„Schul­di­ger Schuld­ner“

Im August soll das letzte „Hilfsprogramm“ der EU für Griechenland auslaufen. Dem Land wurde eine Austeritätspolitik ohnegleichen verordnet. Sie basiert nicht zuletzt auf der Auslegung von Statistiken. Der Ökonom Stephan Schulmeister ist der Auffassung, Griechenland sei übel mitgespielt worden.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Nachdem Alexander der Große Persien erobert hatte, trat er 326 vor der Zeitrechnung mit seinen Truppen den Feldzug ins ferne, unbekannte Indien an. Wie viel Land es da zu erobern gab, wusste der Grieche nicht. Deshalb nahm er Bematisten mit: Das waren Männer, die sich darauf verstanden, über Stock und Stein und Berg, über Tausende von Kilometern immer dieselbe Schrittlänge einzuhalten und ihre Schritte zu zählen. Aus der Zahl der Schritte ließ sich ableiten, wie sehr Alexanders Reich von Tag zu Tag anwuchs. Diese Bematisten sind bewundernswert: Ihre Berechnungen weichen von denen der modernen Geografie nur um fünf Prozent ab. Ihre Arbeit konnten sie absolvieren, weil sie nicht kämpfen mussten, weil ihre Aufgabe war, achtsam zu laufen und jeden Schritt zu zählen.

Die amtlichen Statistiker von Eurostat sind ein bisschen wie Alexanders Bematisten: Auch sie mischen sich ins kämpferische Politgeschehen nicht ein. Unbeirrbar gehen sie ihren Weg. Wenn die Ergebnisse statistischer Erhebungen durch die Lauge einer ökonomischen Theorie gezogen werden, äußern sie sich dazu nicht.

Die Griechen gelten bei vielen als „faul“. Diese Annahme beruht auf Statistiken, für die Eurostat nicht verantwortlich zeichnet. Weil die EU-Kommission aber Ergebnisse sehen wollte, auf deren Grundlage sie Politik machen konnte, hat sie Leute bemüht, die Ökonometrie betreiben. Sie wollte wissen: Wie hoch war das strukturelle Defizit Griechenlands? Anders gesagt: Wie sehr ist Griechenland selbst „schuld“ an seiner Misere? Was dabei herauskam, hat der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister in seinem Buch „Der Weg zur Prosperität“ (Ecowin Verlag, 2018) scharf kritisiert.

Die Ökonometrie ist eigentlich die Kunst, wirtschaftstheoretische Hypothesen statistisch daraufhin zu untersuchen, ob sie plausibel sind. Im Falle Griechenlands, so Schulmeister, sei aber die wirtschaftliche Ideologie des „Neoliberalismus“ in mathematische Modelle hineingerechnet worden.

Mit dem Defizit eines Landes verhält es sich wie mit Defiziten der menschlichen Physis: Stress kann den Körper beleben, so wie sinnvolle Kreditaufnahme eine Wirtschaft beflügeln kann. Er kann aber auch zu Antriebslosigkeit führen. Letzteres nennt man in der Wirtschaft ein strukturelles Defizit. Die EU-Kommission wollte nach Ausbruch der Griechenlandkrise herausbekommen, wie hoch das strukturelle Defizit des Landes war. Weil die diesbezüglichen wirtschaftspolitischen Grundannahmen und Herangehensweisen an Berechnungen von Euro-Land zu Euro-Land nicht dieselben sind, wollte Eurostat lieber keine Expertise erstellen. Also griff die EU-Kommission auf andere Experten zurück. Deren Arbeit, meint Stephan Schulmeister, habe fatale Auswirkungen gehabt.

Für nachgerade perfide hält er, wie bei der EU-Kommission mit Arbeitslosenstatistiken umgegangen werde: Es wird unterschieden zwischen „strukturell“ Arbeitslosen und echten Arbeitslosen. Strukturell arbeitslos sind alle, die nicht arbeiten können oder „freiwillig“ arbeitslos sind (landläufig nennt man das „faul“). Schulmeister legt dar, wie die Zahl der strukturell Arbeitslosen aufgebläht werde: „Als Teil des Konzeptes wird angenommen, dass flexible Arbeitsmärkte jeden durch ,Schocks‘ verursachten Anstieg der Arbeitslosigkeit rasch korrigieren.“ Daraus folge: „Wenn die Arbeitslosigkeit hoch bleibt oder weiter steigt, dann muss sie strukturell bedingt sein.“

Also: Der arbeitslose Friseur und die arbeitslose Klempnerin gelten ganz schnell als arbeitsunwillig. Wo die Leute sich ihre Arbeitslosigkeit angeblich ausgesucht haben, wo es sie aber dennoch gibt, hat ein Staat aus Sicht der EU-Kommission ein Problem: Der EU-Fiskalpakt von 2011 schreibt vor, dass das strukturelle Defizit eines Landes kleiner sein muss als 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das findet Schulmeister in Ordnung: „Die schlimmsten Folgen für die Menschen hat nicht der Fiskalpakt an sich, sondern die Methode seiner Anwendung.“ Arbeitssuchende würden für volkswirtschaftlich unbrauchbar erklärt.

Dies aufgrund der – mit mathematischen Formeln untermauerten – „neoliberalen“ Annahme, der Markt werde schon alles richten, weil er es ja mit „rationalen Marktteilnehmern“ zu tun habe. Viele jüngere Ökonomen glauben das nicht mehr; aber bei der Berechnung von Griechenlands strukturellem Defizit schlug diese Annahme offenbar noch voll zu Buche.

Deshalb sei bei der griechischen Finanzkrise, laut Schulmeister, das Wirken der Finanzmärkte ausgeblendet worden: Da wurde mittels Kreditausfallversicherungen auf den Kursverfall griechischer Anleihen gewettet. Die Prämien stiegen. Mit ihnen stiegen die Anleihezinsen: „Bereits im Mai 2010 waren sie für Griechenland unbezahlbar.“ Weil nun aber, gegründet auf „neoliberale“ Annahmen, das strukturelle Defizit hochgerechnet wurde, habe Griechenland büßen müssen. Die ersten zwei Tranchen der Milliardenkredite gingen nur an die Gläubiger, darunter prominent deutsche und französische Banken.

Klientelwirtschaft und mangelhafte Verwaltung hin oder her: „Der katastrophale, sechs Jahre anhaltende Wirtschaftseinbruch in Griechenland“, schreibt Schulmeister, sei „ausschließlich Folge der austeritätspolitischen Spezialmaßnahmen, die diesem Land und seinen Bewohnern auferlegt wurden“. Das Land sei zum „schuldigen Schuldner“ gemacht worden.

Von Schulmeisters Buch wird an dieser Stelle bei nächster Gelegenheit mehr zu erzählen sein. Interessant ist, wie freimütig er das Wort „neoliberal“ gebraucht. Neoliberale hält er für „Idealisten“, die sich für die Realwirtschaft und reale Menschen weniger interessieren als für ihre Theoreme.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 09.08.2018, Seite 18
Dieser Text stammt aus „Augsteins Welt“ – einer vierzehntägigen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung