Ernst Nolte gelang, was nur wenigen seiner Kollegen vergönnt ist: 1986 provozierte er mit einem Aufsatz eine Debatte, die die damalige Bundesrepublik tief aufwühlte. Zum 90. Geburtstag des Geschichtsphilosophen unter den Historikern.
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Als der Historiker Ernst Nolte einmal gefragt wurde, ob er Heidegger für einen Intellektuellen halte, so wie Ernst Jünger, antwortete er: „Nein. Heidegger ist eine andere Qualität. Zu ihm kann ich aufschauen, und ich kann nicht sagen, er repräsentiert etwas Ähnliches wie ich.“ Nolte hat bei Heidegger studiert. Die Bewunderung des Philosophen Nolte für den großen Rauner mag ein wenig erklären, warum der Historiker Nolte viele exzentrische Thesen in die Welt gesetzt hat.
Eine der Hauptbauten der Freien Universität Berlin ist die sogenannte „Rostlaube“, benannt nach ihrem äußerlichen „rostigen“ Ansehen. Da war früher das Historische Institut einquartiert. Während die „Rostlaube“ dabei war, ihren Spitznamen wahrzumachen, indem sie tatsächlich durchrostete, hat die Autorin dieses Artikels dort bei Ernst Nolte studiert. In dem Gewirr der vielen Gänge und angesichts von Raumbezeichungen, die ein Kryptograph konzipiert haben musste, verlief sie sich regelmäßig und kam deshalb zu spät in ihr erstes Proseminar bei dem Ordinarius über John Stuart Mill. Nolte unterbrach sich in seiner Rede. Aber anstatt die Verspätung zu tadeln, fragte er: „Sind Sie sicher, dass Sie zu mir wollen?“ Schon 1983, einige Jahre vor dem Historikerstreit, hielt er sich offenbar für alles andere als beliebt.
Noltes Vorlesungen über Grundsatzthemen wie zum Beispiel den Kalten Krieg waren zwar gut besucht. Aber nicht viele wählten seine Proseminare. Dabei war Nolte ein guter Lehrer. Er sprach anschaulich; und er war, was für Studienanfänger äußerst hilfreich ist, in einzelne Formulierungen verliebt: Indem er sie immer wieder zitierte, stellte er ein Gerüst bereit, auf dem man in die Materie hineinkraxeln konnte. Im Falle der Utilitaristen war das zum Beispiel die Wendung „sinister interests“. Worin bestanden diese üblen Interessen aus Sicht der Utilitaristen, wer vertrat sie? So kam man schnell in medias res.
Der Professor Nolte schien ein Mann mit einem schweren Schicksal zu sein: An einer Hand fehlen ihm drei Finger. Hatte er, Jahrgang 1923, im Zweiten Weltkrieg Schlimmes erlebt? Warum lächelte er so gut wie nie? Warum sprach er mit Engagement und Witz über seinen Stoff, war aber im Umgang mit den Studenten höchst reserviert? Ältere Kommilitonen gaben Auskunft: Nein, Nolte sei nicht Soldat gewesen, er habe als Kind mit etwas Explosivem gespielt. Die ersten Jahrzehnte seiner Laufbahn habe er als Schullehrer absolviert. Erst sein bedeutendes Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“ von 1963, in dem er die verschiedenen Formen des Faschismus aufdröselte, habe ihm den Sprung zur Universität ermöglicht. Es sei nun freilich nicht leicht für einen Schullehrer, von der historischen Zunft anerkannt zu werden. Außerdem habe er als konservativ denkender Mann um 1968 an der Universität Marburg wohl einiges mitgemacht. Von einem Treppensturz war die Rede. Ein Zufall? Oder war er gestoßen worden?
Jahre später sagte Ernst Nolte in einem Interview, erst nach dem Historikerstreit sei er zum ersten Mal in seinem Leben tätlich angegriffen worden. „Antifaschisten“ hatten sein Auto auf dem Parkplatz in Brand gesetzt, bald darauf wurde er mit Tränengas attackiert. Es ist gut zu wissen, dass die Studenten offenbar keinen kausalen Anteil daran haben, was Ernst Nolte 1986 veröffentlicht hat. Das Wort „kausal“ gehört zu den Begriffen, mit denen er gern umgeht. Der „kausale Nexus“ zwischen dem Bolschewismus und dem Nationalsozialismus, auf dem er seither herumreitet, ist ein Beispiel dafür.
