Führer und Vasallen

Die USA und das vermeintliche Ende der Einflusssphäre.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Anfang August, nachdem Russland in Georgien eingefallen war, weil Georgien Südossetien einzunehmen trachtete, erklärte George W. Bush, „Einflusssphären“, das sei keine politische Kategorie mehr. Folglich hätten die Russen nicht das Recht, an der georgischen Invasion in Südossetien Anstoß zu nehmen. George W. Bush wollte seinen Zuhörern weismachen, dass es heutzutage nicht mehr um Machtpolitik gehe, sondern um Demokratie und Freiheit, wobei es sich für ihn selbstredend verstand, dass jeder Freund Amerikas mit beidem im Bunde ist. Und der georgische Präsident ist ein Freund Amerikas – dies sosehr, dass er am Vorabend der Invasion hohen amerikanischen Besuch empfing.

In der frühen Neuzeit ließ sich das Konzept der Einflusssphären noch recht leicht umsetzen: Im Jahr 1494 teilten die Kolonialreiche Spanien und Portugal die Welt entlang des 46. Längengrades untereinander auf. Was östlich davon lag, gehörte zu Portugal: Die afrikanische Küste samt dem Seeweg nach Indien hatten die Portugiesen damit für sich; und die westlichen Territorien, die beiden Amerikas also, die soeben erst „entdeckt“ worden waren, gehörten den Spaniern. Als auch Großbritannien eine starke Seemacht wurde, war der Vertrag hinfällig.

Weil Menschen und Politiker gern sortieren, gab es danach eine andere kategorische Unterscheidung, die bis ins zwanzigste Jahrhundert Geltung hatte: Es wurde zwischen Land- und Seemächten differenziert. Das britische Empire war lange die größte Seemacht und mischte sich auf dem europäischen Kontinent nur ungern ein, wenn dort die Völker aufeinander einschlugen. Mit der britischen Vorherrschaft war es nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig zu Ende. Seither sind die Vereinigten Staaten ein Hegemon, was dazu führt, dass die Idee der Einflusssphären von Amerikanern besonders intensiv erörtert wird – öffentliche Reden amerikanischer Präsidenten ausgenommen.

Weil die USA – wie Großbritannien – das Glück haben, sich nicht unentwegt um die Sicherheit ihrer eigenen Grenzen kümmern zu müssen, konnten die Amerikaner sich immer leisten, mit ein wenig Verachtung auf die Sowjetunion hinabzublicken. Noch 1997 hat Zbigniew Brzezinski, der einstige Sicherheitsberater Jimmy Carters, den Russen vorgehalten, sie behaupteten fälschlich, ihre „Oberhoheit über nichtrussische Völker“ sei „für Russlands Status als Großmacht unverzichtbar“. In Russland, schreibt Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“, habe man „jahrhundertelang unter nationaler Größe die Fähigkeit zu Landerwerb“ verstanden. Etwas Klügeres, so legt er nahe, sei den Russen nicht eingefallen.

Staaten ohne Grenzen

„Die einzige Weltmacht“ ist ein bemerkenswertes Buch: Selten hat ein amerikanischer Politiker so ehrlich aus dem strategischen Nähkästchen geplaudert. Das Buch beschreibt, wie die USA ihren Einfluss in „Eurasien“ ausdehnen können. Am effizientesten sei es, schreibt Brzezinski, friedlich vorzugehen. Mögen andere gedacht haben, dass der 1944 geschlossene Vertrag von Bretton Woods dazu diente, die Währungen der Teilnehmerstaaten stabil zu halten, indem man sie an den Dollar band, so nahm sich das aus Sicht der US-Regierung etwas anders aus: Der Vertrag war ihre Art, die amerikanische Einflusssphäre auszudehnen. Brzezinski freut sich, dass die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, die 1944 gegründet wurden, nach wie vor dazu dienen, die Interessen der Vereinigten Staaten zu vertreten. Das Gleiche gelte für die Uno und die Nato.

Was Brzezinski vor mehr als zehn Jahren aufgeschrieben hat, ist nichts anderes als das, was sogenannte Antiamerikaner immerzu vortragen. Wenn aber ein Deutscher das sagt, was Brzezinski geschrieben hat, läuft er Gefahr, als Antiamerikaner und politischer Schwachkopf gebrandmarkt zu werden.

