Das Aphro­di­sia­kum der Macht

Henry Kissinger wird neunzig.

VON FRANZISKA AUGSTEIN

Joseph Heller, der Autor des berühmten Kriegsromans „Catch 22“, publizierte 1979 einen anderen satirischen Roman. Er heisst „Good as Gold“ und handelt von einem erfolglosen New Yorker Juden, der in die Politik gehen möchte, weil ihm gesagt wird, das sei gut für ihn. Eigentlich plant er, ein Buch über Henry Kissinger zu schreiben, aber in die Fussstapfen des Juden Kissinger zu treten, würde ihm dann doch besser gefallen. Ein Freund sagt ihm: „Was sollen wir Leuten sagen, die einwenden, diese Politik wird uns in den Krieg führen? Dann antworte ich ohne Zögern: Also, dann haben wir eben Krieg.“ Der Freund fügt an: „Das klingt gut, nicht wahr?“, den Satz habe er von Henry Kissinger übernommen. Kissinger

Interessenpolitik

Henry Kissinger ist einer der ganz wenigen Politiker, die schon kurz nach ihrem Rücktritt eine zentrale Rolle in einem Roman zugeschrieben bekamen. 1977, als Gerald Ford zugunsten des Demokraten Jimmy Carter das Weisse Haus verlassen musste, gab der Aussenminister Kissinger sein Amt ab. Hellers ironischer Roman ist auch als Hommage zu verstehen, als eine Hommage an einen jüdischen Einwanderer, der es von einem Job in einer Rasierpinsel-Fabrik bis ins Schaltzentrum der Macht geschafft hatte und sich dann nicht scheute, kundzutun, dass „Macht das grösste Aphrodisiakum“ sei.

Kissinger, der 1938 im Alter von fünfzehn Jahren zusammen mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder in die USA emigrierte, war der erste Deutsche nach dem legendären Innenminister Carl Schurz im 19. Jahrhundert, der in der US-Regierung etwas zu sagen hatte. Er kam 1923 im fränkischen Fürth zur Welt. Manche Deutsche und manche Amerikaner meinen, aus dem stark deutschen Akzent, mit dem er das Englische spricht, einen fränkischen Zungenschlag herauszuhören. In „Good as Gold“ klingt an, was Kissinger nachgesagt wurde: Er sei ein kaltschnäuziger Opportunist, verliebt in die Macht, ruchlos bei der Umsetzung seiner Interessen auf Kosten ganzer Völker.

Wenn Kissinger vom „nationalen Interesse“ der USA rede, hiess es, meine er in Wahrheit seinen eigenen Einfluss. Der war gross. Kissinger hatte es nicht nötig, andere Regierungsstellen, Botschafter oder befreundete Länder in seine internationalen Demarchen einzuweihen. Er konnte Richard Nixon ins Ohr blasen, was er für richtig hielt. 1974 schrieb die britische „Sunday Times“: „Selbst Nixon dürfte nicht ganz verstanden haben“, was Kissinger „in seinem Namen tat“. Das wird Kissinger recht gewesen sein. Als er endlich ganz oben angekommen war, verglich er sich einmal auch mit einem Cowboy, mit einem Mann also, der einsam durch die Lande zieht und, böse Feinde abmurksend, die amerikanische Moral ins Recht setzt.

Als junger Mann war Kissinger tatsächlich einsam wie ein Hollywood-Cowboy. Aus Deutschland musste seine Familie fliehen. Beim amerikanischen Establishment galten Juden nicht viel, und wenn sie hochbegabt waren wie Kissinger, machte sie das gesellschaftlich eher suspekt. Umso hungriger stürzte Kissinger, der es zum Harvard-Professor für Politologie gebracht hatte, sich 1964, nach dem Ende seiner ersten Ehe, ins New Yorker Society-Leben. Wie Clark Gable hat er nie ausgesehen. Als er erstmals zu einem Diner ins Weisse Haus geladen war, half der spätere Aussenminister Alexander Haig, der damals im Nationalen Sicherheitsrat Kissingers Untergebener war, ihm, dem in solchen Dingen Tollpatschigen, in seinen Frack. Trotzdem vermochte Kissinger, die schönsten Frauen für sich einzunehmen. Dabei half sein Witz. Kurz nachdem er, zwischen Demokraten und Republikanern lavierend, 1969 Nixons Sicherheitsberater geworden war, bekannte er: „Nächste Woche kann es keine Krise geben. Mein Terminplan ist voll.“

