Otto Brenner Preis: Festrede von Franziska Augstein, 03.11.2010
Journalisten wissen nicht, was sie tun. Und die Öffentlichkeit weiß es auch nicht. Im Rahmen ihrer Festrede beim Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus, hat Franziska Augstein beschrieben, woran der Journalismus dieser Tage krankt: Es wird nur noch über Personen berichtet, nicht mehr über Inhalte. Und zwar von den Guttenbergs über Merkel bis hin zu Sarrazin.
Die vergangenen Wochen und Monate waren nicht gerade, was man als Glanzzeit des deutschen Journalismus bezeichnen kann. Sie zeugten vielfach von der Neigung unserer Profession, sich lieber mit uns selbst und unseren jeweiligen publizistischen Gegnern als mit den DINGEN zu beschäftigen.
In der 14. Ausgabe der „Encyclopedia Britannica“, die 1929 erschien, wird der „Journalist“ folgendermaßen definiert:
„Während Qualifikation und Status von Geistlichen, Ärzten und vielen anderen Berufen klar umschrieben sind, folgt der Journalist immer noch einer eher vagen Berufung, bei der weder was er können muß, noch was er darstellt, präzise definiert ist.“
Mit anderen Worten: Journalisten wissen nicht ganz genau, was sie tun. Und die Öffentlichkeit weiß es auch nicht. Weil ich selbst Journalistin bin, will ich nicht behaupten, hier jetzt Licht ins Dunkel zu bringen. Zumal, da die Berufe von Ärzten und Geistlichen auch nicht ganz so präzise umrissen sind, wie die „Encyclopedia Britannica“ sich das 1929 vorgestellt hat: Mancher Arzt tut sich als Prediger hervor, und mancher Geistliche ist ein ökonomischer Analyst erster Güte. Ich mache heute das, was wir Journalisten am liebsten machen: Die Journaille kritisieren – und ein bißchen loben.
Einige Usancen sind eingerissen, die wir alle mitbetreiben, die aber in dem Maße, wie wir es tun, zur Verdunkelung der Dinge beitragen und uns, den Journalisten, nicht zu Lob gereichen.
Man kennt die Geschichte, sie datiert in einer unerleuchteten Epoche: Da betritt ein Mann ein Dorf und schreit: „Das Ende ist nahe. Währet dem Übel, bevor es euch verschlingt!“ In dem Fall, an den ich denke, lautet der Satz so:
„Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist … eine … negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.“
Tja, wenn die Dorfbewohner gerade nichts Besseres zu tun haben, dann lauschen sie Thilo Sarrazin. Und siehe: Der Mann sagt den Dorfbewohnern, dass sie alle gut sind, nur die Auswärtigen, die sind schlecht. Die Vermehrung der Auswärtigen, der genetisch Minderbemittelten, müsse man verhindern. Zu den genetisch Minderbemittelten zählt er dann auch pikanterweise jene Dorfbewohner, die seit jeher im Nordosten der Gemeinde leben.
Daraufhin zerteilt sich die Dorfgemeinschaft: Die eine Hälfte sagt: „Das musste endlich mal gesagt werden!“ Und die andere Hälfte sagt: Diejenigen, die sagen, dass das endlich mal gesagt werden musste: sie sind mit dem Klammerbeutel gepudert, haben als Kind zu heiß gebadet, haben keine Ahnung von der Wirklichkeit.
Oscar Wilde war nahe an der Realität, als er feststellte (ich übersetze frei):
„Der moderne Journalismus hat viel für sich. Indem er bildungsfern argumentiert, bleiben wir im Kontakt mit der Unwissenheit der Allgemeinheit.“
Oscar Wilde hatte bekanntlich fast immer recht: Thilo Sarrazins Thesen sind in der Tat bildungsfern. Warum sie es sind, haben aber ein paar kenntnisreiche Journalisten klargemacht, indem sie die Argumente seines Buches sauber zerlegten.
