Der Fahr­rad­be­auf­tragte

ie Regierungen Europas mögen nicht noch mehr Kompetenzen an die Europäische Kommission in Brüssel abgeben. Denn die ist dem klassischen Fehler von Bürokratien verfallen: Sie strebt nach immer mehr Bedeutung für sich. Die Zukunft der EU kommt dabei zu kurz.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Die lateinische Sprache ist arm dran: Im Alltag hat sie keine Chance gegenüber Anglizismen und Emojis. Vor achtzehn Jahren ging es ihr noch ein klein wenig besser. „In varietate concordia“ – in Vielfalt geeint – wurde 2000 das Motto der EU. Jacques Delors, dessen Name kaum mehr nennbar ist ohne das Epitheton „der große Europäer“, war von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission. Allerdings scheint er sich gedacht zu haben: Vielfalt gibt es sowieso, auf Vereinheitlichung kommt es an. Das dafür zuständige Emoji könnte ein Stern mit Händchen und Grinsegesicht sein, der sich selbst umarmt. Delors hat die Europäische Kommission geprägt. Freilich nicht zu ihrem Besten.

An der Europäischen Kommission wird viel gemäkelt. Teils zu Recht, teils nicht. Da wurde jahrelang täglich der fertig gekochte Kaffee aus Liège in großen Kesseln herangeschafft. In Brüssel angekommen, war er bloß noch lauwarm. Das Gesöff schmeckte zwar nicht, aber niemand konnte sich an dem Kaffee aus dem belgischen Lüttich die Zunge verbrennen. Diese gute Tat hatte die Kommission einem Belgier zu danken. Auch die Italiener kümmerten sich um das Wohlergehen der Kollegen in Brüssel: Sprudelwasser, fanden sie, sei nur dann genießbar, wenn es in Italien eingekauft werde.

Leute wie der Philosoph Jürgen Habermas haben anderes zu bemängeln. Habermas streitet für mehr Demokratie in der EU. Sein Anliegen und seine Argumentation sind berechtigt, wenn auch ohne viel Bezug zu dem, was politisch machbar ist. Günter Verheugen, von 2004 bis 2010 EU-Kommissar, plädierte vergeblich für die Direktwahl eines europäischen Präsidenten. Weil sein Vorschlag nicht umgesetzt wurde, kann man nur raten, ob das einen demokratischen Fortschritt bedeutet hätte oder auf die kosmetische Maßnahme hinausgelaufen wäre, der EU ein Gesicht zu geben.

Die EU gibt es dank der Vergemeinschaftung; und sie krankt an der Vergemeinschaftung. Das merken die Bürger anhand abstruser Verordnungen. Einige Jahre lang erhielten Gurken den Befehl, gerade zu wachsen. Bananen hingegen mussten einen bestimmten Krümmungswinkel haben. Die Energiesparlampen, die auf Anraten der Industrie eingeführt wurden, sind bei der Entsorgung alles andere als sparsam. Ob Äpfel und Tomaten Aroma haben, spielt keine Rolle, solange sie in Standardgröße kommen; die landwirtschaftliche Industrie dankt. Französische Käsehersteller wehren sich gegen die EU-Hygiene-Auflagen: Sie wollen, dass ihr Käse seinen Geschmack behält. In den osteuropäischen Beitrittsländern war es früher üblich, dass kleine Betriebe Schweine zu Hause aufgezogen und dort auch geschlachtet haben. Kleinstbetriebe haben in aller Regel nicht die Hygieneprobleme von Viehverwurstungs-Giganten. Vor den EU-Reglements sind nun aber alle gleich. Solche Dinge sind es, die die Bürger bemerken und die sie aufbringen gegen die EU.

Wer nun denkt, die EU habe sich von Industrie-Lobbyisten zu viel diktieren lassen, verkennt den Spross des europäischen Gedankens, den „der große Europäer“ Jacques Delors gepäppelt hat. Das Stichwort ist: Einheitlichkeit. Als vor Jahrzehnten die Adenauer-CDU gegen die SPD kämpfte, schalt sie die deutschen Sozialdemokraten der Gleichmacherei. Nun, in der Europäischen Union wurde genau das Wirklichkeit, für rund 500 Millionen Bürger.

Das Problem ist so komplex, dass Petra Erler, jahrelang Günter Verheugens Büroleiterin in Brüssel, zu einem weiteren Beispiel Zuflucht nimmt: Friedhofskerzen und der Ort, wo sie produziert werden. Nicht einmal mehr der Toten kann gedacht werden, ohne dass die EU darüber bestimmt. Petra Erler hält das für absurd. Die gebürtige Ostdeutsche hat schon zu DDR-Zeiten auf der Uni gelernt, was Marktwirtschaft ist. Daran hält sie sich. „Friedhofskerzen“, sagt Petra Erler, „die sind nur der Nebenkriegsschauplatz. Der Hauptkriegsschauplatz ist die Frage: Was brauche ich für das Funktionieren des Binnenmarktes? Aus Sicht der Kommission ist es so: Je mehr Vereinheitlichung, desto besser. Das ist das Problem! Wenn wir die Währungsunion in den Griff bekommen wollen, müssen wir dieses Problem attackieren.“

Die Arbeit der Europäischen Kommission leidet an zwei systemischen Fehlern. Der eine ist im üblichen bürokratischen Dilemma beschlossen: Man muss Kompetenzen an sich raffen. Die Beamten beschauen das Alltagsleben der EU-Bürger, um Dinge zu finden, mit deren Regulierung sie sich zur Beförderung empfehlen können. Petra Erler sagt, die Installierung eines europäischen Fahrradbeauftragten habe sie eben noch verhindern können.

Das zweite Problem ist gravierender. Wenn es weitergeht wie bisher, droht der Euro-Zone der Zerfall. Früher konnten Staaten in einer Krise ihre Währung abwerten. Das machte die Exporte günstiger und half den Ländern wieder auf die Füße. In der Euro-Zone ist das nicht mehr möglich. Anstatt nun den Euro-Staaten Möglichkeiten zu gewähren, dass sie sich berappeln könnten, wird aber immer weiter vereinheitlicht. Ein nächster Punkt auf der Liste ist die Körperschaftsteuer. Erler meint: Arme Länder dürften ihren Unternehmen nicht zu viele Steuern aufbürden. An Steuervermeidung, wie sie in Malta staatlicherseits toleriert wird, denkt sie dabei natürlich nicht. Aber Malta ist klein.

Wenn die Europäische Kommission nicht lernt, den Ländern ihre Eigenheiten zu lassen, wird die EU scheitern. Wenn die Kommission nicht lernt, dem finanziellen Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Staaten irgendwie zu begegnen, macht sie sich überflüssig.


Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 29.06.2018 – Seite 16
Dieser Text stammt aus „Augsteins Welt“ – einer vierzehntägigen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung
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