Vehement setzt er sich bis heute für das ein, was er für die amerikanischen Interessen hält. Als Rudolf Augstein und ich 1991 auf Kissingers feudales Landgut in Connecticut eingeladen waren, bemühte der Gastgeber sich gleich am ersten Abend, dem vom Flug ermüdeten Freund abermals klarzumachen, dass es in der Politik zuvörderst auf das „nationale Interesse“ ankomme.

Im Gespräch mit mir hat Kissinger 2012 bemerkt, kleine Länder dürften durchaus auch nationale Interessen vertreten, vorausgesetzt, sie seien umsetzbar: „Die Tragödie des deutschen Kaiserreiches war die Unfähigkeit, seine nationalen Interessen realistisch zu definieren.“ Die heutige Bundesrepublik, fügte er an, müsse nicht mehr in allem dem amerikanischen Leitstern folgen – „das ist eine Frage aus den fünfziger Jahren“. Allerdings müsse Deutschland als eher kleines Land seine Interessen danach ausrichten, was machbar sei.

Das Omelett und die Eier

Weil die USA zu Kissingers Zeit als Sicherheitsberater von Nixon und dann als dessen Aussenminister unumstritten eine Supermacht waren – damals kam das Wort vom „Weltpolizisten“ in Umlauf – , waren der Definition ihrer nationalen Interessen so gut wie keine Grenzen gesetzt. Das trug Kissinger ein langes Sündenregister ein. Seine Freunde sagen: Man kann kein Omelett zubereiten, ohne Eier zu zerschlagen.

Kissinger war entscheidend dafür verantwortlich, dass der Vietnamkrieg sich länger hinzog, als nötig gewesen wäre. 1971 putschte ein pakistanischer General in Bangladesh gegen die demokratisch gewählte Regierung: mit Unterstützung der USA, mit Waffen der USA. Das argentinische Regime, das rund dreissigtausend Menschen „verschwinden“ liess, hat Kissinger 1976 des Wohlwollens der USA versichert. Der damalige amerikanische Botschafter kabelte nach Washington, er sei besorgt: Kissingers grosses Lob für die Aktionen „gegen Terroristen“ könne der argentinischen Junta zu Kopf steigen. Die USA spendeten dem indonesischen Diktator Suharto fast alle Waffen, die er 1975 benötigte, um völkerrechtswidrig den Inselstaat Osttimor zu besetzen. Bei den Massakern, die dann stattfanden, kam ein Grossteil der dortigen Bevölkerung zu Tode. An sich hätte Kissinger während des Bürgerkriegs in Angola 1975 gern die antilinke Faktion noch stärker unterstützt, als die USA es ohnehin schon taten, aber der Kongress verweigerte der Regierung das nötige Geld.

Es herrschte der Kalte Krieg, Kissinger machte im Auftrag seiner Präsidenten Nixon und Ford zwischen Sozialisten und der Sowjetunion keinen Unterschied. Die USA waren darauf aus, linke Regierungen zu unterminieren oder, besser noch, wegputschen zu lassen. Nachdem in Chile der Sozialist Salvador Allende 1970 zum Präsidenten gewählt worden war, liess Nixon die CIA gegen Allende vorgehen – Kissinger war der einflüsternde Erfüllungsgehilfe. Am Ende war Allende tot, und General Pinochet richtete eine Diktatur in Chile ein. Der berühmte Journalist Harold Evans, einst Chefredakteur der „Sunday Times“, ist mit Kissinger gut bekannt und meint, was Chile angehe, habe dieser Gewissensbisse.