1986 publizierte Nolte einen Artikel, in dem er behauptete, beziehungsweise – er hält sich immer für missverstanden – unmissverständlich insinuierte, dass Hitler mit seinem Programm lediglich auf den Bolschewismus reagiert habe und dass die Vernichtung der Juden eine Folge des Gulag-System gewesen sei. Heutzutage würde so eine Idee abgetan werden. 1986 indes war sie der Funke, an dem sich eine Debatte entzündete, die sich um das Selbstverständnis der Bundesrepublik drehte.
Kanzler Helmut Kohl hatte nach seiner Wahl 1982 dem Land eine „geistig-moralische Wende“ verordnet. In der Folge suchte Kohl, das „Nationale“ in sein Recht zu setzen. Wie sich gezeigt hat, führte das vor allem zur Gründung zweier deutscher historischer Museen in Bonn und Berlin. Das konnten die Zeitgenossen damals aber nicht wissen. 1985 hatte Kohl den US-Präsidenten Ronald Reagan zu einer Gedenkveranstaltung auf den Friedhof von Bitburg gebracht, wo auch etliche SS-Soldaten begraben liegen. Noltes Artikel von 1986 schien auf schlimmste Weise anzudeuten, wie möglicherweise die Regierung Kohl die angedrohte „Wende“ verstehe: nämlich als Exkulpation der Nationalsozialisten, die mit allen ihren Verbrechen bloß auf den Sowjetbolschewismus „reagiert“ hätten. Auch weil Kohl so eben nicht dachte, sank Noltes Stern.
Ernst Nolte wurde 1952 im Fach Philosophie mit einer Arbeit über Karl Marx und den Idealismus promoviert. Der Marxismus fasziniert ihn, davon zeugt sein Buch „Marxismus und industrielle Revolution“ von 1983: Ein „Missverständnis“, schreibt er da, sei es, wenn man Marxens „abstrakten“ Antisemitismus zu Hitlers „konkretem und wirklichem Antisemitismus“ in Beziehung setze, „aber das Missverständnis liegt nur allzu nahe“. Wem das allzu nahe liegt oder lag, schrieb Nolte nicht. Schande über den, der denkt, dass „kausal“ Marx in seinen Augen also auch ein bisschen Schuld gewesen sei an der Shoah.
Ernst Nolte hat seine Arbeit eher als Philosoph denn als Historiker betrieben. Er hat die Texte wichtiger Autoren gelesen und seine Erkenntnisse in sein System eingefügt. Das reicht von der Zeit des Alten Testaments bis in die Neuzeit. Im Gegensatz zu normalen Ideengeschichtlern, die herausarbeiten, wie die Worte eines Autors im historischen Kontext zu verstehen sind, scheint er mit seinen eigenen Thesen an die Texte heranzugehen. So konnte er in seinem Buch „Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?“ (1998) zum Beispiel erklären: Das Buch Josua in der Bibel ziele auf „Genozide“ ab, es zeige den „Idealtyp“ eines „Vernichtungs- und Vergeltungskrieges“. Im selben Buch erklärte Nolte, wie es zum Bild der „Hure Babylon“ gekommen sei: Der männliche Sexualtrieb erlösche nach der Befriedigung für eine Weile, Frauen hingegen gälten als „unersättlich“, im „Geschlechterkampf“ strebe die radikale Frauenbewegung nach der „Vernichtung des Feindes“.
Wenig unerwartet kam es, dass Nolte 2009 den Islamismus als – so der Titel des Buches – „Dritte radikale Widerstandsbewegung“ neben Faschismus und Kommunismus darstellte. Nachdem er im nationalsozialistischen Antisemitismus einen „rationalen“ Kern hatte „verstehen“ wollen, schien er sich nun auf Seiten der Muslime zu schlagen. Es versteht sich, dass er auch in diesem Fall aus der Theorie heraus argumentierte. Und dies tat er so, dass Palästinenser zum Beispiel sich von ihm distanzieren müssen, wenn sie nicht als Antisemiten gescholten werden wollen.
Dass Ernst Noltes Gesamtwerk am Ende auf ein Agglomerat von philosophisch empfundenen und mit interessanten Zitaten unterfütterten Ressentiments hinausläuft, ändert nichts daran, dass die Autorin Ernst Nolte für den besten Lehrer hält, bei dem sie an der Freien Universität studiert hat. Es ändert auch nichts daran, dass sein erstes Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“ bis heute ein Standardwerk ist.