Steh auf, Arthur, es ist Re­vo­lu­tion

Die Republik von Weimar war gar nicht so schlecht, sagt Robert Gerwarth. US-Präsident Wilson war gar nicht so gut, sagt Eckart Conze. Zwei Bücher über das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren – und über Rassismus bei den Friedensverhandlungen in Versailles.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Am 6. November 1918 reiste der spätere Reichskanzler Hermann Müller, ein Sozialdemokrat, mit der Eisenbahn in die Hafenstadt Kiel, wo Matrosen und Arbeiter seit einigen Tagen revoltierten. Im Zug wurde er von einem Seemann mit roter Armbinde, die ihn als Revoluzzer kenntlich machte, kontrolliert. Der Matrose ermahnte Müller: Sein Pass sei schon seit Monaten abgelaufen. Aha, machte Müller und wunderte sich im Stillen: „Wäre es in einem anderen Land denkbar gewesen, dass in der Nacht nach Beginn einer Revolution ein Revolutionär sich Sorgen um die Verlängerung eines Passes gemacht hätte?“. Wie der in Dublin lehrende Historiker Robert Gerwarth klarmacht, ist diese Episode bloß eine Schnurre während der brutalen Ereignisse von 1918 und 1919.

Am 9. November 1918 weckte die Berliner Gewerkschafterin Cläre Caspar-Derfert einen Genossen frühmorgens mit dem Ruf: „Steh auf, Arthur, es ist Revolution.“ Auch das nimmt sich im Nachhinein skurril aus. Wirklich bemerkenswert daran ist das Datum: Zunächst wurde in Wilhelmshaven und Kiel revoltiert; in München wurde König Ludwig III. gestürzt. Dann erst ging es in Berlin zur Sache. Für gewöhnlich beginnen Revolutionen in der Hauptstadt eines Landes. Auch in anderer Hinsicht findet Gerwarth die deutsche Revolution von 1918/19 ziemlich einzigartig – damit angefangen, dass sie viel erfolgreicher gewesen sei, als ihr nachgesagt wird. Gerwarth untermauert seine Meinung nicht mit neuen Erkenntnissen; er setzt darauf, eine schon früher vorgetragene Sichtweise zu akzentuieren. Das macht er auf eindrückliche, farbige Weise.

Weil die Revolution sich aus dem Ersten Weltkrieg ergab, beschreibt Gerwarth ausführlich und mit glücklichem Händchen für saftige Zitate die Haltung des Kaisers und seiner Generäle. Die Strategie des Deutschen Reiches ließ zu wünschen übrig: Permanent bemühte man sich, Aufrührer zu stärken: so etwa – vergeblich – die irischen Republikaner im Osteraufstand 1916 gegen die britische Regierung. Dschihadisten sollten im Nahen Osten gegen die Alliierten und ihre einheimischen Gewährsleute angehen. Man wähnte sich clever und sandte 3000 muslimische Kriegsgefangene aus Wünsdorf bei Berlin in ihre Heimat zurück, die aber – o Wunder – dort keine nennenswerte Zahl von Kämpfern mobilisieren konnten. Irrwitzig war die Annahme der Obersten Heeresleitung 1916, es sei egal, wann die USA sich an dem Krieg auf Seiten der Alliierten gegen die Mittelmächte beteiligen würden: Bis dahin habe man England längst besiegt.

Als die Niederlage Anfang Oktober 1918 unabwendbar war, hatten die arroganten deutschen Befehlshaber immerhin die Einsicht, dass Frankreich und Britannien gar nicht gut auf sie zu sprechen waren. Also wandten sie sich nur an den US-Präsidenten Woodrow Wilson, der – streng christlich erzogen – von einem „Verhandlungsfrieden“ ohne Sieger gesprochen hatte. Kurz bevor eine deutsche Note an Wilson abgeschickt wurde, versenkte ein deutsches U-Boot ein britisches Passagierschiff: 500 Zivilisten ertranken. Sie wurden – entgegen dem Seerecht und der Genfer Konvention – nicht gerettet. Der U-Boot-Krieg der Deutschen machte es Wilson nicht eben leichter, beim US-Kongress, bei den amerikanischen Wählern sowie den rachsüchtigen Franzosen und den nicht zuletzt um ihre Kriegsschulden besorgten Briten für Milde zu werben. Entsprechend hart sollten die Pariser Verträge für das Deutsche Reich und seine Verbündeten denn auch ausfallen.

