Fragen Sie eine Ba­busch­ka

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew über TV-Zombies in Putins Anhängerschaft, Meinungsfreiheit beim staatlichen Fernsehen und seinen gescheiterten Club für die „Telegenzija“

INTERVIEW: FRANZISKA AUGSTEIN

Um 14 Uhr unterrichtet er Freies Schreiben in der Freien Universität. Viktor Jerofejew, 67, ist als Gastdozent in Berlin. In dem Seminar sollen seine Studenten nun sagen, was sie von einem seiner Texte halten. Im Gespräch ist weniger vom Inhalt die Rede, als davon, wie er auf die Leser wirkt. Auf jeden Fall geht es darin drastisch, wenn nicht blutrünstig zu. Anschließend soll das Interview in einem Studentencafé stattfinden. Aber dort fühlt Jerofejew sich nicht wohl. Man weicht also aus in ein ausgezeichnetes französische Restaurant nahe seiner Wohnung, für ein spätes Déjeuner um 16.30 Uhr. Mit der Wirtin, einer Französin kommt er ins Gespräch und empfiehlt ihr seinen Roman „Die Moskauer Schönheit“.

SZ: Herr Jerofejew, Sie haben jahrelang eine Fernsehtalkshow in Russland moderiert. Worum ging es da?

Viktor Jerofejew: Die Sendung hieß Apokryphen. Da waren stets sieben Leute dabei, Schriftsteller, Künstler, Politiker und andere. Wir sprachen über Werte, kulturelle, soziale, sexuelle, moralische Werte. Und immer habe ich auch einen Ausländer und einen „Idioten“ eingeladen, also jemanden, von dem ich annahm, dass er schräge Dinge sagen würde.

Wenn man an Tolstoi und Dostojewski und andere denkt, scheint die Beschäftigung mit Werten eine russische Obsession zu sein.
Im 20. Jahrhundert wurden die Werte in Russland in titanischem Ausmaß demoliert. Erstmals nach der Russischen Revolution und dann nach dem Untergang der Sowjetunion. Letztere ging unter wie die Titanic. Fast alles war über Bord gegangen, die Werte trieben im kalten Wasser. Wenn Journalisten fragen: Was denken „die“ Russen, gibt es darauf heute keine Antwort. Ein jeder hat seine eigenen Werte. Wir boten mit unserer TV-Sendung ein Forum für die Telegenzija.

2011 wurde Ihre Sendung eingestellt. Es gibt Leute, die vermuten, Ihre Quote sei schlecht gewesen, das Interesse der Zuschauer nicht ausreichend.
Apokryphen erschien im staatlichen Kanal „Kultura“, der ist vom Zuschnitt her vergleichbar mit Arte. Wir hatten 2,5 bis 7,5 Millionen Zuschauer. Wir waren jenseits des Fernsehens zu einer Art Club geworden, mit öffentlichen Veranstaltungen, es gab schönes Tamtam. Liquidiert wurde die Sendung, weil sie dem designierten neu-alten Präsidenten Putin nicht mehr passte. Damals habe ich mit dem Noch-Präsidenten Medwedjew gesprochen. Der sagte, er könne nichts machen.

Apokryphen war – wie viele Talkshows im russischen Fernsehen – eine ziemlich schrille Sendung, also: Unterhaltungsfernsehen. Warum wurde sie abgesetzt?
Wir waren für das freie Wort, für universelle Werte. In Moskau hatte es nach Putins Wiederwahl Demonstrationen gegen ihn gegeben. Der neu eingestellte Fernsehchef sagte mir damals: Du arbeitest fürs Staatsfernsehen, was du machst, geht jetzt nicht mehr, außerdem provozierst du zu viele Skandale. Vorgeschützt wurde dann, der Sender Kultura befasse sich vor allem mit Literatur, und Apokryphen würde da nicht hineinpassen.

Bitte genauer, warum störte Ihre Sendung?
2011 hatte Putin, das Gefühl, dass er von der EU alleingelassen worden war. Merkel, Sarkozy: alles falsche Freunde, dachte er, sie haben mich verraten; die USA sowieso; jetzt wende ich mich ab von Europa und bin slawophil und imperialistisch. Zu dieser neuen Putin-Stimmung passte meine Sendung nicht.

