Hans Mommsen ist gestorben, der wichtigste Historiker der NS-Zeit in Deutschland nach dem Krieg
VON FRANZISKA AUGSTEIN
In dieser Anekdote, die Hans Mommsen noch Jahre später mit kaum gedrosselter Empörung zum Besten gab, spiegelt sich das Verhältnis der beiden Brüder: Wolfgang – er ertrank 2004 beim Schwimmen in der Ostsee – war eine halbe Stunde älter als Hans. Im Verhältnis der Zwillinge galt eine halbe Stunde so viel wie einige Jahre – das erklärt, wie sie miteinander umgingen. Wolfgang war der Ältere, gegen den der jüngere Bruder sich zur Wehr setzte.
Beide, Hans und Wolfgang Mommsen, waren bedeutende, für die bundesdeutsche Demokratie wichtige Historiker. Und beide waren, was ihre Freunde und Schüler mitunter in mitleidige und dann auch wieder amüsierte Verzweiflung stürzte, zur Bewältigung praktisch-einfacher Alltagsdinge nicht eben begabt.
Die Sprösslinge einer Gelehrtenfamilie, der nobelpreisgekrönte Urgroßvater Theodor Mommsen an der Spitze, hatten es in ihrer Jugend nicht leicht: Der Vater, der Marburger Historiker Wilhelm Mommsen, war während der NS-Zeit zum Mitläufer geworden. Er war dabei weniger eifrig als viele seiner Kollegen, anders als sie wurde er indes nach Kriegsende nicht ordentlich „entnazifiziert“. Die Familie lebte ohne Einkommen und verscherbelte, was sie noch an Wertgegenständen besaß. Um das alte Porzellan tat es Hans besonders leid. Für die Reputation seines Vaters argumentierte er ein Leben lang.
Hans studierte in Tübingen bei dem konservativen jüdischen Historiker Hans Rothfels, der aus der Emigration nach Deutschland zurückgekehrt war, um wieder zu knüpfen, was durch den Nationalsozialismus – aus seiner Sicht – hoffentlich nur unterbrochen gewesen sei. Hans Mommsen hat später erzählt, Rothfels habe ihn einmal gefragt, was denn das Wort der Sechzigerjahre, „repressive Toleranz“, zu bedeuten habe. Mommsens Antwort: So, wie Sie mit uns Studenten umgegangen sind.
Mommsen gehörte zu den Professoren, die Ende der Sechzigerjahre für die Mitbestimmung der Studenten votierten. Anders als sein Bruder, der für bürgerlich-liberales Denken einstand, war er ein Anhänger der Sozialdemokratie. Das hinderte ihn freilich nicht daran, sich so professoral zu gebärden, wie deutsche Ordinarien es seit Alters her gewöhnt waren. „Halten Sie das mal“, fuhr er einmal einen Doktoranden an, während er ihm seine Aktenmappe vor den Latz knallte. Auf der anderen Seite waren beide Mommsens bekannt dafür, dass sie sich um ihre Studenten kümmerten: Jedem, der sich bei ihnen habilitiert hatte, halfen sie anschließend, eine Anstellung zu finden. Und wenn die erste Beschäftigung nicht von Dauer war, suchten sie nicht selten auch eine zweite.
Schon in seiner Dissertation hatte sich Hans Mommsen mit der Arbeiterbewegung befasst. Ein Zufall war es, aber ein passender, dass er an der neu gegründeten Ruhruniversität Bochum 1968 als Professor bestallt wurde. Er ging gern in einem Wald nahe der Uni spazieren, von dem er wusste, dass darunter aufgelassene Bergwerkstollen liegen, deren Tragfähigkeit nicht ganz geklärt war.
Um Hahnenkämpfe zu vermeiden, hatten die Zwillinge die deutsche Geschichte früh unter sich aufgeteilt: Wolfgangs Domäne waren der Imperialismus und das deutsche Kaiserreich, während Hans sich auf Weimarer Republik und Nationalsozialismus kaprizierte. Wie wenige andere Historiker vermochte er – allein mit Aufsätzen – der Geschichtswissenschaft, die bis in die Sechzigerjahre von Konservativen dominiert wurde, neue Impulse zu geben.
