Im Herbst stehen in der Ukraine Kommunalwahlen an. Ob die neuen Parteien gegen die alten Seilschaften Chancen haben, bezweifeln viele. Eindrücke von einer Reise durch das Land.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Die Oligarchen sind in der Ukraine, was im Märchen die Könige sind: allgewaltig, allesbeherrschend. Anders als im Märchen sind sie nicht unbedingt gut und weise. Wenn ihnen danach ist, bringen sie ihre wirtschaftlichen Interessen mit Schlägertruppen zur Geltung. Oder sie ziehen sich den Tadel eines englischen Richters zu, nicht ganz ehrlich zu sein. Oder sie finanzieren Freischärler. So tat es der angeblich zweitreichste Oligarch des Landes, Ihor Kolomojskyj. Während seiner kurzen Zeit als Gouverneur des Oblasts Dnipropetrowsk bezahlte er 2014 die freiwilligen Kämpfer, die den Separatisten Paroli boten. Das hat man ihm in Dnipropetrowsk nicht vergessen.
Außerdem hat Kolomojskyj ein gigantisches Gebäude maßgeblich mitfinanziert: das Menorah Center. Es beherbergt unter anderem das Jüdische Museum der Stadt. Ein Besuch lohnt sich, zumal wenn der Museumsdirektor Igor Schtschupak die Führung macht. Er ist aufgekratzt und redet wie ein Schauspieler aus einem Lubitsch-Film, der in Wahrheit Geheimagent ist und nun einen begeisterten Museumsdirektor mimt. Die deutschen Besucher, angeführt von der Grünen-Politikerin Viola von Cramon, betrachten sich selbst zwar als Studienreisende, in der Ukraine werden sie freilich als „Delegation aus Deutschland“ wahrgenommen. Da legt Schtschupak sich ins Zeug.
Vor einem Foto halten einige Besucher inne: Es ist ein Bild aus einem deutschen KZ (aufgenommen im Januar 1945 in Auschwitz). Im Jüdischen Museum von Dnipropetrowsk wird es indes als Foto aus einem GULag ausgegeben. Darauf angesprochen, antwortet der Museumsdirektor: Die Nazis hätten halt von den Russen gelernt. Anschaulicher kann man nicht serviert bekommen, wie es um das Verhältnis zwischen Kiew und Moskau steht. Außerdem: Kolomojskyj hat in Russland wenig Aktien.
1963 geboren, hat er sich schon eine stattliche Sammlung von antiken Tischuhren zugelegt. Im dritten Geschoss des Jüdischen Museums kann man sie betrachten. Wo das Dekor der Uhren es an allegorischen entblößten Frauengestalten fehlen lässt, stehen neue in Metall gegossene Kitsch-Statuetten von nackten Weibern daneben. Seit März ist Kolomojskyj nicht mehr Gouverneur des Oblasts Dnipropetrowsk. Das liegt daran, dass sein oligarchischer Konkurrent, Petro Poroschenko, derzeit Präsident der Ukraine ist und den anrüchigen Kolomojskyj abberief.
Kyril Savin, der in Kiew das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitet, sagt: „Poroschenko ist nicht der Schlimmste und nicht der Reichste.“ Der Präsident fabriziert auch Waffen, aber vor allem Schokolade. Letztere hat er in großem Stil nach Russland exportiert. Auch auf der Krim hat er wirtschaftliche Interessen, weshalb kleine Bemühungen von ihm, sich mit Russland ins Benehmen zu setzen, von den Majdan-Aktivisten scheel angesehen wurden. Einer von ihnen ist Pavlo Khazan, er sagt: „Bei den nächsten Wahlen sollte Poroschenko nicht mehr antreten.“ Er sei gut als Übergangspräsident, mehr nicht.
