Der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister preist die soziale Marktwirtschaft. In seinem jüngsten Buch beschreibt er „die Schlacht“ zwischen Keynesianern und Neoliberalen. Wie soll es mit der Wirtschaft weitergehen? Schulmeister unterbreitet Vorschläge
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Haben Sie, geehrte Leser, schon einmal von der Phillips-Kurve gehört? Ja? Nein? Der verstorbene Helmut Schmidt berief sich zwar gern auf den Philosophen Karl Popper, aber die Phillips-Kurve bestimmte seine Politik. 1972 sagte der SPD-Politiker: „Mir scheint, dass das deutsche Volk – zugespitzt – fünf Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“ Popper, dessen Denken mit so gut wie allem jenseits einer Diktatur vereinbar ist, zitierte er gern. Aber er glaubte an die Phillips-Kurve.
Aufs Erste gesehen, ist Schmidts Abwägung nicht verständlich: Was hat Arbeitslosigkeit mit Preisanstieg, also Inflation zu tun? Alban W. Phillips, der 1958 die Ergebnisse seiner statistischen Untersuchung britischer Arbeitslosigkeit präsentierte, hat denn auch nicht von Inflation gesprochen. Sein wichtigster Beitrag zur Wirtschaftswissenschaft – die Phillips-Kurve – ist plausibel: Wenn Arbeitslosigkeit abnimmt, gibt es für die Beschäftigten im Schnitt bessere Löhne. Denn wenn die Nachfrage nach Arbeit steigt, können Gewerkschaften bessere Tarife aushandeln.
Schon 1960 indes haben die Ökonomen Paul A. Samuelson und Robert M. Solow der Phillipps-Kurve einen Schlenker gegeben: Wenn die Löhne steigen, dann geben Unternehmen die Lohnsteigerung an die Konsumenten weiter, die Preise werden höher, also gibt es mehr Inflation. Das war Wasser auf die Mühlen aller, die immer schon fanden, dass Arbeitnehmer nicht zu gierig werden sollten. Hinfort schien es den Politikern, dass sie sich entscheiden mussten: Mehr Beschäftigung und mehr Inflation; oder satte Arbeitslosigkeit und weniger Inflation. Helmut Schmidt dachte zwar ziemlich konservativ, aber er war immerhin Sozialdemokrat genug, sich diesbezüglich auf die Seite der Arbeitnehmer zu schlagen.
Aus Sicht des österreichischen Wirtschaftswissenschaftlers Stephan Schulmeister ist die modifizierte Phillips-Kurve von enormer Bedeutung. In seinem Buch „Der Weg zur Prosperität“ beschreibt er die Entwicklung des Wirtschaftswesens in der Eurozone. In den vergangenen Jahrzehnten standen auf der einen Seite jene, die für Arbeitnehmer und staatliche Regulierung des Geschäfts- und Finanzwesens argumentieren; auf der anderen Seite jene, die meinen, der Staat störe Unternehmen bei der Entfaltung ihrer Kräfte. Grob gesagt: Soll der Staat die Nachfrageseite stärken (indem er reguliert, Unternehmen Steuern auferlegt, bestimmte Finanzpraktiken beschränkt); oder soll er die Angebotsseite stärken (indem er sich möglichst heraushält und die Märkte ihrer Selbstorganisation überlässt)? Kurz: Es ging um den Kampf von Keynesianern gegen Neoliberale.
Diesen Kampf haben die Keynesianer in den 1970er-Jahren verloren. Das lag auch an der modifizierten Phillips-Kurve. Schulmeister spricht von der „Schlacht um die Phillips-Kurve“. Während des Ölpreisschocks 1973, als die Opec die Preise so erhöhte, dass in der Bundesrepublik das Benzin an den Tankstellen rationiert wurde, fand beides zugleich statt: Eine wirtschaftliche Rezession und eine Inflation. Damit schien die modifizierte Phillipps-Kurve widerlegt zu sein und damit, um ein paar Ecken weiter, der Keynesianismus. Seither, sagt Schulmeister, hatten die „Neoliberalen“ Oberwasser.
Heute gilt „neoliberal“ als Schimpfwort, als Bezeichnung für alle, die dem individuellen Profitstreben auf Kosten der Gesellschaft das Wort reden. Deshalb wollen Neoliberale lieber „liberal“ genannt werden. So einfach will Schulmeister sie aber nicht davonkommen lassen. 1938 gab es ein Treffen in Paris, bei dem Ökonomen diverser Schulen sich als neoliberal bezeichneten. Sie und ihre Nachfolger, so Schulmeister, seien in einer gemeinsamen „ideologischen Ansicht“ vereint; die bestehe „in der Skepsis gegenüber kollektiven Lösungen, wenn nicht gar in der totalen Ablehnung, egal ob Kommunismus, Sozialismus oder Sozialstaat“. Auch teilten sie ein Menschenbild: „Der Mensch wird nur als Individuum begriffen, nicht auch als soziales Wesen.“ Die einstige britische Premierministerin Margaret Thatcher hat das mit der ihr eigenen Verve auf den Punkt gebracht: „So etwas wie ,die Gesellschaft’ gibt es nicht.“ Es gebe nur Familien und Individuen.
Die Deindustrialisierung ihres Landes hat Thatcher kräftig angeschoben. Großbritannien ist ein Weltzentrum der Finanzdienstleistungen geworden und damit von vielen Entwicklungen, die Schulmeister für schädlich hält. Völlig recht hat er mit seinem Plädoyer, Realwirtschaft gehe vor Finanzwirtschaft. Wenn ein Unternehmen etwas produziert, das man anfassen kann, ist das für ein Land etwas wert; Kasino-mäßige Spekulationen mit Währungen, Derivaten und anderen Finanzprodukten sind so nützlich wie ein Loch im Kopf.
Schulmeisters Vorschläge, wie die EU-Wirtschaft auf gesunde Füße gestellt werden könnte, leuchten ein. Er plädiert für die „Förderung der Realwirtschaft durch Stabilisierung der Finanzmärkte“. Der Hochfrequenz-Handel müsse unterbunden werden mittels elektronischer Auktionen, die alle zwei Stunden abgehalten werden. In der Realwirtschaft passiert binnen zwei Stunden in aller Regel nichts, den Kasino-Abenteurern wäre damit aber das Wasser abgegraben. Außerdem hält er eine Finanztransaktionssteuer für sinnvoll: 0,01 Prozent Abgabe auf jeden Kauf oder Verkauf ändern das Gebaren der Spekulanten. Schulmeister macht Vorschläge, wie die Abnutzung der Erde eingepreist werden könne. Er kämpft für den Sozialstaat.
Sein Buch heißt „Der Weg zur Prosperität“. In Shakespeares Theaterstück „Der Sturm“ ist König Prospero ein Zauberer. Schulmeister ist ein Zaubermeister, dessen Vorschläge aber leider bis auf Weiteres wohl in den Wind gesprochen sind.