Auf die Argumente gehe ich jetzt nicht ein. Mich interessiert heute: Wie kam es dazu? Warum bekommt ein Mann soviel Aufmerksamkeit, dessen halbgare Thesen alle vulgären Gemeinheiten in den Schatten stellen, die der Christdemokrat Roland Koch gegen die Ausländer vorgebracht hat, als er sich 2003 wieder zum Ministerpräsidenten von Hessen wählen ließ?
Das hat wenig mit der deutschen „Kollektiv-Seele“ zu tun und sehr viel mit dem Einfluss der Medien: Die „Bildzeitung“ und der „Spiegel“ haben Vorabdrucke aus Sarrazins Buch gebracht. Sarrazin war eh’ schon als eigener Kopf bekannt. Ich glaube aber: Wäre sein Buch in den Medien nicht prominent vorgestellt worden, wäre es nicht zu einem Bestseller geworden.
Der Vorabdruck: Zur „Bildzeitung“ passt das. Sie ist im Zweifelsfall national und ausländerfeindlich. Zum „Spiegel“ passt es weniger. Der verhielt sich anschließend denn auch wie der Wilderer, der – das tote Rehkitz auf der Schulter – vom Förster erwischt wird: „Hab ich dich!“ sagt der Förster. Und der Wilderer sagt: „Wie denn? Was!?“ Und der Förster sagt: „Na, und was ist das da auf deiner Schulter?“ Der Wilderer wendet den Kopf, entdeckt das Corpus Delicti auf seiner Schulter und ruft aus: „huuch!!“
So erging es dem „Spiegel“, der sich anschließend wirklich Mühe gegeben hat, die Scharte auszuwetzen. Am besten hat mir der jüngste „Kinder-Spiegel“ gefallen: Der wird aufgemacht mit einer 16-jährigen Gymnasiastin, die erklärt „Warum ich ein Kopftuch trage“.
Das Problem an der gesamten Berichterstattung über Sarrazin besteht darin: Es ging vornehmlich um Sarrazin, es ging nicht um die eigentliche Frage: Wie finden wir in unserem Land ein Verhältnis zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen?
Gegen Ausländer wird gern vorgebracht, dass sie dem Staat auf der Tasche lägen. Das gilt für viele Menschen mit fremdem Pass aber gar nicht. Für viele Deutsche hingegen gilt es. In kaum einem europäischen Land ist die Gesellschaft – statistisch gesehen – so undurchlässig wie in Deutschland: Wer arm geboren wird, bleibt arm. Die Bundesrepublik ist, was das angeht, hermetischer, ungerechter als viele andere Länder – Länder, deren Bruttosozialprodukt weit unter dem unseren liegt. Chancengleichheit: darum geht es. Bei uns ist sie weniger ausgeprägt als in den meisten anderen europäischen Ländern.
Unsere Medien neigen dazu, auch noch die wichtigsten Themen zu personalisieren. So kommt es dann dazu, dass Thilo Sarrazin in der Tageszeitung „Die Welt“ verteidigt wird: Er sei ein „Sündenbock“, er werde dafür angeklagt, dass er ausgesprochen habe, was viele denken. Die Wahrheit ist: Die Ausgegrenzten sind die Sündenböcke: Sie müssen dafür zahlen, dass die Gesellschaft seit Jahrzehnten verabsäumt, für alle Kinder und Jugendlichen gute Ausbildungsstätten einzurichten.
Stichwort: Personalisierung. Das ist generell ein Trend, der in der Presse von Übel ist. Manche Wirtschaftsteile lesen sich streckenweise wie die ausgewalzte Form der beliebten Rubrik „Das Vermischte“. Da werden Firmenchefs und Firmenchefinnen porträtiert so wie sonst Filmstarlets. In der Politik erleben wir das seit langem. Das ist ja auch verständlich: Mühsam ist es aus dem Wörterwust der Politiker Überzeugungen zu destillieren. Viel einfacher ist es, über die Leute selbst zu schreiben. – Dies dann auch gern so oberflächlich, dass es schon statistisch messbar ist.