Bis Ende 1918 hatte Frankreich, so Gerwarth, „ein Viertel seiner männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 27 Jahren verloren“. Zwei Millionen deutsche Soldaten waren zu Tode gekommen. Ein Oberst berichtete kurz vor Kriegsende: „Allgemein kam zum Ausdruck, dass die Truppe nichts gegen ihren Kaiser habe, dass er ihr eigentlich ganz gleichgültig sei (. . .) Die Truppe ist total müde und abgekämpft.“ Die Heereskommandeure begriffen endlich, dass der Krieg verloren war. Die deutsche Admiralität indes wogte in überheblichem Stolz: Ende Oktober 1918 wollte sie die Flotte, die bis dahin militärisch unnütz und deshalb in den Häfen verblieben war, in einem letzten Aufgebot gen England schicken, um sie „ehrenvoll“ untergehen zu lassen. Die Matrosen, deren Untergang eingeschlossen war, machten nun nicht mehr mit. So begann die deutsche Revolution.

Was daraus wurde, zeichnet Gerwarth zu Recht in gutem Licht: Der Kaiser dankte ab; das Deutsche Reich wurde eine demokratische Republik mit dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert als ihrem ersten Präsidenten. Die Regierung von Weimar verabschiedete etliche fortschrittliche Gesetze: Frauen erhielten das Wahlrecht; nun gab es Tarifabschlüsse, die mit den Gewerkschaften ausgehandelt wurden; der Acht-Stunden-Tag wurde eingeführt. Kein anderes Land, so Gerwarth, habe aus dem Weltkrieg so viel gelernt und so bedeutsame Reformen auf den Weg gebracht. Zur Stabilisierung der Verhältnisse erhielten sechs Millionen demobilisierte Soldaten Anspruch darauf, ihren früheren Arbeitsplatz wieder einzunehmen. Den Beamten wurden ihre Einkommen garantiert, damit sie die Bürokratie am Laufen hielten.

Gerwarths Fazit: Die Weimarer Republik hätte Bestand haben können. Die Erzählung von der „todgeweihten“ Republik komme bloß zustande, wenn man in der Rückschau von der Machtübernahme der Nazis her denke. So gern man ihm da zustimmen würde, ganz plausibel ist das nicht. Sicher, die Weimarer Republik war seit 1923 recht stabil. Aber im Untergrund wirkten Fliehkräfte, gegen die keine gute Gesetzgebung und kein demokratischer Polizeichef ankommen konnten.
Die Weimarer Republik war innerlich zerrissen: Hier diese, die (wahlweise oder alles zusammen) dem Militarismus huldigten, dem Kaiserreich nachtrauerten, die geschwundene Macht Deutschlands beklagten, den Versailler Vertrag für ein Verbrechen an der deutschen Ehre hielten, Frauen als minderwertig betrachteten und sich Politik auch als Ausübung von physischer Gewalt vorstellten. Auf der anderen Seite standen jene, die für die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien votierten, denen die Reformen nicht weit genug gingen, die keinen Parlamentarismus wollten, sondern die Herrschaft von Arbeiter- und Soldatenräten, und die sich – ebenso wie ihre Gegner – Politik auch als Ausübung von physischer Gewalt vorstellten. Angesichts dieser Gemengelage und weil die Weimarer Verfassung fatalerweise vorsah, dass jede Partei, die mindestens 60 000 Stimmen erhielt, im Reichstag vertreten sein solle, war das Scheitern des Parlamentarismus abzusehen. Der Reichspräsident war als stabilisierende Kraft gedacht und mit übergroßer Machtfülle ausgestattet, was der Demokratie aber auch nicht gut tat. Hinzu kamen die drückenden Auflagen des Friedensvertrags von Versailles, von dem Zeitgenossen schon sagten: Unter diesen Bedingungen könne die deutsche Demokratie nicht dauern.

