Welcher Unterschied ist größer? Der zwischen Schildkrötenpanzern und Papier oder der zwischen Papier und dem Internet?
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Es gibt Autoren, die ein Manuskript so lang im Voraus einreichen müssen, dass ein geübter Schriftgraveur des frühgeschichtlichen China in der Zeitspanne, die bis zur Drucklegung so eines Manuskripts vergeht, einen Schwarm von Schildkröten hätte beschriften können: Diesen Autoren darf man nachsehen, wenn sie ein bisschen entgeistert sind und also die über alle Maßen umwälzende Kraft des Internets hochhalten.
Alle Übrigen sollten die Revolutionierung, die das Internet mit sich brachte, nicht übertreiben. Schon mit der Erfindung von Papyrus als Informationsträger, von Pergament und Papier gar nicht zu reden, waren die altchinesischen Schildkrötenpanzerbeschriftungsagenturen einigermaßen am Ende; dasselbe Schicksal traf übrigens die Tierknochengravur. Dass das Internet den gleichen Effekt haben könnte: dass gedruckte Magazine und Zeitschriften seinetwegen alle untergehen, ist aber nicht abzusehen.
Darum, um das Verhältnis zwischen dem gedruckten Journalismus und dem Internet-Journalismus, ging es mir in einem Vortrag, den ich auf Einladung des Branchenmagazins „Horizont“ anlässlich einer Medientagung im vergangenen Januar in Frankfurt am Main gehalten habe. (Der Vortrag ist
auf der Website http:/www.augstein.org.
Stichwort: „aktuelle Beiträge“ nachzulesen.) Der Vortrag nahm knapp eine halbe Stunde in Anspruch. Im Anschluss sollten fünf führende Manager fünf großer Medienkonzerne miteinander fünfundzwanzig Minuten lang diskutieren. Den Moderator dazugezählt, waren es sechs. Jeder hatte weniger als fünf Minuten Redezeit. Zu einer Diskussion kam es nicht. In höchst allgemeinen Worten legten die Manager dar, dass es ihrem jeweiligen Unternehmen bestens gehe. Das ergab 25 Minuten von dem, was im Journalismus als „Leertext“ bezeichnet wird, was das Diskussionsmitglied Gabor Steingart vom Holtzbrinck-Konzern anmerkte. Die Argumente des Vortrags wurden denn auch nicht entkräftet.
Auffällig ist, dass die Vertreter großer Medienkonzerne ihre „Philosophie“, wie Manager die Reaktion auf da Marktgeschehen gern nennen, umgestellt haben. In den Chefetagen ist die Frage nach der Zukunft gedruckter Medien zu einer Frage des Glaubens geworden. Die neue „Philosophie“ gebietet den Managern, nicht mehr an Print zu „glauben“. Da viele Zeitungen und Zeitschriften nach wie vor ihre Leser finden, muss man indes nicht an sie glauben. Es genügt, die Titel gut zu machen und zu verkaufen.
Letzteres wird aber von Medienmanagern hintertrieben. So sehr sie damit beschäftigt sind, neue Absatzmöglichkeiten im Netz zu erkunden, sind sie auch damit beschäftigt, ihre Zeitungen und Zeitschriften kaputtzusparen, sofern sie sie nicht gleich abstoßen. Der Springer-Verlag zum Beispiel hat sich von etlichen Titeln getrennt, darunter auch vom „Hamburger Abendblatt“, dies zu einem Zeitpunkt, als das Blatt – wie mehrere Informierte erzählten – 24 Prozent Rendite erwirtschaftet habe. Gruner + Jahr hat etliche erfahrene Zeitschriftenredakteure entlassen: Sie bekamen die Möglichkeit, ohne Anstellungsvertrag für die Blätter weiterzuarbeiten, das heißt, für weniger Geld und bloß noch verlässlich ausgestattet mit der Angst, ob sie auch künftig ihre Miete bezahlen können. G + Js seinerzeitiger Pressemeldung zufolge hielt der Verlag das Angebot für großzügig und innovativ.
Im Austausch, das gilt nicht nur für Gruner + Jahr, werden freie Journalisten immer weniger beschäftigt. Dazu hat Wolf Reiser in „Lettre International“ (Ausgabe vom Winter 2014) unter dem Titel „Freiwild“ einige sehr scharfe Sätze über deutsche Chefredakteure und Ressortleiter publiziert. Die Freien, argumentierte er, hätten die Redaktionen mit eigenen Ideen befeuert. Eine Redaktion, die nur mit ihrem eigenen Wasser und in ihrem eigenen Saft kocht, würde sich vieler Anregungen berauben – zum Schaden des Blattes. Mit Ausnahme einiger namhafter Autoren hätten freie Journalisten „im Prinzip nur noch eine reelle Überlebenschance, wenn sie weiche Gebiete beackern, Freizeit, Kuchenbacken, Yoga, Rumreisen auf Agenturkosten, Kirmeskultur, Menschelndes, Neospießeralltag und den ganzen überdüngten Landlustgartenlaubenmuff des Sommermärchens“.
