Er schreibe ja nur über den Holocaust. Damals hat er sich dagegen gewehrt. Er wusste besser als die meisten seiner Leser, dass auch der „Roman eines Schicksallosen“, der in Ungarn 1975 erschien, nicht bloß von einer einzigartig fürchterlichen historischen Episode handelte, sondern von der Conditio Humana.
Mit der ihm eigenen dialektischen Souveränität hat Kertész dieses Urteil – er schreibe immer über den Holocaust – dann angenommen. Das hatte er mit der Hauptfigur in seinem „Roman eines Schicksallosen“ gemeinsam. Auch dieser junge Jude unterwirft sich den Annahmen der Umwelt über ihn, er tut das nicht aus kindlicher Naivität, sondern mit klugem Instinkt.
An dem Roman hat Kertész dreizehn Jahre lang geschrieben. Die große Kunst des Werks besteht darin, dass man, mit Kurt Tucholsky gesprochen, die Nähte nicht sieht. Hätte Kertész es nicht selbst erzählt, niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er die Diktion des Jungen, der im KZ alles „natürlich“ nennen lernt, was ihm angetan wird, von seiner ungeliebten Stiefmutter abgeschaut hat, in deren Sprache Kertész die „Apotheose des Kleinbürgertums“ fand.
Alle Romane und Erzählungen von Imre Kertész spielen auf verschiedenen Ebenen: Wer nur die „Story“ sehen will, muss sich weiter keine Gedanken machen. Wer es an Bildung mit Kertész halbwegs aufnimmt, findet darin die Philosophie des Abendlandes in nuce und heimlich kommentiert. Wer freilich meint, Kertész’ Bücher seien autobiografisch, der irrt gerade dann, wenn die Geschehnisse tatsächlich dem nahekommen, was Imre Kertész erlebt hat.
Im Gespräch hat er den Unterschied zwischen dem Leben und dem Erzählten einmal so erklärt:
„Literatur ist Literatur. Das habe ich sehr schnell eingesehen, als ich mit dem ,Roman eines Schicksallosen‘ angefangen habe. In der Literatur regiert die Sprache, und die Sprache hat Gesetze, und diese Gesetze darf man nicht verletzen. Denn dann geht man aus der Literatur. Eine Romanfigur ist in der Sprache, ist kein wirklicher Mensch. Ich kann als Romanfigur nur so handeln, wie die Gesetze der Sprache es erlauben. Das geht: ironisch. Aber das ist ein Trick. Der Roman ist ein Trick, kein Leben. So verzichtet man auf eigene Erinnerungen, man beschreibt etwas anderes. Das ist ein großes Vergnügen, ein Prozess, der viel Freude macht. Aber das kann ich nur wenigen verständlich machen. Die meisten glauben, ich hätte viel gelitten unter der Schriftstellerei. Ich habe aber nicht gelitten. Das war für mich eine Freude. Jeder Satz, den ich gefunden habe – ein Wunder.“
Ironie war für den Autor Kertész ein „unvermeidliches“ Stilmittel. Schon in der Kindheit fand er Anlass, die Welt ironisch zu sehen. Er stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Die Ehe der Eltern war schlecht, was zur Scheidung führte und dazu, dass der Sohn sich als fünftes Rad am Wagen vorkam. Dann lehrten die Nazis ihn, dass er als erschießbares Material zu betrachten war. Als Kertész im Alter von 15 Jahren 1945 wieder in Budapest ankam, wollte er eine gerechte Welt mitaufbauen helfen. Nach dem Abitur 1948 arbeitete er zunächst in einer Budapester Tageszeitung, die dann aber im Sinn der neuen Führung stalinistisch gleichgeschaltet wurde. Der Dienst beim Militär gab seinen sozialistischen Idealen den Rest.
In deutschen Übersetzungen seiner Bücher steht: Von 1953 an habe er als „freier Schriftsteller“ in Budapest gearbeitet. Die Formulierung, die in der Regel eine finanziell prekäre Existenz kaschiert, ist gerade in seinem Fall ein Witz. Der Verzicht auf eine sozialistische Karriere bedeutete für Kertész eben nicht, dass er frei gewesen wäre. Allenfalls hatte er die Muße, sich über den Mangel an Freiheit in seinem Land ausführlich zu ärgern.