Angela Merkel hat bekanntermaßen in der DDR in Physik promoviert. In den vergangenen zehn Jahren ist sie in den größeren Zeitungen, von den kleinen rede ich heute nicht, mehr als 1600 mal als „Physikerin“ tituliert worden, hunderte Male als „promovierte Physikerin“. Der Begriff wurde sehr oft eingesetzt, um ihren Charakter zu beschreiben. Vor allem, als es während des Bundestagswahlkampfes 2005 darum ging, Merkel gegenüber Schröder stark zu machen, wurde ihr Beruf für sie ins Feld geführt. Ich zitiere – pars pro toto – aus einem zeitgenössischen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“: „Angela Merkel ist Physikerin. Sie ist gewohnt, die Dinge von ihrem Ende her zu denken.“ Ja, ganz im Gegensatz zu – sagen wir – Metzgern, die wissen, dass eine jede Wurst zwei Enden hat, denkt Frau Merkel nur von einem Ende her.
Erstaunlicherweise hat aber auch jeder Metzger die Angewohnheit, die Dinge „von ihrem Ende her“ zu denken, im Bezug auf die Frage nämlich, was er machen muss, damit sein Geschäft läuft und er bei Jahresende nicht verschuldet ist. Soviel dazu, was Angela Merkel als „promovierter Physikerin“ alles zugute gehalten wird.
Als die Presse 2005 Gerhard Schröder mehr oder minder unisono runtergeschrieben hat, wurde aus dem Umstand, dass Angela Merkel 1986 in Physik promovierte, alles Mögliche gemacht. Heute, da die Presse mehr oder minder unisono für Frau Merkel nichts mehr übrig hat, hält auch wieder ihr Studium zur Erklärung her, dies zum Beispiel unter dem Titel „Das Ende der Physik“. In dem Artikel wurde übrigens nicht ihre falsche Politik, sondern ihre mangelnde Emotionalität beklagt.
Personalisierung ist eine feine Sache. Wer mag schon erklären, was es mit der Föderalismusreform auf sich hat? Wer mag uns näher Einblick geben in die Wege und Umwege der EU-Verwaltung? Und vor allem: Wer dankt es den Autoren, die das tun? Viel einfacher ist es, derlei Dinge anhand eines Menschen, eines Politikers darzustellen. Das macht zwar nichts verständlich, füllt aber das aus, was die Leute, die in einer Zeitung für die Werbeanzeigen zuständig sind, als „Restraum“ bezeichnen. Wenn man sich als Journalist damit zufrieden gibt, vom Beruf eines Menschen auf seinen Charakter zu schließen, hat man auch nicht viel Arbeit mit einem Porträt. Diese Haltung wird weithin befördert. Die meisten Chefredaktionen brauchen Leute, die viel schreiben – wenn sie keinen Skandal initiieren können, dann sollen ihre Texte wenigstens gefühlvoll sein.
Ich will noch etwas bei der Personalisierung bleiben. Damit einher geht ein wirklich fataler Umstand: Es hat den Anschein, dass viele Journalisten sich kein eigenes Urteil mehr zutrauen. Wenn Fernseh-Journalisten Interviews führen, dann fragen sie zum Beispiel gern: „Wie erklären Sie sich Ihre schlechten Umfragewerte?“ Und die schreibenden Journalisten halten es zunehmend genauso. Da wird zunehmend nicht über die Arbeit eines Politikers debattiert, sondern darüber, wie sie ankommt. Das ist ziemlich absurd. Journalisten sollten diejenigen sein, die den Politikern mitteilen, wie ihre Arbeit bei ihnen ankommt: was sie selbst davon halten. Stattdessen ziehen die Kollegen sich oft auf Meinungsumfragen zurück.