Da fragt sich natürlich: Wollen die Leser das? Manche wollen es, manche wollen es gar nicht. Die meisten erwarten von ihrem Blatt eine solide Mischung aus genauer Recherche, genauer Information und von Artikeln, die man auch auf einer Busfahrt lesen kann, ohne dabei das Gepäck aus den Augen zu verlieren.
Der Journalist Wolf Reiser schreibt mit Blick auf die ersten Jahre nach der Jahrtausendwende: „Die Californication des europäischen Lebensstils verbannte die einst so lukrative Tabak- und Spirituosenwerbung aus den Heften. Gleichzeitig stießen die coolen Garagenbastler aus Silicon Valley auf ein brachliegendes Kommunikationssystem der US-Militärs, welches ursprünglich
zum Datentransfer nach einem geglückten Atomschlag entwickelt wurde, und bastelten daraus ein vielversprechendes WWW-Imperium.“
Wolf Reiser steht dem Internet skeptisch gegenüber. Zu Recht. Für die Demokratie bedeutet das Internet nicht nur Gutes. Das Netz ist für demokratische Gemeinwesen gefährlich, weil die unüberschaubare Masse an Information es den Lesern nicht mehr möglich macht, sich über einzelne Themen zu verständigen. Es gibt Millionen Partikularinteressen. Umso besser ist es, wenn eingesessene Zeitungen und Zeitschriften im Netz etabliert sind: Sie können helfen, das, was tatsächlich ansteht, für die Leser zu bündeln, und zwar nicht für Leser in Neuseeland, sondern für – zum Beispiel – Leser in Salzburg.
Geld verdienen die Verlage bisher mit dem Internet wenig. Wenn sie Glück haben, schreiben sie kleine schwarze Zahlen. Etliche Zeitungen und Zeitschriften haben mittlerweile Bezahlschranken eingeführt. Ob das den Profit erhöhen wird, ist noch nicht abzusehen. Zu viele kostenlose Anbieter gibt es, die angebliche „News“ ins Netz stellen, aber in Wahrheit publizieren, was man früher im Journalismus „Enten“ nannte. Die großen Konzerne nutzen ihre Internet-Sites längst schon als Verkaufsportale für Konsumgüter (dem Vernehmen nach ist das ziemlich lukrativ). Die PR-Branche hat begriffen, dass viele Medienunternehmen es im Internet nicht so genau nehmen, und lanciert sogenannte journalistische Artikel, die in Wahrheit Werbung sind.
Umso unverständlicher ist es, dass Medienmanager, die von sich sagen, eine Philosophie zu haben, ohne Unterlass den Tod der gedruckten Presse annoncieren. Nach wie vor ist es nämlich so: Eine ordentlich florierende Zeitung ist weit lukrativer als ihr Auftritt in einem Internet-Portal. Die Erlöse der gedruckten Presse nehmen ab, das ist richtig. Aber ein gut geführtes Presseunternehmen wird bis auf Weiteres Rendite machen. Zum Vergleich: Ein unabhängiger Buchverlag kann sich mit acht Prozent Rendite gut stehen. Nur wer meint, Presseunternehmen müssten so viel verdienen, wie Josef Ackermann bei seinem Amtsantritt bei der Deutschen Bank versprach, ist seit einiger Zeit panisch: Der ehemalige Chef der Deutschen Bank versprach 25 Prozent Rendite.
Leser, die permanent auf den fünf Kontinenten der Welt unterwegs sind und sich informieren wollen, benötigen einen Reisecomputer mit international ausgelegter Sim-Karte. Viele Leser, die den größten Teil ihrer Zeit in, sagen wir, München oder Berlin, Salzburg oder Wien verbringen, haben es freilich ganz gern, morgens am Frühstückstisch ihr unausgeschlafenes Gesicht hinter einer Zeitung zu verbergen. Oder sie wollen, was sie lesen, ohne elektronischen Firlefanz gleich weiterreichen: „Lies das mal!“ Oder sie verbringen ohnedies acht Stunden ihres Tages vor einem Computer und finden es einfach schön, etwas in der Hand zu haben, anstatt nur auf einen Bildschirm zu glotzen. Oder sie mögen den Geruch von bedrucktem Papier. Oder sie haben Freude daran, eine ausgelesene Zeitung gepfeffert in Richtung Papierkorb zu befördern. Viele Gründe gibt es, warum immer noch viele Millionen Leser Zeitschriften und Zeitungen lieber in der gedruckten Form lesen als im Internet. Das wird sich so schnell nicht ändern.