Machtausweitung ist nicht alles: Sie muss ideologisch fundiert werden. Dafür kam die kommunistische Sowjetunion gerade recht. Am Hamburger Institut für Sozialforschung fand unlängst eine Tagung über die Geschichte des Kalten Kriegs statt, wo auch der Amerikaner Mark Kramer, eine weltweit respektierte Koryphäe auf dem Gebiet, zugegen war. Kramer sagt: Stalin habe nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem das Interesse gehabt, seinen Einfluss über die der Sowjetunion durch den Krieg zugefallenen Staaten zu bewahren. Sollte es einen neuen Krieg gegen den Westen geben, was Stalin nicht ausschloss, wollte er sicherstellen, dass dieser sich nicht schon wieder auf seinem Territorium abspiele. Weiter seien seine Ambitionen in Westeuropa nicht gegangen. Das war auch vor fünfzig Jahren kein Geheimnis. Doch in der Zeit des Kalten Kriegs wurde die Furcht vor dem „Iwan“ geschürt. Adenauer gehörte zu den Ersten, die in ihren Albträumen die Rote Armee am Rhein sahen. Er war es, wie der Historiker Christian Nuenlist in Hamburg erzählte, der Mitte der fünfziger Jahre sowjetische und amerikanische Abrüstungsbemühungen erstickte: Weil Präsident Eisenhower wusste, was er seinen Vasallen schuldig war, ließ er die Verhandlungen damals im Sand verlaufen.

Auch ohne Völkerrecht

Die amerikanische Strategie, ökonomische Prosperität und Demokratie als Paket zu verkaufen, funktioniert heute noch, nur dass mangels eines kommunistischen Gegners der zündende Funke fehlt. Im Jahr 2001 hat man den Islam und seine terroristischen Vertreter als neue Gegner gefunden. Mark Kramer zufolge hat sich substantiell an der amerikanischen Politik aber nichts verändert. Es sei lediglich eine Frage des Stils. In der Tat hat schon die Clinton-Regierung sich die Schwäche Russlands zunutze gemacht und – so schreibt der Kommentator Seumas Milne im Londoner Guardian – „sich herausgenommen, in anderen Ländern einzufallen, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht oder internationale Institutionen“. Milne denkt unter anderem an den Kosovokrieg.

Andere Beobachter, zu ihnen zählen Zbigniew Brzezinski und dem Vernehmen nach auch George Bush Senior, sehen das völlig anders: Die Regierung von Bush Junior sei davon abgekommen, ihre Einflusssphäre mit friedlichen Mitteln zu befestigen und Kriege nur dann anzufangen, wenn sie erfolgversprechend seien. Die militärischen Aktionen in Afghanistan, dem Irak und jetzt Pakistan belegten es. Alte „Falken“, die wie Brzezinski denken, raufen sich angesichts der Politik von Bush Junior die Haare.

Die Amerikaner haben es nicht ertragen, als Chruschtschow Atomraketen auf Kuba stationieren wollte. Jetzt müssen die Russen es hinnehmen, dass neue Raketen in Polen aufgestellt werden. Und weil Georgien von den Vereinigten Staaten protegiert wird, gilt Russland als bösartiger Aggressor in Georgien. Diese Ansicht scheint ein westliches Phänomen zu sein. Singapurs ehemaliger UN-Botschafter Kishore Mahbubani schrieb dazu in der Financial Times, „der größte Teil der Welt“ wundere sich über den moralischen Aufwand, mit dem der Westen Partei für Georgien ergriffen habe.

Die einzige Weltmacht, die ihre „Einflusssphären“ gegenwärtig nicht politisch auszudehnen sucht, ist China. Das Land hat unermessliche Dollarreserven angesammelt und vor kurzem mit gigantischen Investitionen dazu beigetragen, die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten zu stabilisieren. Die chinesische Führung sagt sich, dass im Spiel um die Weltmacht gewinnt, wer wirtschaftlich floriert. Die Ironie der Geschichte will es, dass diese Idee im Europa des achtzehnten Jahrhunderts zu ersten Mal formuliert wurde.


Aus: Süddeutsche Zeitung, vom 18.09.2008 – Seite 11