Mochte die Obrigkeit ihm nicht mehr nach dem Leben trachten, so legte sie es immerhin darauf an, die Menschen nicht nach ihrer Façon selig werden zu lassen. In einem Essay hat Kertész geschrieben: „Das Geheimnis der östlichen Lagergesellschaft ist, dass du ständig auf dich selbst wütend bist, und wenn nicht, dann schämst du dich wegen deiner Emotionen, deiner Vernunft oder der Kompromisse betreffs deines Geldbeutels.“ Wut und Scham: Das sind zwei starke Gefühle, die – einander bald ergänzend, bald einander widerstreitend – den Autor Imre Kertész stets beflügelten. Beide zusammen machten aus, was er die „osteuropäische Depression“ nannte, die er im Übrigen äußerst nützlich fand, war sie doch sein „schriftstellerisches Kapital“. So gesehen, war er reich. Und: „Ich hatte keine Identitätsprobleme, da nicht nur ich, sondern auch die Nation, in deren Verband ich lebte, gefangen war.“
So sehr er das KZ als Vorbereitung für die osteuropäische Lagergesellschaft ansah, so fern lag ihm doch die plumpe Totalitarismustheorie. Der Nationalsozialismus habe einen hocheffizienten Mördertypus hervorgebracht, schrieb er in einem Essay: „Ganz unverhohlen stützt er sich auf die in Jahrtausenden von der Kultur zurückgedrängten niederen Instinkte des Menschen.“ Die Massenmorde des Bolschewismus seien hingegen das Ergebnis einer politisch-historischen Sichtweise gewesen, die „Taktik“ über alles stellte, in der „Taktik“ als „einzige Antriebskraft, als Moral, als ,Leitfaden des Handelns‘“ figurierte. Das sozialistische Ideal und seine eigenen Jugendträume hat Kertész ohne Nostalgie behandelt. 1990 konstatierte er nüchtern: „Der Untergang des Bolschewismus“ ändere nichts daran, dass „das Scheitern des sogenannten Sozialismus“ das größte gesellschaftliche Desaster des 20. Jahrhunderts gewesen sei.
Bis zur Öffnung des Eisernen Vorhangs lebte Kertész zusammen mit seiner ersten Frau Albina in einer winzigen Wohnung. Letztere ist der Schauplatz seines zweiten großen Romans, „Fiasko“, der 1988 in Ungarn erschien: Der Held, Autor eines Buches namens „Roman eines Schicksallosen“, hadert mit den Umständen: Der Staat will seine Bücher nicht; die Enge der Wohnung ist seiner Ehe nicht zuträglich; der neue Roman gedeiht trotzdem: Die Leser von „Fiasko“ bekommen ihn zu lesen.
Viele Schriftsteller schreiben am liebsten darüber, wie es ist, Schriftsteller zu sein. Das ist ehrenwert, weil sie sich in dieser Thematik besonders gut auskennen. Allein, bei Imre Kertész hatte das nichts Egozentrisches. Er verstand die Schriftstellerei nicht als Schicksal, Berufung und Überhöhung der eigenen Existenz, sondern als Form der Existenz tout court. Und umgekehrt betrachtete er das „echte“ Leben als etwas Artifizielles. Der SZ sagte er einmal: „Das Leben ist ein Kunstwerk. Man muss es aufbauen.“
Seine Frau Albina arbeitete als Kellnerin. Und er verdiente Geld, indem er schrieb, was er auf der Deutsch „Lustspiele“ nannte. Keines von denen, meinte er später, wäre eine Wiederaufnahme wert. Diese Lustspiele waren öfters Produkte von Gemeinschaftsarbeiten mit Freunden. Man wird dabei viel Spaß gehabt haben. Kertész hat sich später als einen Mann beschrieben, der Freude an allem Schönen hatte, nicht zuletzt an der Gesellschaft schöner Frauen. Wir dürfen ihn uns nicht als einen missmutigen Menschen vorstellen.