Khazans Visitenkarte weist ihn als Vorstand der ukrainischen Nichtregierungsorganisation (NGO) „National Defence Foundation“ aus. Er ist IT-Spezialist und hat Auslandserfahrung. An sich, sagt er, sei die Landesverteidigung Aufgabe des Staates. Aber in der Ukraine müsse die Zivilgesellschaft die Sache selbst in die Hand nehmen. Er hat für die kämpfenden Truppen unentgeltlich ein Handy entwickelt, „das dem Nato-Standard genügt – aber das Verteidigungsministerium wollte das Gerät nicht haben“.
Damit ist das erste Hindernis auf dem Weg der Ukraine in eine bessere Zukunft deutlich gemacht: Die meisten Ministerien sind traditionell vor allem mit dem Selbsterhalt und der Bewahrung von Bürokratie beschäftigt. Die aus Sicht der Majdan-Aktivisten unangefochtene Spitzenposition hält das Verteidigungsministerium. Bis zum Ende des vormaligen Präsidenten Janukowitsch wurden die Arsenale von amtlicher Seite geplündert, das Material verscherbelt. Die Lager bestehen noch, aber niemand hat bisher ermittelt, was darin liegt.
Die Aktivisten in Dnipropetrowsk reden von mittlerweile 133 Parteien. Der deutsche Korrespondent Gerhard Gnauck erklärt das Phänomen mit dem Wort „Sofaparteien“. Soll heißen: Alle Parteimitglieder finden auf einem Sofa Platz. Unwahrscheinlich ist, dass die neuen Parteien sich bis zu den für den Herbst anberaumten Kommunalwahlen so weit einigen können, dass die in ihren Regionen und Städten aufgestellten Kandidaten es mit den Kandidaten der Oligarchen aufnehmen können. Im Übrigen werden die Kommunalwahlen vielleicht verschoben.
Zwei Gründe gibt es dafür. Der offizielle Grund: der Krieg in der Ostukraine. Leute von den Sofaparteien sagen sarkastisch: Die erst 2014 eingestellten Parlamentarier hätten noch nicht genügend Zeit gehabt, sich zu bereichern. Leute von der EU klagen: Die dringend nötige Dezentralisierung des Landes werde bis dahin ohnedies nicht abgeschlossen sein.
Bevor die Dezentralisierung umgesetzt ist, entscheiden der Präsident und die von ihm eingesetzten Gouverneure das Wesentliche. Pavlo Khazan vermisst den Gouverneur Kolomojskyj: Zu dessen Zeiten hätten die NGO-Aktivisten in seinem Amtssitz zu praktisch jeder Zeit sich treffen können, „auch nachts“. Der neue sei leider anders. Diese Beschwerde zeigt die Schläue des alten Gouverneurs: Er gab den NGOs das Gefühl, eingebunden zu sein; sie konnten aktiv sein, ohne aber wirkliche Akteure zu sein.
Das führt zu einem dritten Problem, das Pavlo Khazan so beschreibt: „Wir brauchen ideologische Parteien.“ Damit meint er: Parteien, die ein eigenes Programm haben, mehr als Sofaparteien sind und nicht von einzelnen Führungspersonen abhängig. Davon kann in der Ukraine noch nicht die Rede sein.
Die Majdan-Aktivisten sind stark, sie haben viel Rückhalt. Gleichwohl wird die Ukraine im Moment noch von Oligarchen geführt. Da sucht der Westen sich die angenehmsten aus. Außerdem hat der Westen auch eigene Interessen. Das ist das vierte Problem: Zwei hohe deutsche Außenpolitiker, die hier ungenannt bleiben, erzählten privatim: Der jetzige Ministerpräsident Arzenij Jazenjuk sei dem Präsidenten Poroschenko, der ihn nicht haben wollte, von den Vereinigten Staaten oktroyiert worden. Khazan sagt: Anfangs habe er auf Jazenjuk gesetzt, mittlerweile sei Poroschenko ihm aber lieber. Wie der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge sagt, sind die Programme von Poroschenko und Jazenjuk hinsichtlich des laufenden Reformprozesses allerdings ziemlich ähnlich.