Kissinger selbst darf man nicht fragen, ob er je einen Fehler gemacht habe. Das ärgert ihn. Immerhin: Der Journalistin Oriana Fallaci hat er anvertraut, dass der ganze Vietnamkrieg „überflüssig“ gewesen sei. Man darf Kissinger zutrauen, dass er, wenn er allein das Sagen gehabt hätte, diesen Krieg zu vermeiden gewusst hätte. Mit Diplomatie.

Parteilich gebunden ist Kissinger nicht. Gebunden ist er seit seiner Dissertation über die zwei grossen antidemokratischen Politiker des 19. Jahrhunderts, Metternich und Castlereagh, an die Vorstellung, dass man Diplomatie besser unter Ausschluss der Öffentlichkeit betreibt. Immer noch – und teilweise ja zu Recht – ist Kissinger enerviert angesichts der Tatsache, dass demokratische Regierungen ihre Politik auch im Hinblick auf die Wünsche gestalten, die sie den Wählern unterstellen. Diplomatie, findet er, ist eine Sache für ganz wenige Leute, die sich international miteinander im Geheimen absprechen und erst dann an die Öffentlichkeit gehen, wenn die Verträge schon so gut wie ausformuliert sind.

Sein eigentliches Lebensthema ist die politische Entspannung zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Vietnam, Laos oder Kambodscha hat er bombardieren lassen, weil die USA stark aussehen sollten. An Weihnachten 1972, während die Friedensverhandlungen liefen, hat er B-52-Bomber über Nordvietnam eingesetzt. Diese Flugzeuge flogen so hoch oben, dass die Piloten nicht wissen konnten, wo genau ihre Bomben landeten. Was globalpolitisch unbedeutende Länder angeht, hat Kissinger immer aus der Perspektive eines B-52-Piloten gedacht: Er wusste nicht und es war ihm einerlei, was er anrichtete.

Wirklich wichtig war ihm, ein gutes Verhältnis zu China herzustellen. Und so fädelte er Richard Nixons Treffen mit Mao 1972 ein. Er sagt, er habe grossen Respekt vor der chinesischen Kultur und behandle die Chinesen mit Respekt; das werde in China wahrgenommen. Damit hat Henry Kissinger für den Weltfrieden viel erreicht. Dass er die Politik der chinesischen KP aus dem Konfuzianismus herleitet, werden nicht alle Chinesen für richtig halten, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Ein liebenswürdiger Mensch

Und auch mit der Sowjetunion fand Kissinger einen Ausgleich. Sein erklärtes Ziel war, so viele Beziehungen mit der UdSSR zu knüpfen, Handelsabkommen und gegenseitige politische Konsultationen einzurichten, dass das Land gar nicht auf die Idee kommen konnte, die USA anzugreifen. Das ist ihm gelungen. In derselben Zeit bemühte sich die Regierung Willy Brandts um die Ostverträge. Der Sozialdemokrat Egon Bahr machte für die Bundesrepublik, was Kissinger für Amerika tat. Auch Bahr ist der Auffassung, dass Diplomatie nichts für Fernsehkameras ist. Über seinen geheimen „Kanal“ nach Moskau hat Egon Bahr die Ostverträge aufgegleist. Anfangs war Kissinger widerwillig. Aber nachdem Bahr ihm hatte klarmachen können, dass die Bundesrepublik die USA stets informieren werde, fanden beide zu einem Einvernehmen, das fast an Freundschaft heranreicht. Bahr sagt, Kissinger gehöre zu den drei Politikern, mit denen er in seinem Leben am liebsten zu tun gehabt habe.

Solange Kissinger im Amt war, hat das deutsche Aussenministerium ihm die Ergebnisse der Fussballbundesliga zugesandt. Danach musste er sich andere Quellen suchen. Von den späten achtziger Jahren an sorgte die ebenfalls fussballbegeisterte Wirtschafterin von Rudolf Augstein per Fax dafür, dass Kissinger auch auf diesem Feld nichts entging. Der historisch versierte B-52-Diplomat ist im privaten Umgang ein höchst liebenswürdiger Mensch. Am kommenden Montag wird er neunzig Jahre alt.


Aus der Neuen Zürcher Zeitung Nr. 118 (NZZ Inter. Offenbach) vom 25.05.2013 – Seite 25
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