Mommsen sei „zweifellos sehr begabt“, sagte sein Lehrer Rothfels, „aber etwas zappelig“. Damit mag er auch gemeint haben, dass dieser Schüler politisch wider den Stachel löckte. 1964, da war er 33 Jahre alt, veröffentlichte Mommsen in einer Zeitung sein historisches Credo: Die Zeitgeschichte dürfe nicht „dabei stehen bleiben, eine Kritik der Vergangenheit zugunsten der gelebten Gegenwart zu liefern, sie muss zugleich die Geschichte der jüngsten Vergangenheit von den Fragen her neu durchdenken, die von ihr her über Tage oder unterirdisch auf das gegenwärtige Handeln einwirken“ – „auch wenn es Kreise gibt, die das ungern sehen“. So publizierte Mommsen 1966 einen Aufsatz, in dem er darlegte, dass die Widerständler des 20. Juli bei aller Tapferkeit als Vorbilder für die Bundesrepublik wenig taugten.
„Die meisten Verschwörer sympathisierten mit gewissen antisemitischen Forderungen“; „die innenpolitischen Zukunftsentwürfe“ der Konservativen unter ihnen hätten „mit den Erfordernissen einer parlamentarischebhn Demokratie wenig zu tun“ gehabt. 1994 schrieb Mommsen: Im Interesse der deutschen Einigung sei es unabdingbar, auch die linken Widerständler in ehrenvoller Erinnerung zu behalten. Anders als die meisten Westdeutschen würden die meisten Ostdeutschen das Wort vom „Antifaschismus“ nämlich nicht für kommunistische Propaganda halten, vielmehr verstünden sie darunter „die Fülle der Widerstandsbewegungen“ gegen das NS-Regime.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die bequeme Ansicht breitgemacht, Hitler und seine Kamarilla hätten die Deutschen verführt und betrogen. Motto: Ich war es nicht, Hitler ist es gewesen. Gegen diese Selbstentlastung ging Mommsen an.
Auf der Suche nach dem spezifischen Umständen, die Hitlers Taten möglich machten, kam Mommsen zu seinem Konzept der „kumulativen Radikalisierung“, das auch unter dem Stichwort „Funktionalismus“ bekannt wurde: Die Schoah, so arbeitete Mommsen heraus, sei nicht einfach auf Befehl der NS-Spitze in Gang gesetzt worden. Die Vernichtung der Juden ergab sich aus dem Wunsch niederer Chargen, sich lieb Kind zu machen – der Historiker Ian Kershaw nannte das später „dem Führer entgegenarbeiten“. Hinzu, so Mommsen, sei der Druck gekommen, der durch die Zusammenpferchung vieler Juden auf engstem Raum in den Ghettos erwuchs: Die NS-Bonzen wussten nicht, wie sie die Leute ernähren und Seuchen vorbeugen sollten, Mord schien die praktikable Lösung zu sein. Sein letztes Buch, „Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa“ (2014) fasste seine Erkenntnisse zusammen.
Seit den Neunzigerjahren wurde deutschen Historikern wie Hans Mommsen vorgehalten, sie hätten sich nur für die Täter, nicht für die Opfer interessiert. Der Vorwurf geht ins Leere: Was hätten, die sich so äußerten, wohl gesagt, wenn deutsche Historiker nicht zuerst vor der eigenen, der deutschen Tür gekehrt und das System sowie das Personal des Nationalsozialismus untersucht hätten?
So streitbar Mommsen war, so empfindlich war er auch. Sein Jähzorn hat ihm mitunter schlechte Presse eingehandelt. Das hat ihn gekränkt – und aufs Neue erbost. Im Alter wurde er etwas milder. Er und seine Frau, die Osteuropahistorikerin Margarethe Mommsen, waren gute, ja liebevolle Gastgeber. Solange das Paar nahe dem Starnberger See lebte, waren Gäste des Sommers eingeladen, ihr Schwimmzeug mitzubringen. Alles Dekorum außer Acht und sein jeweils anhängiges Gegrummel hinter sich lassend, stieg der emeritierte C4-Ordinarius dann in den See – und freute sich im Kreis seiner Freunde.
Am Donnerstag ist Hans Mommsen an seinem 85. Geburtstag nach langer Krankheit gestorben. In den vielen Jahrzehnten seines Wirkens hat er für die Aufarbeitung der NS-Zeit mehr getan als etliche seiner Kollegen zusammen.