Auf diese Weise ist ein Ehepaar hochgespült worden auf den Wellen der Meinungsumfragen, das nur in einer Hinsicht anders ist als andere Politikerehepaare: Die beiden sind von Adel. Während „Zeit“, „SZ“ und andere sich Anfang 2009 noch ein bisschen über Guttenbergs Gelfrisur lustig machten, hatten „Welt“ und „Bild“ im Sommer desselben Jahres begriffen, in welche Richtung der Zeitgeist ging. In der „Welt“ war zu lesen: „Er gelt sein Haar, spielt Klavier, besucht den Gottesdienst und ist Fan der AC/DC- Hardrocker … Mit dieser Harmonie der Gegensätze befreit ausgerechnet ein Adeliger das Bürgerliche vom Stigma des Spießigen.“
Eine kleine Frage: Brauchen wir einen Wirtschafts- oder Verteidigungsminister, der das Bürgerliche vom Stigma des Spießigen befreit? Sicher, es gab auch andere Nachrichten über Guttenberg. Da war zum Beispiel die dumme Geschichte mit den Tanklastern in Kundus. Da hat er sich als unerfahrener Verteidigungsminister allzu schnell eine Meinung gebildet, wofür dann zwei hochrangige Bundeswehroffiziere büßen mussten. Aber davon ist nicht mehr die Rede. Guttenberg wird in den Medien als Selbstdarsteller vorgestellt, als eine Art Filmstar: da kommt es nur auf die Darbietung an, nicht auf die innere Substanz. Die mag er sogar haben, aber davon erfährt das Publikum nichts. Das Publikum wird beschallt mit den Ergebnissen von Meinungsumfragen. Mittlerweile trauen angeblich 44 Prozent aller Bürger der Ehefrau zu, dass sie Familienministerin werde. Die Medien, die solche Nachrichten verbreiten und das betreiben, was man heutzutage „Hype“ nennt, sind Trendsetter. Sie selbst sehen sich aber nur als Berichterstatter.
Diese Verkehrung des Selbstverständnisses der Medien ist nicht ungefährlich. Wer heute Adelige lobt, weil sie schick aussehen und sich zu benehmen wissen, berichtet übermorgen, dass die Deutschen einen „starken Mann“ wollen.
Wenn wir einen solchen Journalismus nicht wollen, dann brauchen wir einen starken Nachwuchs. Dann brauchen wir einen Nachwuchs, der die Sachen so gut kennt, dass er nicht auf Artikel über Personen ausweichen muss. Dann brauchen wir junge Journalisten, die ordentlich studiert haben, und die, mit exzellentem Fachwissen, mit Fleiß und mit Leidenschaft den Dingen auf den Grund und nicht den Personen auf den Leim gehen. Journalismus ist keine Live-Style-Veranstaltung. Die Pressefreiheit ist nicht die Freiheit, in den Medien politische Parties zu veranstalten; jedenfalls ist sie nicht in erster Linie dafür da. Vielleicht ist also das allererste, was junge Journalisten lernen müssen, das, was so viele ihrer alten Kollegen vergessen haben: Journalismus ist nicht zur Selbstbefriedigung da und Pressefreiheit nicht dafür, sich die Arbeit leicht zu machen.
Gustav Freytags Lustspiel „Die Journalisten“ ist 1852 in Breslau uraufgeführt worden. Es wird heute auf den Bühnen nicht mehr gespielt, wahrscheinlich deswegen, weil es ohnehin täglich in den Verlagshäusern zur Aufführung kommt. In diesem Stück wird eine Zeitung von einer neuen Verlegerin namens Adelheid aufgekauft – die den Redakteur Bolz dann befragt: „Nun, Herr Bolz, was soll ich mit Ihnen anfangen?“. Der Kollege Bolz antwortet: „ Ich bin auf alles gefasst; ich wundere mich über nichts mehr. – Wenn nächstens jemand ein Kapital von hundert Millionen darauf verwendet, alle Neger mit weißer Ölfarbe anzustreichen oder Afrika viereckig zu machen, mich soll’s nicht wundern. Wenn ich morgens als Uhu aufwache, mit zwei Federbüscheln statt Ohren und mit einer Maus im Schnabel, ich will zufrieden sein.“
So leicht, so ohne weiteres sollte ein Journalist nicht zufrieden sein.
Otto Brenner Preis: Festrede von Franziska Augstein, 03.11.2010