Das fünfte Problem der Ukraine ist der Konflikt mit den Separatisten, die von russischer Seite unterstützt werden. Im Osten der Ukraine fühlen viele sich Russland nahe. In den Städten und Ortschaften, die halb zerstört sind, sehnen sich die allermeisten Leute nur noch nach Frieden. Die Ukrainer, die gegen Putin sind, meinen, er sei ein Imperialist und wolle ihr Land.
Die Frage ist: Was will Putin? Vor Monaten hat er gesagt: Wenn er Kiew hätte einnehmen wollen, wäre das eine Frage von drei Tagen gewesen. Militärexperten widersprechen da nicht. Stalin hatte, nachdem er die Einflusssphäre der Sowjetunion mit Hilfe des Westens arrondiert hatte, kein Interesse an neuen Eroberungen. Putin wird von manchen als eine Art Neostalinist betrachtet. Wenn er das ist, dürften alle Nato-Länder sich sicher fühlen. Stalin wollte von seiner Einflusssphäre nur das behalten, was er 1945 hatte. Der britisch-pakistanische Kommentator Tariq Ali schrieb neulich in der „London Review of Books“: „Vergleicht man die jetzige Dämonisierung Putins damit, wie Jelzin behandelt wurde, der zu seiner Zeit viel Übleres verbrach als Putin heute – die Zerstörung Grosnyjs zum Beispiel -, zeigt sich klar, dass es nicht ums Prinzip geht, sondern um die Interessen der stärksten Weltmacht.“
Angela Merkel hat auf der diesjährigen Sicherheitskonferenz in München erklärt, man könne die Ukraine nicht so stark bewaffnen, dass sie gegen Russland bestehen werde. Der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz bemerkt: Putin habe sich durch die Nato-Ost-Erweiterung provoziert gefühlt. Trotzdem hätte er vor fünf Jahren noch nichts gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine einzuwenden gehabt. Heute stehe alles anders: „Putin hat Angst vor einem russischen Majdan.“
Ende der neunziger Jahre hatte Boris Jelzin sich Putin als Nachfolger ausgesucht: Putin sorgte dafür, dass Jelzin, der viel Dreck am Stecken hatte, nichts passierte. In autoritär verfassten Ländern, sagt Polenz, „können die Herrscher nicht einfach abtreten“. Heute stelle sich für Putin die Frage, wie er sich ins Privatleben zurückziehen könne, ohne wie Hosni Mubarak, Julija Timoschenko oder Muammar al Gaddafi behandelt zu werden – also ohne Anklage und Gefängnis oder gar grausamen Mord.
Polenz bedauert, dass die EU erklärt habe, die Ukraine könne der Europäischen Union nicht beitreten. Unklar ist, was mit so einem Versprechen im Moment gewonnen wäre. Das ist das sechste Problem der Ukraine: Sie ist pleite. Ein Beitrittsangebot von Seiten der EU, nur damit das alte System sich von Brüssel subventionieren lässt: Das leuchtet auch den Majdan-Aktivisten nicht ein. Wilfried Jilge meint: Man müsse einen Crash verhindern und einen Investitionsfonds auflegen, der kleinen und mittelständischen Unternehmen das Weiterarbeiten ermögliche. So ein Fonds könne, um jeden Verdacht von Korruption zu vermeiden, von Frankfurt oder London aus geführt werden.
Die Ukraine, so Jilge, sei ein zuverlässiger Zulieferer für die Automobilindustrie, bei der Lebensmittelverarbeitung sei sie „gut aufgestellt“, die Landwirtschaft habe sich auch etwas erholt. Die traditionellen Stärken der Ukraine, so Jilge weiter, lägen im Schwermaschinenbau und in der Stahlindustrie. Da sei Modernisierung aber dringend nötig.
Die deutsche Kanzlerin, der Außenminister und andere tun ihr Bestes, damit der Krieg in der Ostukraine zu einem Ende kommt. Sollte das gelingen, können – zur Abwechslung wären die Vereinigten Staaten da nicht gefragt – die Ukraine, Russland und die EU überlegen, wie es weitergehen soll.