Mit den Ergebnissen aller Friedensverträge, die grosso modo als Versailler Vertrag bekannt sind, beschäftigt sich der Marburger Historiker Eckart Conze ausführlich in seinem anregenden Buch „Die große Illusion“, das von der „Neuordnung der Welt“ nach dem Ersten Weltkrieg handelt. Weil die USA als die einzig wahren Gewinner aus dem Krieg hervorgingen, gilt Conzes besonderes Interesse dem Präsidenten Woodrow Wilson. Der hatte in seinen „Vierzehn Punkten“ am 8. Januar 1918 das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ proklamiert. Das war es, was den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm bewog, Wilson als den schlechtesten aller US-Präsidenten zu bezeichnen. Den Präsidenten Trump konnte Hobsbawm, der 2012 verstarb, nicht mehr erleben (und ob jener dem Üblen, das George W. Bush mit dem Irak-Krieg 2003 anrichtete, eins draufzusetzen vermag, bleibt – trotz aller Anzeichen – noch abzuwarten). Conze sind marxistische Allüren fremd, aber auch er hält Wilsons Vision für verfehlt. Conze schreibt: „Dass Demokratisierung und Nationalisierung den Frieden in Europa und der Welt sicherer machen würden, war eine der großen Illusionen von 1919.“

Der christliche Wilson war verliebt in die Vorstellung, die Völker sollten über ihr Schicksal selbst bestimmen. Allerdings galt das nur für die weiße – zivilisierte – „Rasse“. In seiner Jugend war der Südstaatler von Sklaven umgeben. Daraus schloss der gläubige Woodrow: Gott habe diesen Leuten die Position gegeben, die ihnen fromme. Rassismus sollte, wie Conze lapidar anmerkt, bei den Friedensverhandlungen in Paris „durchaus eine Rolle spielen“. Da war etwa die Delegation von Nguyen Ai Quoc, der später als Hô Chí Minh berühmt wurde. Der studierte junge Mann war – ungebeten – nach Paris gekommen, um Wilson eine Bittschrift zu übergeben: Vietnam sei von Kolonialmächten besetzt. Alles Vertrauen setze man in den Präsidenten der Vereinigten Staaten, seinem Volk die Freiheit zu geben. Conze merkt an: Nicht bekannt sei, ob Wilson diese Schrift überhaupt gelesen hat. In seinen Erinnerungen schrieb Hôồ Chí Minh: „Es war Patriotismus und nicht der Kommunismus, der mich veranlasste, an Lenin zu glauben.“

Niederschmetternd nimmt sich auch aus, was Conze von den Bemühungen der Delegation aus Afrika erzählt. Afrikaner waren nicht nach Paris eingeladen, aber da der amerikanische Präsident doch „Selbstbestimmung“ ganz groß schrieb, reisten sie auf eigene Faust und stellten am 21. Februar 1919 einen Kongress auf die Beine. Neun afrikanische Länder waren vertreten. „Weit entfernt von radikalen Forderungen, trat dieser Kongress für moderate Reformen“ ein, schreibt Conze: Es ging bloß um „kleine Schritte in Richtung Selbstverwaltung“. Die Delegierten erklärten, dass viele Afrikaner es gutheißen würden, „sich einer durch den Völkerbund ausgeübten Zivilisierungsmission zu unterziehen“. War diesem bescheidenen Ansinnen ein Echo beschert? Ja, der afrikanische Organisator des Kongresses wurde während seines Aufenthalts in Paris von amerikanischen Geheimdienstleuten „auf Schritt und Tritt“ überwacht.
Demütigungen waren auch den Vertretern von Korea und China beschieden. Japan war damals eine starke Militärmacht; also schenkte man als unwichtig betrachteten Ländern wie China und Korea, die mit Japan im Konflikt standen, kein Gehör. Conze und mit ihm seine Leser denken: Weitsichtig haben die Großmächte damals in Paris nicht agiert.

Es drehte sich alles um nationale Interessen der führenden Mächte. Völlig selbstlos war Wilsons Idee vom Selbstbestimmungsrecht der Völker übrigens nicht: Der damit verbundene weltweite, liberale Internationalismus sollte sich, so Conze, selbstverständlich unter der Vorherrschaft der USA abspielen. Wilsons Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht blieb hingegen allzu vage. Der damalige Außenminister Robert Lansing fragte hilflos: „Was für eine Einheit“ habe Wilson denn „im Kopf? Meint er eine Ethnie, meint er ein territoriales Gebiet oder meint er eine Gemeinschaft?“ Auf jeden Fall werden seither Gewalt und Krieg gern mit der Idee vom Selbstbestimmungsrecht legitimiert. Mit Wilsons Erklärung, so Conze, „war der Geist aus der Flasche“. Und heutige nationalistische Bestrebungen in europäischen Ländern werden mit dazu passenden „verharmlosenden Tarnvokabeln wie ,Selbstbewusstsein‘ und ,nationales Interesse‘“ vorangetrieben – auf Kosten Europas.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 09.10.2018, Seite V2/21 / Literaturbeilage

 

 

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