Über Auschwitz hat Imre Kertész nicht geschrieben, um Zeugnis abzulegen. Das hätte ihm nicht genügt. Wenn schon, dann wollte er „Rache nehmen“, die Menschheit mit der Nase darauf stoßen, was sie zugelassen hatte. Noch viel wichtiger war ihm aber zu zeigen, was der Historiker Dan Diner den „Zivilisationsbruch“ genannt hat. Das KZ-System war die Verwirklichung der negativen Utopie, die Franz Kafka wenige Jahre zuvor in seiner Erzählung „In der Strafkolonie“ entworfen hatte: „In der Dynamik des Nazi-Totalitarismus“, schrieb Kertész, „ ist aus dem Opfer ein gut funktionierender Bestandteil der zu seiner eigenen Vernichtung errichteten Maschinerie geworden.“
Für ihn war Auschwitz kein „Ausrutscher“, sondern „die Vollendung der Geschichte“. Und deshalb hielt er „jede Darstellung für Kitsch, die nicht die weitreichenden ethischen Konsequenzen von Auschwitz impliziert und derzufolge der mit Großbuchstaben geschriebene MENSCH – und mit ihm das Ideal des Humanen – heil und unbeschädigt aus Auschwitz hervorgeht“. Kertész hatte etwas gegen „Berufshumanisten“. Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ mit seinen heiteren Szenen und seinem der Zukunft zugewandten Ende fand er dümmlich-degoutant. Drei Jahre bevor der Film 1993 herauskam, hatte Kertész in Ungarn den Roman „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ publiziert, darin ein Mann „nach Auschwitz“ eben kein Kind in die Welt setzen will. Wie aber überhaupt über Auschwitz reden, wenn die Schicksale einzelner Überlebender nicht zählen, weil „nur die Toten“ recht haben?
In einem Essay hat Kertész den verstörenden Satz geschrieben: „Das KZ ist ausschließlich in Form von Literatur vorstellbar, als Realität nicht.“ Angesichts von Millionen Ermordeten hat er sein eigenes Überleben für irrelevant gehalten, daher der Titel „Roman eines Schicksallosen“. In allen seinen Büchern hat Kertész über sich selbst hinweg geschrieben. Sein Leben lang hat er daran gearbeitet, sich in seinen Romanen stets aufs Neue von sich selbst zu distanzieren, alles selbst Erlebte zu entschlacken und auf den wesentlichen Kern hin zuzuschreiben. Aber was bleibt von der Menschheit, wenn der einzelne Mensch nicht zählt? Dass es keinen Gott gibt: Davon war Kertész überzeugt. Gleichwohl hat er unentwegt über „Gott“ und „Gnade“ geschrieben. Das war keine Fortsetzung der Gnadenlehre des Heiligen Augustinus vermischt mit neuerer Volksfrömmigkeit, es war ein stilistisches und philosophisches Stilmittel. „Unsere moderne Mythologie“, hat er geschrieben, „beginnt mit einem gigantischen Negativum: Gott erschuf die Welt, der Mensch erschuf Auschwitz.“ Für jemanden, der in der Literatur und in der Philosophie lebt, ist Gott insofern existent, als er immerzu angerufen wird – und sei es, dass der von Kertész hochgeschätzte Nietzsche schrieb: „Gott ist tot.“
Kertész hat Gott evoziert, weil er es mit Nietzsche hielt, der sinngemäß sagte: Atheisten, die sich mit dem Diesseits bescheiden, sind nichtswürdige, sich selbst verlorene Existenzen. Das wollte Kertész vermeiden, er kultivierte in sich, was er „Mystik“ nannte. Und er brauchte die abendländische Literatur über Gott, weil nur ein Gott auf der Höhe des Verbrechens ist, das in den KZs verübt wurde. Im „Galeerentagebuch“ schrieb Kertész 1984: „Wie mag das letzte Urteil sein, das Warten auf den Anruf, die Einteilung in Himmel und Hölle und deren verschiedene Sektoren? Wenn er den nach seinem Ebenbild schuf, nach wessen Ebenbild schuf der Mensch dann die Selektion in Auschwitz?“ Die Selektion an der Rampe: Das war keine Erfindung der Nazis, schon beim Jüngsten Gericht war sie vorgesehen.
Imre Kertész war mit großem Witz begabt. Er neigte zum Grotesken, zur Farce, zur Ironie, zum Sarkasmus. So war die Welt ausgekleidet, in der er als Schriftsteller lebte. Im „echten“ Leben – mochte es auch ein „Kunstwerk“ sein – hat er sich ganz einfache Gefühle erlaubt: Liebe, Zuneigung, Freude. 1996, ein paar Jahre nachdem Albina gestorben war, und als er schon lange einen zweiten Wohnsitz in Berlin eingerichtet hatte, heiratete er ein zweites Mal. Magda Kertész stammt aus Ungarn, sie hat lange in den Vereinigten Staaten gelebt. Wer die beiden traf – sei es bei ihnen zu Hause, sei es im Restaurant eines Hotels in Berlin, das der von Parkinson geplagte Imre Kertész zu Fuß erreichen konnte –, der sah zwei einander in Liebe zugetane Menschen. „Ein Paar blauer Augen begleitet mein Leben“, hat er geschrieben. Am Donnerstag ist Imre Kertész im Alter von 86 Jahren gestorben.