Hat der Westen Fehler gemacht?
Jede Menge, schon seit 1991. Die Regierenden im Westen haben sich nicht Kenntnis davon verschafft, wie Russland beschaffen ist. Im Westen dachte man, Russland sei so ähnlich wie Portugal: ein armes, schwaches Land, das dankbar sein müsse, wenn es zur EU gehören dürfe. Vor Jahren habe ich gesagt, wenn das so weitergehe, werde der Kreml sich aufführen wie Iran. Damals bekam ich zu hören: Viktor, wir haben dich ja sehr gern, aber du übertreibst. Und wo stehen wir jetzt? Den Krieg in der Ukraine gäbe es nicht, wenn der Westen begriffen hätte, wie man mit Russland umgeht.

Wie denn?
Seit 1991 wurde Russland betrachtet wie ein verdrecktes Zimmer voller ekliger kleiner Tiere. Da brauche es eine Putzfrau, die mit dem Staubsauger mal ordentlich durchgeht. Es wurde ohne Respekt behandelt und ohne die angemessene Härte. Man muss mit Russland nuanciert umgehen.

Zurück zu den Medien: Dmitrij Gudkow, Duma-Parlamentarier und Putin-Gegner, hat der Financial Timesgesagt: „Wenn etwa 60 Prozent der Bevölkerung für Putin sind, dann sind nur 5 Prozent echte Anhänger. Die übrigen 55 Prozent sind durchs Fernsehen zu Zombies gemacht.“ Stimmt das?
Ach was! Das sind keine TV-Zombies, sondern Leute, die wirklich so denken. Reisen Sie mit mir nach Sibirien, fragen Sie eine Babuschka, was die meint: Die hat für Europa nichts übrig. Und so denken viele in Russland. Früher, als der Kreml noch ein gutes Einverständnis mit dem Westen suchte, war er eine Art Barrikade gegen einen großen Teil der Volksmeinung. Spätestens 2011 hatte Putin genug vom Westen, da hat er die Schleusen geöffnet. Seither setzt er auf den Zuspruch aller, die Slawentum, Imperialismus, Neurussland gut finden. Und bisher hat er damit Erfolg gehabt.

Und wie geht es Ihrer Meinung nach weiter?
Schon die Annexion der Krim war zu viel. Putin kann ihren Unterhalt nicht finanzieren. Er ist wie eine Schlange, die einen zu großen Brocken verschluckt hat. Erst wenn die Schlange das verdauen könnte, würde sie an einen neuen Bissen denken.

Es gibt auch viele Menschen, die mit Putin nicht einverstanden sind. Haben die noch eine Medienöffentlichkeit?
Im staatlichen Fernsehen ist das nicht gewünscht. Aber es gibt Zeitungen, die Novaja Gazeta zum Beispiel oder das Wirtschaftsblatt Kommersant: Die drucken vieles. Es gibt TV-Sender, die nur übers Internet laufen, da ist vieles möglich.

Warum haben Sie Moskau eigentlich für ein Jahr verlassen, warum sind Sie jetzt nach Berlin gekommen?
In Russland hatte ich einen Artikel veröffentlicht, des Inhalts: Warum ich trotzdem hier bleibe. Daraufhin wurde ich von vielen Seiten auf so gemeine Weise angegriffen, dass ich nur zwei Möglichkeiten hatte: Entweder mich juristisch wehren, was zur Folge gehabt hätte, dass ich definitiv zum Outsider geworden wäre, oder es schweigend hinnehmen. Ich saß zwischen zwei Stühlen, und dank guter Freunde konnte ich mich für eine Weile davonmachen.

Der Journalist Peter Pomerantsew, der neun Jahre lang in Russland Fernsehen gemacht hat, schrieb: Wladimir Putin sei darauf aus, westliche Unterhaltung mit seiner Propaganda zu vermischen. Wie steht es damit?
Die Staatssender zeigen westliche Filme. Medwedjew sagte mir, der Kreml kontrolliere die Fernsehkanäle komplett. Man wisse aber: Würde man westliche Sendungen nicht zulassen, wie es in der Sowjetunion üblich war, würden die Leute die Programme nicht mehr einschalten. Also lässt man sie zu. Auch jedes Buch kann in Russland gedruckt werden.

Wer liest schon Bücher?
Meine Leser zum Beispiel. Auch Bücher wurden in der Sowjetunion zensiert.

Also kann man in russischen Medien heute frei seine Meinung sagen?
Ich kann ohne Scheu einem russischen Radiosender ein Interview geben. Auch von Berlin aus. Noch.

Aus: Süddeutsche Zeitung (Deutschland) vom 11.05.2015 – Seite 23
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